Revolution der Würde: die Maidan-Proteste als Impuls für die Zivilgesellschaft
Seit den Maidan-Protesten spielt die ukrainische Zivilgesellschaft eine essenzielle Rolle bei der Umgestaltung des Landes. Hätte sie nicht so schnell und effektiv reagiert, wäre der russische Krieg gegen die Ukraine vermutlich anders verlaufen. Eine Analyse von Olesia Luchkovska
Die Maidan-Proteste von 2013 und 2014, auch als „Revolution der Würde“ bezeichnet, markierten einen Wendepunkt in der ukrainischen Geschichte, der die demokratische Umgestaltung des Landes und die Entwicklung der Zivilgesellschaft zu einem einflussreichen Akteur vorantrieb. In den darauffolgenden Jahren kam es in der Ukraine im Sinne einer „sanften Revolution“ zu einer Reihe demokratischer Veränderungen, die von der Zivilgesellschaft gefordert worden waren. Diese beeinflussten die ersten Tage der umfassenden Invasion durch Russland und damit den weiteren Verlauf des Krieges. Im Jahr 2013 einten europäische Werte und ein gemeinsames Ziel das Land. Ukrainerinnen und Ukrainer kämpften für eine Transformation. 2022 waren sie bereit, den Kampf für ihr Land und ihre Werte fortzusetzen.
Nach den Maidan-Protesten erkannte die Regierung, dass das zentralisierte Entscheidungssystem der Sowjetunion endgültig zusammengebrochen war. Weitere Reformrunden wurden von der Zivilgesellschaft vorangetrieben, die nun ein gleichberechtigter Akteur im politischen Prozess war. Eine dieser Reformen war die Dezentralisierungsreform, der die Ukraine die erfolgreiche Reaktion auf Russlands Invasion in den ersten Kriegstagen verdanken. Durch die erfolgreiche Dezentralisierungsreform gewannen die lokalen Regierungen mehr Unabhängigkeit, was eine schnelle und effektive Entscheidungsfindung vor Ort ermöglichte. So hat die Schaffung separater Gebietskörperschaften zum Beispiel die Zusammenarbeit mit Freiwilligenorganisationen (etwa bei der Räumung von Gemeinden) vereinfacht und beschleunigt. Darüber hinaus gründeten Vertreter der lokalen Selbstverwaltung Hilfsorganisationen, um Finanzmittel für die Deckung der wichtigsten Bedürfnisse der von den Kriegshandlungen betroffenen Bürger zu erhalten.
Nachhaltige Freiwilligenbewegung und bürgerschaftliche Initiativen
Eine der wichtigsten Komponenten der Zivilgesellschaft ist die Freiwilligenbewegung, die sich in der Ukraine während der Maidan-Proteste aktiv zu entwickeln begann. Die These von der “freiwilligen Heimatfront”, die heute im Zusammenhang mit dem Krieg sehr populär ist, geht auf die Maidan-Proteste zurück, zu denen Menschen aus verschiedenen Teilen der Ukraine mit Freiwilligeninitiativen anreisten, um Feldküchen oder provisorische Zelte zu organisieren. Die Initiative „Euromaidan SOS“ ist beispielsweise eine Freiwilligeninitiative, die während der Revolution der Würde gegründet wurde, um Menschenrechtsverletzungen während der Proteste zu dokumentieren und den verfolgten Teilnehmern der Maidan-Proteste Rechtsbeistand zu leisten. Die Arbeit dieser Initiative ist ein Beispiel dafür, wie eine widerstandsfähige Zivilgesellschaft, die sich nach der Revolution der Würde aktiv weiterentwickelt hat, ihre Arbeit nach Russlands umfassender militärischer Invasion schnell wiederaufnehmen konnte. Sie ist ebenso ein Beispiel dafür, wie das Freiwilligennetzwerk erweitert wurde, um den Bedürfnissen und Herausforderungen der Zeit gerecht zu werden, und dafür, wie Zivilgesellschaft und lokale Selbstverwaltung wirksam zusammenarbeiten (zum Beispiel bei der Verteilung von Broschüren für Opfer sexueller Gewalt in der lokalen Selbstverwaltung).
Die Symbiose aus Regierung, Parlament und Zivilgesellschaft kann zweifellos als Erfolgsformel des ukrainischen Widerstands betrachtet werden. Es besteht ein großes Vertrauen in die Freiwilligenbewegung. Einige Freiwillige konzentrieren sich auf humanitäre Hilfe, andere auf die Unterstützung des Militärs. Das hat den Vorteil, dass sie schneller und flexibler agieren können im Vergleich zu internationalen Partnern. Das große Vertrauen in die Zivilgesellschaft und ihre Zusammenarbeit mit den Behörden ermöglicht es, Spendengelder in Höhe von 500 Millionen Hrywnja (umgerechnet gut 13 Millionen Euro) pro Woche zu sammeln. Die vom ukrainischen Fernsehmoderator und Schauspieler Serhij Prytula und vom Blogger Igor Latschenkow angekündigte Spendensammlung „Volkseigene Bayraktar“ [Kampf- und Aufklärungsdrohne; Anmerkung der Redaktion] übertraf dies noch: In drei Tagen sammelten die Ukrainer 600 Millionen Hrywnja (knapp 16 Millionen Euro) für drei Bayraktare für die ukrainische Armee. An solchen Spendenaktionen kann jeder teilnehmen, unabhängig davon, wie hoch der Spendenbetrag ist.
Eine weitere Spendenaktion ist erwähnenswert, um den Grad des Vertrauens zwischen Zivilgesellschaft und Regierung und ihre Zusammenarbeit zu demonstrieren: Kürzlich kündigten der Blogger Latschenkow und der Leiter der Stiftung „Come Back Alive“ Taras Tschmut zusammen mit dem ukrainischen Verteidigungsnachrichtendienst eine Spendenaktion für die Durchführung des gemeinsamen Projekts „Black Box“ an, dessen Inhalt aufgrund von Geheimhaltung nicht bekannt gegeben wurde, für das sie aber bereits in zwei Tagen fast 70 Millionen Hrywnja (umgerechnet knapp 2 Millionen Euro) sammelten. Dieses Maß an Vertrauen wurde seit Beginn des russischen Krieges in der Ukraine im Jahr 2014 aufgebaut, als sich die Aktivitäten der Bürgerbewegung nicht nur auf humanitäre Hilfe oder Interessenvertretung beschränkten. Bei Ausbruch des Krieges im Jahr 2014 waren es Freiwillige, die Zivilisten aus dem Kriegsgebiet evakuierten und selbständig den wichtigsten Bedarf der Armee deckten – die Zivilgesellschaft wurde angesichts der vorübergehenden Abwesenheit der Regierung und der schwachen Reaktion der internationalen Gemeinschaft in vielerlei Hinsicht geeint.
Die Rolle der Zivilgesellschaft in politischen Prozessen
Seit der Revolution der Würde und selbst unter den aktuellen schwierigsten Kriegsbedingungen spielt die Zivilgesellschaft eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung der geopolitischen Ausrichtung des Landes und arbeitet an der Umsetzung des euroatlantischen Kurses der Ukraine. Es ist erwähnenswert, dass sich die Zivilgesellschaft seit 2013 und bis zur Verleihung des EU-Kandidatenstatus an die Ukraine im Jahr 2022 unermüdlich für den euroatlantischen Kurs der Ukraine eingesetzt hat. Bevor der Ukraine der EU-Kandidatenstatus zuerkannt wurde, unterzeichneten 200 Organisationen einen offenen Appell für die Unterstützung dieses Vorhabens.
Die Verleihung des Kandidatenstatus und der weitere Weg zur Umsetzung des EU-Besitzstands und der Reformen stellen die Zivilgesellschaft vor neue Herausforderungen. Heute fungieren Organisationen und Thinktanks als überwachende Instanzen im Prozess der Angleichung der nationalen Rechtsvorschriften an die europäische Gesetzgebung. So stärken Thinktanks, die eng mit der Regierung zusammenarbeiten, die Arbeit der Behörden, indem sie diese mit analytischem Fachwissen versorgen. Um die Advocacy-Arbeit für die europäische Integration der Ukraine, den Wiederaufbau nach dem Krieg, die Einrichtung eines Sondertribunals oder die Beschlagnahmung russischer Vermögenswerte zu verbessern, werden Termine von Vertretern des Parlaments, der Regierung und der Zivilgesellschaft durchgeführt. Dies zeigt auch die Advocacy-Reise ukrainischer Abgeordneter und Expertinnen nach Brüssel Anfang November 2022, die im Rahmen des Projekts „Ukraine in Europa: parlamentarische Dimension“ organisiert wurde und bei der hochrangige Vertreter der Regierung, des Parlaments und der Zivilgesellschaft zusammenkamen. Dies bestätigt einmal mehr den großen Einfluss der Zivilgesellschaft nicht nur auf die Politik, sondern auch auf die Repräsentation von ukrainischen Positionen auf internationaler Ebene in Partnerschaft mit Vertretern der Regierung und des Parlaments.
Die Revolution der Würde, die als der Moment betrachtet werden kann, an dem es kein Zurück mehr in das „Gefängnis der Nationen“ gab, sondern eine vollständige Erneuerung des Staatssystems, gab den Anstoß zu demokratischen Prozessen, die den Einfluss der Zivilgesellschaft auf politische und integrative Prozesse vergrößerten. Die Zivilgesellschaft spielte auch zu Beginn der militärischen russischen Invasion auf der Krim Anfang 2014 und nach der Flucht von Wiktor Janukowitsch nach Russland eine entscheidende Rolle. Im April 2014, als der Krieg im Donbas ausbrach, waren es Vertreter der Zivilgesellschaft – darunter noch sehr junge Organisationen, die während der Maidan-Proteste gegründet wurden –, die Herausforderungen wie die Versorgung der Armee, die Evakuierung der Zivilbevölkerung aus dem Kriegsgebiet und die Unterbringung der Bürger annahmen oder Advocacy-Arbeit für bestimmte Entscheidungen auf nationaler und lokaler Ebene leisteten.
Aus diesen Gründen war die Zivilgesellschaft im Februar 2022, als der Krieg ausbrach, mit dem niemand gerechnet hatte, bereits kampfbereit und hatte eine große und erfolgreiche Erfahrung in der Zusammenarbeit mit anderen Akteuren. Ohne die uneingeschränkte Zusammenarbeit und Koordinierung von Militär, Regierung, Parlament und Zivilgesellschaft wäre es nicht möglich gewesen, auch nur drei Tage des Krieges zu überstehen. Genau die drei Tage, die uns unsere internationalen Partner anfangs zugetraut haben.
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