Marieluise Beck im Gespräch mit Serhij Zhadan
Serhij Zhadan ist einer der bekanntesten Schriftsteller der Ukraine. Für eine Feier anlässlich des 30. Jahrestages der Unabhängigkeit besuchte der Poet, Lyriker und Rockmusiker kürzlich Berlin. Mit LibMod-Mitgründerin Marieluise Beck sprach er über gemeinsame Erinnerungen an den Maidan 2013–14 und das erste Kriegsjahr 2014.
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Mehr InformationenLizenzvermerk: YouTube Standardlizenz.
Dieses Video darf zu Pressezwecken unter Angabe des Autors „# /Zentrum Liberale Moderne“ frei verwendet werden.
MLB: Serhij Zhadan, Poet, Lyriker, Schriftsteller, politischer Redakteur, durchaus auch ein bisschen, und Rockmusiker! Wenn Du auf der Bühne stehst, dann geht im Saal wirklich die Post ab. Ich kann mich sehr gut daran erinnern in welchem Umfeld und in welcher Zeit wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Das war in Charkiw. Der Krieg hatte begonnen. Die Aggression hatte begonnen.
SZ: Das war Frühling 2014.
MLB: Ja, genau. Bald 8 Jahre her. Wir saßen in einer komischen Kneipe, bei Leuten, die halb mit im Untergrund waren. Die Frau kochte für die Soldaten, die nicht nur Soldaten waren, sondern für die, die an der Front kämpften. Es gab einen Armenier, der brachte Waffen dorthin. Aber es war da noch weniger die reguläre ukrainische Armee, die es nicht gab. Sondern es waren andere. Freiwillige, bei denen wir auch ein Fragezeichen machen, aber hätte sie es nicht gegeben, hätten wir vielleicht nicht mehr in Charkiw gesessen. Kannst Du Dich noch erinnern daran? [Erinnerst du dich an den Kriegsbeginn 2014?]
SZ: Das war eine sehr besondere Zeit, es gab sehr viele Falschinformationen. Ich war zum Beispiel im April in der Ostukraine, Donezk, Luhansk und Altschewsk, da waren schon Separatisten und an einigen Gebäuden hingen bereits russische Fahnen, andere hatten noch die ukrainische. Aber die Leute waren total desorientiert und sprachen von Nationalisten, die aus der Westukraine kommen.
MLB: „Bandera“.
SZ: Banderowzy, ja. Viele waren ratlos und wussten nicht, was sie tun könnten.
MLB: Und ich erinnere mich noch an dieses Gefühl der Angst – man wusste nicht, geht der Maidan zu Ende, wenn russische Truppen kommen.
SZ: Die Leute wussten nicht, was sie tun sollten. Wir hatten keine Armee, viele in der Polizei waren für die Separatisten, dann wurden diese Freiwilligenbataillone aufgestellt, dann kam Girkin (der russische Geheimdienstoffizier Igor Girkin, Anm. der Redaktion) mit seiner Truppe nach Slowjansk und so begann der Krieg. Ich erinnere mich, dass ich am 3. Mai aus Donezk nach Kyjiw geflogen bin. Das Flugzeug war voll mit Journalisten, Geschäftsleuten und Politikern, die rauswollten, wegen Girkin in Slowjansk, wegen der Sache in Odesa (dort waren am Vortag bei einem Brand im Gewerkschaftshaus viele Menschen ums Leben kamen). „Die Menschen hatten viel Angst und verstanden nicht, was passiert.“
MLB: Ich war damals auch in Odesa, wenige Tage nach den Ereignissen im Gewerkschaftshaus, und auch da war überall das Gefühl der Angst. Im krassen Gegensatz zu der Stimmung auf dem Maidan, die ja fast Volksfestcharakter hatte, mit vielen internationalen Besuchern, die euch Mut zusprachen. Ich hatte damals immer ein ängstliches Gefühl und dachte, hoffentlich löst der Westen das ein, was er verspricht – wissen die Gäste, auf was sie sich einlassen! Wie hast du das erlebt, den Widerspruch zwischen dem Maidan und der Realität, die sich dann entwickelt hat?
SZ: Natürlich waren das sehr schwere acht Jahre. Klar, acht Jahre dauert der Krieg, acht Jahre haben wir russische Okkupanten auf der Krim. Aber doch sehe ich, dass noch viele Leute in der Ukraine große und starke Energien haben und dass sich die Gesellschaft verändert. Ich verstehe, dass es in Deutschland und Europa auf große Skepsis stößt, wenn wir über unsere Reformen und den proeuropäischen Vektor sprechen. Aber ich bin optimistisch.
MLB: Ach wie schön! Ich erinnere mich aber an einen Text von dir, wo du dich sehr enttäuscht geäußert hast…
SZ: Vielleicht war das Skepsis, aber keine Enttäuschung. Ich denke, dass es nicht richtig ist, nur auf europäische oder amerikanische Politiker zu warten. Die Probleme in der Ukraine sind in erster Linie unsere Probleme – natürlich brauchen wir Unterstützung und Hilfe – aber alle unsere Präsidenten und Abgeordneten wählen wir selbst. Es ist ein bisschen naiv vom amerikanischen Präsidenten oder deutschen Kanzler eine Lösung zu erwarten. Aber wenn deutsche Politiker mit russischen Politikern sich treffen und über Nord Stream 2 sprechen, dann sind das natürlich gute Gründe für Enttäuschungen.
MLB: Aber wir sind ja auch etwas naiv! Ich erinnere an die Debatte (an Militärhilfe für die Ukraine) als Robert Habeck von der Front wiederkam – das ist in Deutschland schon ein Thema, für das es wenig Verständnis gibt!
SZ: Ja, wenn wir über Demokratie, Liberalismus und Recht sprechen, während russische Soldaten in Donezk und Luhansk stehen, dann sind solche Gespräche immer ein bisschen sinnlos.
MLB: Das ist eine Realität, mit der wir uns in Deutschland schwertun.
SZ: Ich erinnere mich an eine Diskussion in der (Berliner) Volksbühne am 16. März 2014, der Tag des von Russland organisierten Krim-Referendums, wo ein Experte sagte, dass die Krim zu Russland gehöre. Für mich war die Reaktion des vollen Saales sehr interessant – das halbe Publikum war für die Ukraine und die andere für Russland. Leider ist es eben nicht so, wie es bei uns oft heißt, dass alle in Deutschland die ukrainische Demokratie unterstützen!
MLB: Es gibt in Deutschland diese eine Mischung aus einer Mischung tiefen berechtigten Schuldgefühlen gegenüber Russland. Wir lernen, dass es tiefen Resonanzboden finden.
SZ: Das verstehe ich, es gibt aber in Deutschland auch viele Stereotype über Osteuropa und den postsowjetischen Raum. Aber das Problem ist auch, dass viele deutsche und internationale Medien über die Ukraine aus Moskau berichten.
MLB: Wobei ich sagen muss, dass die großen Printmedien bei uns wunderbar über die Ukraine berichten…
SZ: Aber es ist ein Problem, dass die Ukraine wenig Möglichkeiten hat, selbst zu sprechen oder selbst etwas zu erklären. Wir haben keine eigene Terminologie und Narrative.
MLB: Wobei wir sehen hier aber Bewegung – wir haben jetzt ein neues politisches Format, das Trio Georgien, Ukraine und Moldau, die gemeinsam ihren Weg in Richtung Brüssel gehen müssen. Aber wir müssen mehr lernen über uns und das tun wir mit euch zusammen, weil ihr ein guter Spiegel seid für uns. Du arbeitest viel mit Jugendlichen, der nächsten Generation, die fast nur Kriegszeit kennt. Was erlebst du?
SZ: Für mich ist es sehr wichtig, mit Kindern und jungen Leuten zu arbeiten. Ich habe eine kleine Stiftung, die arbeitet in der Ostukraine mit Schulen, Kindergärten und Bibliotheken und mit Leuten, die das Bildungssystem reformieren möchten. Ich bin selbst aus der Sowjetunion und war noch Pionier. Für alle von uns ist es sehr schwer, die heutige Welt zu verstehen und in ihr normal zu leben. Wir haben schweres Gepäck.
MLB: Du meinst das Aufwachsen in sehr autoritären Elternhäusern und Institutionen?
SZ: Ein gutes Beispiel ist die heutige Ukraine. Das betrifft vor allem Menschen um die 40 / 45. Die Millennials-Generation hat bessere Perspektiven, braucht aber große Hilfe. Vor zwei Wochen haben wir ein Festival in Awdjiwka (Region Donezk) gemacht und ein Schultheater mit Kindern auf Ukrainisch aufgeführt. Es ist sehr wichtig etwas auf Ukrainisch zu machen, damit die Kinder verstehen, dass sie in der Ukraine leben und nicht im postsowjetischen Raum.
MLB: Vermutlich sind die dort weitgehend russischsprachig?
SZ: Auf den Dörfern sprechen die Leute Surschyk.
MLB: Das heißt?
SZ: Ein Wort auf Russisch und einige Wörter Ukrainisch…
MLB: (Lacht) Fängt (die Sprachsituation) an, sich zu verändern?
SZ: Ja, das verändert sich. Mehr Leute sprechen Ukrainisch. Aber es ist eben auch ein Fehler in der Terminologie, wenn die russische Propaganda behauptet, dass die Ostukraine russischsprachig ist. Das ist falsch, die Ostukraine ist zweisprachig. Alle Leute verstehen Russisch, aber auch Ukrainisch. Russisch ist für viele die erste Sprache, aber Ukrainisch ist auch ihre Muttersprache.
MLB: Sprache ist hochpolitisch. Ich hoffe auch, dass auf dem Weg der Rückeroberung der ja mutwillig durch Stalin ausgelöschten ukrainische Sprache, trotzdem einen behutsamen Weg gibt, damit die russischsprachige Bevölkerung sich nicht ausgegrenzt fühlt. Auf dem Maidan wurde immer gesagt, wir wollen nach Europa. Und ich habe immer gesagt, das ist falsch, Leute – ihr seid Europa!
SZ: Ich denke ja!
MLB: Das sollten wir vielleicht nochmal betonen, insbesondere zu uns Westeuropäern, die lange Jahre gedacht haben, an der polnischen Grenze hört Europa auf, weil die EU Europa ist. Ihr zeigt uns, dass Europa viel größer ist.
MLB: Ich freue mich auf das nächste Konzert!
SZ Ich hoffe sehr, dass wir nächstes Jahr nach Berlin kommen!
MLB: Jetzt müssen wir noch gemeinsam Corona vertreiben!
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.