Rück­ge­win­nung der Krim und des Donbas: Die Ukraine hat keine andere Wahl

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Vor gut andert­halb Jahren begann Russ­land den umfas­sen­den Krieg gegen die Ukraine – mit dem Ziel, die ukrai­ni­sche Nation und den ukrai­ni­schen Staat zu zer­stö­ren. Ein ein­ge­fro­re­ner Krieg oder ein erzwun­ge­ner Frieden sind keine Option, schreibt Sergiy Sydorenko.

Zu Beginn des rus­si­schen Ein­mar­sches glaub­ten füh­rende west­li­che Militär- und Sicher­heits­exper­ten, dass die Ukraine inner­halb weniger Tage oder Wochen kapi­tu­lie­ren werde. Diese apo­ka­lyp­ti­schen Pro­gno­sen waren weit ver­brei­tet. Doch nichts der­glei­chen geschah.

Die Krim auf­ge­ben, um eine diplo­ma­ti­sche Lösung zu finden?

Im August 2023 muss die Welt nicht mehr davon über­zeugt werden, dass die Ukraine über­le­ben wird. Doch sobald es um die Befrei­ung des gesam­ten ukrai­ni­schen Donbas und ins­be­son­dere der Krim geht, kehren viele im Westen zu ihrer Vision von 2022 zurück. Vielen Regie­run­gen und füh­ren­den Poli­ti­kern mangelt es noch immer am Glauben an und am Ver­ständ­nis für die Ukraine. Mah­nun­gen zur Kom­pro­miss­be­reit­schaft, For­de­run­gen einer diplo­ma­ti­schen Lösung sind die Folge. Dieses Drängen auf einen Kom­pro­miss kommt nicht über­ra­schend. Welt­weit sind Mil­lio­nen von Men­schen müde vom Krieg und seinen glo­ba­len Folgen und üben Druck auf Poli­ti­ker aus.

In diesem Beitrag soll nicht an die Gerech­tig­keit appel­liert werden: Die Welt ist oft unge­recht und zynisch. Wich­ti­ger ist es zu zeigen, dass das Ein­frie­ren des Krieges keinen Weg zum lang­fris­ti­gen Frieden in der Ukraine dar­stellt. Es würde zu noch grö­ße­rer Insta­bi­li­tät führen und die Wahr­schein­lich­keit für den Zusam­men­bruch der Ukraine deut­lich erhöhen.

Eine lang­fris­tig besetzte Krim würde zu einem Ein­bruch des Handels führen

Stellen wir uns vor, die Ukraine been­dete auf­grund von ver­steck­tem west­li­chem Druck oder man­geln­der west­li­cher Unter­stüt­zung ihre Gegen­of­fen­sive und die Krim bliebe besetzt. Was wären die Folgen für die Ukraine?

Viele NATO- und EU-Gremien haben bestä­tigt, dass Russ­land die Krim in einen rie­si­gen Mili­tär­stütz­punkt ver­wan­delt hat. Man muss nicht nur von einer rus­si­schen Anne­xion der Halb­in­sel spre­chen, sondern auch von einer „Besat­zung“ des Schwar­zen Meeres im All­ge­mei­nen. Schon vor 2022 ver­ur­sachte Russ­land Unter­bre­chun­gen des See­fracht­ver­kehrs an ukrai­ni­schen Häfen. Aktuell muss sich die Welt mit der Blo­ckade von Getrei­de­lie­fe­run­gen aus­ein­an­der­set­zen. Aber das Problem ist viel umfassender.

Um die ukrai­ni­sche Wirt­schaft nach dem Krieg wieder anzu­kur­beln, müssen alle Exporte wie­der­auf­ge­nom­men werden. Ob Erze, Stahl oder Lebens­mit­tel – ein Groß­teil der ukrai­ni­schen Exporte wurden früher über den See­ver­kehr trans­por­tiert. Der Schie­nen­ver­kehr kann den See­ver­kehr nicht erset­zen, da die ukrai­ni­sche Bahn eine andere Spur­weite nutzt als die Eisen­bahn­ge­sell­schaf­ten in den benach­bar­ten EU-Länder.

Selbst wenn die aktiven Kriegs­hand­lun­gen auf­hör­ten, würden die Fracht­preise ange­sichts der mit der rus­si­schen „Besat­zung“ des Schwar­zen Meeres ver­bun­de­nen Sicher­heits­be­den­ken hoch bleiben und somit die Wett­be­werbs­fä­hig­keit der ukrai­ni­schen Exporte beeinträchtigen.

Aber das wäre nichts im Ver­gleich zu dem, was bei einer lang­fris­ti­gen Besat­zung der Krim pas­sie­ren würde – wenn der Zugang zum Asow­schen Meer weiter durch die Brücke von Kertsch blo­ckiert würde. Dann gäbe es keinen Grund, die Häfen im Asow­schen Meer wieder auf­zu­bauen – dar­un­ter auch den von Mariu­pol, der früher eine wich­tige Rolle für den Export von Indus­trie­pro­duk­ten aus dem Donbas spielte. Die wirt­schaft­li­chen Folgen dieses Sze­na­rios für die Ukraine wären enorm, ins­be­son­dere für die öst­li­chen und süd­li­chen Regionen.

Donbas: Waf­fen­still­stand ist keine Lösung

Vor der rus­si­schen Inva­sion im Jahr 2014 war der Donbas eine Indus­trie­re­gion, die einen hohen Anteil am ukrai­ni­schen Brut­to­in­lands­pro­dukt aus­machte. Nach 2014 wurden die Aus­stat­tung vieler Fabri­ken im Donbas gestoh­len und nach Russ­land gebracht. Während des umfas­sen­den Krieges wurden nun einige Städte kom­plett zer­stört – kein Stein blieb auf dem anderen.

Poli­tisch gesehen führt kein Weg am Wie­der­auf­bau des Donbas nach dem Ende des Krieges vorbei. Diese Absicht wird sowohl in der Ukraine als auch vom Ausland betont, wobei klar ist, dass der Wie­der­auf­bau der öst­li­chen Region der Ukraine nach dem Krieg viel Geld kosten würde.

Aber sollte der Krieg mit einem Waf­fen­still­stand und einer Front­li­nie im Donbas enden, wäre die ohnehin her­aus­for­dernde Aufgabe des Wie­der­auf­baus noch schwe­rer zu bewäl­ti­gen. Für private Inves­to­ren gäbe es keinen Anreiz, sich zu betei­li­gen: Die Front­li­nie bliebe bestehen, zusam­men mit dem Gefühl, dass ihr Geld und ihre Bemü­hun­gen eines Tages durch einen erneu­ten Krieg wieder zunich­te­ge­macht werden könnten. Feh­lende private Inves­ti­tio­nen hätten eine größere Belas­tung für den Westen und einen weniger effek­ti­ven Wie­der­auf­bau zur Folge.

Es ist darüber hinaus nicht davon aus­zu­ge­hen, dass Russ­land einen Waf­fen­still­stand ein­hal­ten würde. Der Kreml würde die dadurch gewon­nene Zeit nutzen, um sich auf einen neuen Angriff vorzubereiten.

 Ein ein­ge­fro­re­ner Krieg hätte weit­rei­chende Folgen

 Jedes Sze­na­rio eines ein­ge­fro­re­nen Krieges ist insta­bil und macht den wirt­schaft­li­chen Wie­der­auf­bau – selbst das Über­le­ben der Ukraine – schwie­ri­ger und teurer. Ein ein­ge­fro­re­ner Krieg hätte auch andere weit­rei­chende Folgen: wie zum Bei­spiel eine lange Ver­zö­ge­rung des NATO-Bei­tritts der Ukraine, der eine weitere wich­tige Vor­aus­set­zung dafür ist, dass aus­län­di­sche Unter­neh­men in der Ukraine inves­tie­ren. Auch die Ukrai­ne­mü­dig­keit im Westen würde sich verstärken.

Haltung der Ukrai­ner zu ter­ri­to­ria­len Zugeständnissen

Nicht weniger wichtig ist, was ein ein­ge­fro­re­ner Krieg für die Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner bedeu­ten würde. Laut einer aktu­el­len Umfrage halten weniger als fünf Prozent der Ukrai­ner ter­ri­to­riale Zuge­ständ­nisse im Gegen­zug für die Been­di­gung des Krieges für möglich oder akzep­ta­bel. Alle wich­ti­gen ukrai­ni­schen Poli­ti­ker, ein­schließ­lich Prä­si­dent Wolo­dymyr Selen­skyj, spre­chen sich vehe­ment gegen ein Sze­na­rio eines ein­ge­fro­re­nen Krieges aus.

Verrat der USA und der EU am ukrai­ni­schen Volk

Es gibt Mög­lich­kei­ten, Kyjiw gegen die öffent­li­che Meinung zum Ein­len­ken zu bewegen. Die begrenz­ten Waf­fen­lie­fe­run­gen, mit denen die Ukraine kon­fron­tiert ist, wird all­ge­mein als ein Weg zu diesem Ziel ange­se­hen. Doch solch ein erzwun­ge­ner Frieden würde als ein Verrat der USA und der EU am ukrai­ni­schen Volk emp­fun­den. Diese Ansicht würde sich auch unter pro­west­li­chen Ukrai­nern breit machen.

Globale Folgen eines erzwun­ge­nen Friedens

Aber auch global würde ein solcher erzwun­ge­ner Frieden Folgen haben. Würden andere Länder noch an die west­li­che Unter­stüt­zung glauben, wenn sie die Geschichte der Ukraine sehen?

Alles in allem würde ein Ein­frie­ren des Krieges bedeu­ten, dass die Ukraine kaum eine Chance hätte, ein wohl­ha­ben­des Land zu werden. Das würde zu lan­des­wei­ten Res­sen­ti­ments und zu poli­ti­scher Insta­bi­li­tät führen. Sehen wir der Wahr­heit ins Auge: Ein ein­ge­fro­re­ner Krieg oder ein Frieden, bevor die Ukraine die volle Kon­trolle über ihr Ter­ri­to­rium wie­der­erlangt hat, sind keine Option.

Portrait von Sergiy Sydorenko

Sergiy Sydo­renko ist Jour­na­list und Her­aus­ge­ber der „Euro­pean Pravda“.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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