„Die Krim ist heute eine Blackbox“
Golineh Atai wurde für ihre Berichterstattung aus Moskau vielfach ausgezeichnet. Ihr jüngstes Buch befasst sich auch mit der Krim-Annexion, welche die damalige Ukraine-Korrespondentin selbst miterlebt hat. Im Interview mit Mattia Nelles erinnert sich die Journalistin an die entscheidenden Tage im Jahr 2014.
Frau Atai, Sie waren Korrespondentin als Russland die Krim annektiert hat. Wie haben Sie die Ereignisse erlebt?
An den letzten Februartagen im Jahr 2014 haben sich die Ereignisse überschlagen. Ich habe mich zuerst gefragt, was passiert hier eigentlich? Ich konnte mir damals nicht vorstellen, dass es im postsowjetischen Raum, eine Annexion geben würde. Auf der Krim war die Situation sehr angespannt. Vieles habe ich erst im Nachhinein begriffen.
Die Stimmung auf der Krim hat sich stark von jener in Kyjiw unterschieden. Wie haben die Bewohner auf der Krim die Lage im Land wahrgenommen?
Der Choreograf dieser Wahrnehmung saß in Moskau und hat das sehr, sehr geschickt gemacht. Viele meiner Interviewpartner haben sich Sorgen gemacht, dass aus Kyjiw bald mordende Banden einfallen würden, vor denen man sich in Sicherheit bringen muss. Diese Narrative wurden bewusst von den russischen Medien gestreut.
Zum Beispiel auch, dass ethnische Russen in Gefahr seien.
Ja, ich habe immer wieder versucht zu erklären, dass niemand gerettet werden muss und dass da keine Panzer aus Kyjiw auf der Halbinsel einfahren werden. Aber diese Ideen haben sich in den Köpfen der Menschen verfestigt. Für einen kurzen Moment habe ich selbst an meiner Wahrnehmung gezweifelt. Meinen Kollegen ging es ähnlich.
Welchen Einfluss hatten die russischen Medien auf die politische Willensbildung der Krimbewohner?
In den Interviews, die ich zu dieser Zeit geführt habe, habe ich wenig eigenständiges Denken, Reflexion oder Abwarten erlebt. Das alles ist ein Paradebeispiel dafür, wie leicht Fernsehzuschauer zu manipulieren sind. Im Nachhinein war es erschreckend zu sehen, dass hierzulande viele dieser Desinformationen übernommen wurden.
Gab es denn vor 2014 ernsthafte Unabhängigkeitsbestrebungen oder politische Kräfte, die einen Anschluss der Krim an Russland gefordert hatten?
Der Mythos von einer russischen Krim war in den Köpfen vieler Einwohner bereits vorher verankert. Aber unter normalen Umständen dauert es Monate, wenn nicht Jahre, bis so eine Idee zu einer politischen Forderung wird. Ich habe immer wieder über die Anwesenheit mysteriöser, vermummter Kämpfer berichtet. Und ich habe immer wieder versucht, meinen Zuschauern zu erklären, dass Moskau Fakten schaffen will. Die letzte Meinungsumfrage aus dem Jahr 2013 ließ keine unmittelbare Anschlussstimmung erkennen. Aber es gab viel Unzufriedenheit mit der Janukowytsch-Regierung. Die Arbeitslosigkeit, Korruption, das fehlende Wirtschaftswachstum und der Preisanstieg wurden immer wieder kritisiert.
Welche „weiße Flecken“ gibt es heute im öffentlichen Bewusstsein in Deutschland, wenn es um die Krim geht?
Vor Kurzem habe ich vom Vorstandsvorsitzenden des Deutsch-Russischen Forums gehört, dass es damals zu einer gewaltfreien, friedlichen, höflichen Machtübernahme gekommen ist. Nur: Das ist ein bewusst in die Welt gesetzter Mythos. Ich habe das Auftreten der „Nachtwölfe“ und Kosaken mit eigenen Augen gesehen und den psychologischen Druck miterlebt, der auf das ukrainische Militär ausgeübt wurde.
Da waren ausgerüstete, vermummte russische Soldaten – die grünen Männchen. Sie standen den völlig verunsicherten, kaum ausgestatten ukrainischen Truppen gegenüber.
David gegen Goliath. Das Parlament hat unter Waffengewalt und unter Ausschluss der nicht-russischen Öffentlichkeit abgestimmt, und die Mehrheit der Abgeordneten war abwesend.
Das Referendum fand am 16. März statt. Über was wurde da genau abgestimmt?
Der Kreml hat sich bemüht, die Ereignisse so darzustellen, als seien sie spontan entstanden. Dabei gibt es Belege, dass über die sogenannte ‚Heimholung der Krim‘ schon viel länger nachgedacht wurde. Die Fragen und Formulierungen auf den Stimmzetteln waren verwirrend: Es wurde gefragt, ob man die Rückkehr der Verfassung aus dem Jahr 1992 befürworte oder die Wiedervereinigung der Krim mit Russland.
Die Wortwahl des Referendums wurde in Moskau festgelegt, diese Wortwahl war nicht das Werk einer „Unabhängigkeitsbewegung“. Es ist beachtlich, mit welchem Aufwand der Kreml immer noch versucht, den Prozess als „von unten spontan entstanden“ umzudefinieren. In einer der großen Dokumentation über die sogenannte Heimholung der Krim bezeichnet Wladimir Putin den von Moskau eingesetzten neuen Ministerpräsidenten als einen “Che Guevara“. Sergej Aksyonov als Beinahe-Märtyrer einer Freiheitsbewegung? Das ist völlig an den Fakten vorbei, weil dieser Mann weder Charisma besitzt, noch edle politische Motive, die die Sache der Annexionsbefürworter heiligen würden, noch irgendeinen Freiheitsdrang – er wurde ja nicht unterdrückt und unterjocht! Aber der Freiheitsdrang musste im Nachhinein erfunden werden. Diese Zuschreibungen erfüllen alle einen Zweck.
Dabei war die Krim noch nie Teil eines russischen Nationalstaates.
Nein, aber da wurde ganz bewusst auf das kollektive Unterbewusstsein angespielt. Diese Mythen und Bilder kamen immer wieder in den Gesprächen vor, die ich geführt habe. Die Krim sei einst die Sommerresidenz der Zaren gewesen. Der Ort der Taufe der Rus. Der Literatur-Schauplatz von Puschkin und Tolstoi. Es gibt den Mythos von einem russischen Jerusalem, die imperiale Erzählung von der „Perle des Reichs“.
Beim Referendum gab es angeblich eine sehr hohe Wahlbeteiligung. 97 Prozent sollen für eine Krim-Annexion oder für die Wiedereingliederung der Krim gestimmt haben. Wie sind diese Zahlen zu beurteilen?
Ich habe Grund zur Annahme, dass man diesen Zahlen nicht trauen kann. Diese Zahlen kommen von der russischen Seite, da muss man vorsichtig sein. Wir wissen, wie das abläuft. Wie Stimmzettel ausgefüllt und Wahlurnen gefüllt werden. Ich habe die Hektik damals miterlebt, und glaube, dass diese Zahlen frisiert wurden.
Befürworter der Annexion vergleichen die Situation oft mit Serbien und dem Kosovo.
Moskau greift in seinem Legitimationsnarrativ gerne auf westliche Völkerrechtsbrüche zurück, also auf den Kosovo, Irak und Libyen. Diese Beispiele sollen Moskaus Interventionen in Georgien und in der Ukraine rechtfertigen. Aber die Analogie vom Kosovo zur Krim ist nicht schlüssig.
Die Intervention kam im Kosovo, nachdem es Belege für einen serbischen Massenmord an Albanern gab. Auf der Krim habe ich keinerlei Anzeichen von Gewalt gegen ethnische Russen gesehen.
Der Unabhängigkeitsprozess hat sich im Kosovo über viele Jahre hinweg entwickelt. Die Grenze wurden nicht innerhalb von drei Wochen hochgezogen, so wie es auf der Krim passiert ist.
In ihrem Buch sprechen Sie auch mit Leonid Gratsch, dem ehemaligen Parlamentssprecher der Krim. Er hat seine Position zur Annexion verändert.
Wir erleben den sechsten Jahrestag der Annexion – und dieser alte Mann, ein erfahrener Krim-Politiker schon zu Sowjetzeiten, ist von Jahr zu Jahr erkennbar frustrierter über die Politik des Kreml auf der Halbinsel. Er sagt e, er sei am 20. Februar 2014 von russischen Generälen auf der Krim gefragt worden, ob er nicht der neue Premier werden wolle. Aber dann habe der Kreml mit Sergej Aksjonow doch auf jemand anderen gesetzt. Auf jemanden, der aus dem halb-kriminellen Milieu stammt. Bis heute bittet Gratsch Putin, die Krim von der Herrschaft dieser „Clique“, auf die er am Anfang setzte, zu befreien.
Wie sieht das Leben auf der Krim heute, sechs Jahre nach der Annexion aus?
Ich würde sagen, es gibt eine gewisse Ernüchterung. Aber es ist schwierig, mit den Interviewpartnern wieder ins Gespräch zu kommen. Bei bestimmten Fragen fühlen sich Interviewpartner angegriffen, insbesondere wenn es um die schmerzhafte Revision alter Ansichten geht. Gratsch spricht davon, dass die Krim geplündert wurde und die Einheimischen von den Infrastruktur-Maßnahmen finanziell nicht profitiert hätten. Er ist überzeugt, dass die Krim eine Geldwaschanlage geworden ist. Da ist Wut und Verbitterung deutlich erkennbar.
Welche Verantwortung hat der Westen heute?
Was Menschenrechte angeht, ist die Krim heute eine Blackbox, ein schwarzes Loch. Deutschland hat eine historische Verantwortung gegenüber der Ukraine, aber die Krim gerät zunehmend in Vergessenheit. Es war bereits ab 2017 nicht einfach, das Thema in der aktuellen Berichterstattung unterzubringen. Und heute ist es nicht anders. Wir müssen mehr über das berichten, was Krimtataren und Ukrainern auf der Krim wiederfährt – dass man für eine gehisste ukrainische Flagge auf seinem Grundstück verhaftet und verurteilt werden und psychologische Folter erleben kann.
Welche Rolle kommt der ukrainischen Regierung selbst zu?
Ich habe in den Jahren nach 2014 festgestellt, dass die Krim auch in der ukrainischen Berichterstattung selten aufgetaucht. Immerhin – Selenskyj hat für den 26. Februar den Tag des Widerstandes gegen die Besatzung ausgerufen. Mittlerweile gibt es auch Kinofilme, die sich mit der Thematik beschäftigen. Es werden Kurse für die krimtatarische Sprache angeboten. Aber gerade, wenn es um das Thema Gefangenenaustausch geht – der in der Politik oft als Meilenstein und Beleg für eine ukrainisch-russische Annäherung und erkennbarer Fortschritt dargestellt wird – müssen wir genauer hinschauen und zeigen, unter welchen Voraussetzungen dies stattgefunden hat. Ich fand es bemerkenswert, dass bereits Berkut-Polizisten, die auf dem Maidan im Einsatz waren, und ein wichtiger Zeuge für den Abschuss vom Passagierflugzeug MH17 relativ lautlos nach Moskau ausgeliefert wurden.
Hat Kyjiw eine Strategie für die Krim?
Es ist tragisch, aber leider erinnerte sich die Ukraine erst an die Krim, als sie sie verlor. Ich frage mich, ob es nicht systematischere Überlegungen Kiews geben muss, wie man die Bürger dort erreichen und wie man ukrainisches Kulturgut auf der Ukraine schützen kann. Durch die Einbeziehung der Krimtataren könnte man viel mehr bewirken.
Golineh Atai ist eine deutsche Fernseh-Korrespondentin. Sie war als ARD-Korrespondentin in Kairo und Moskau. Derzeit arbeitet sie in der Tagesschau-Redaktion des WDR. Vor allem ihre Berichterstattung aus Krisengebieten machten sie in Deutschland bekannt.
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.