Gerichts­ent­scheid stellt enormen Rück­schlag im Kampf gegen die Kor­rup­tion dar

Am 26. Februar annul­lierte das ukrai­ni­sche Ver­fas­sungs­ge­richt einen ent­schei­den­den Artikel des ukrai­ni­schen Straf­ge­set­zes zu ille­ga­ler Berei­che­rung. Bis dato war dieser Para­graf ein wich­ti­ges recht­li­ches Mittel der Ermitt­lungs­be­hör­den und der Zivil­ge­sell­schaft. Von Mattia Nelles

Wenn am Diens­tag eine tech­ni­sche Dele­ga­tion des Inter­na­tio­na­len Wäh­rungs­fonds (IWF) in Kyjiw ein­trifft, gibt es viel Gesprächs­stoff. In der jün­ge­ren Ver­gan­gen­heit gab es immer wieder Span­nun­gen wegen Kor­rup­ti­ons­re­for­men mit den zen­tra­len inter­na­tio­na­len Geld­ge­bern. Noch im Januar schien es, als schreite der Kampf gegen die Kor­rup­tion trotz des Wahl­kampfs voran. Ein inter­na­tio­na­les Exper­ten­gre­mium war an der Beset­zung des neuen, spe­zia­li­sier­ten Anti­kor­rup­ti­ons­ge­richts maß­geb­lich betei­ligt. Ein abso­lu­tes Novum und ein posi­ti­ver Schritt.

Portrait von Mattia Nelles

Mattia Nelles lebt nor­ma­ler­weise in der Ukraine, wo er zur Ost­ukraine arbeitet. 

Der wohl mas­sivste Rück­schlag im Kampf gegen die Kor­rup­tion ereig­nete sich jedoch voll­kom­mend über­ra­schend Ende Februar. Am 26. Februar annul­lierte das Ver­fas­sungs­ge­richt die Klausel zu „ille­ga­ler Berei­che­rung“ (Artikel 368–2 des ukrai­ni­schen Straf­ge­set­zes). Die Ent­schei­dung sorgte sofort für große Schock­wel­len im poli­ti­schen Kyjiw. Auf einen Schlag wurde der zen­tra­len Ermitt­lungs­be­hörde, dem Natio­na­len Anti­kor­rup­ti­ons­büro der Ukraine (NABU), eine wich­tige Geset­zes­grund­lage für Ermitt­lun­gen ent­zo­gen. Mit sofor­ti­ger Wirkung endeten min­des­tens 65 lau­fende Ver­fah­ren gegen hoch­ran­gige Poli­ti­ker, Richter und Beamte, wie die elf füh­ren­den NGOs für Anti­kor­rup­tion in einer gemein­sa­men Pres­se­mit­tei­lung bekannt­ga­ben. Poro­schenko ließ auf Twitter ver­lau­ten, sofort einen Ersatz für das Gesetz ein­rei­chen zu wollen. Für die lau­fen­den Ver­fah­ren kommt ein neues Gesetzt, das erst das Par­la­ment pas­sie­ren muss, aber wohl zu spät.

Aktuell werden alleine vier pro­mi­nente Fälle auf Grund­lage dieses Para­gra­fen vor Gericht ver­han­delt: gegen den Mili­tär­staats­an­walt Kon­stan­tin Kulyk, die ehe­ma­lige Chefin des staat­li­chen Rech­nungs­ho­fes Lidiia Havry­l­ova, den aktu­elle Ver­kehrs­mi­nis­ter Wolo­dymyr Omelian sowie den ehe­ma­li­gen Richter Yevhen Samoi­lenko. „Alle diese Fälle sind effek­tiv beendet. Der Haupt­an­kla­ge­punkt ist schlicht ent­fal­len“, sagt Ana­sta­siya Koz­l­ovts­eva von Trans­pa­rency Inter­na­tio­nal Ukraine.

Der Fall von Kulyk sei ein gutes Bei­spiel für die Bedeu­tung des annul­lier­ten Para­gra­fen, meint Olena Haluschka vom Anti-Cor­rup­tion Action Center in Kyjiw. Kulyk hatte hoch­wer­tige Apart­ments und Autos im Namen seiner Part­ne­rin regis­triert, diese jedoch nicht in seinen Ver­mö­gens­er­klä­run­gen ange­ge­ben. Trotz ver­schie­de­ner Ermitt­lun­gen und Anschul­di­gun­gen von Seiten der Zivil­ge­sell­schaft wurde er zunächst nicht sus­pen­diert, sondern sogar beför­dert. Am 21. Oktober 2016 wurde Kyluk von der NABU und der Son­der­staats­an­walt­schaft für Anti­kor­rup­tion wegen „ille­ga­ler Berei­che­rung“ ange­klagt. Nach der Ent­schei­dung des Ver­fas­sungs­ge­richts müsse der Fall nun vor Gericht kom­plett neu eröff­net werden, sagt Haluschka.

Das NABU kri­ti­sierte die Ent­schei­dung des Gerichts als „poli­tisch moti­viert“ und bezeich­nete sie als Ver­let­zung der inter­na­tio­na­len Ver­pflich­tun­gen der Ukraine, die sich aus Über­ein­kom­men mit den Ver­ein­ten Natio­nen, der Euro­päi­schen Union und dem Inter­na­tio­na­len Wäh­rungs­fond ergäben. Ähnlich kri­tisch reagier­ten die Welt­bank und die G7-Bot­schaf­ter in einem gemein­sa­men State­ment, in welchem sie die Annul­lie­rung des Para­gra­fen als „ernst­haf­ten Rück­schritt“ im Kampf gegen die Kor­rup­tion in der Ukraine bezeich­ne­ten und davor warnten, dass die gesamte Anti­kor­rup­ti­ons­ar­chi­tek­tur, inklu­sive dem in der Grün­dung befind­li­chen Anti­kor­rup­ti­ons­ge­richts, dadurch geschwächt werde.

Die Annul­lie­rung ver­letzte eine Viel­zahl von wich­ti­gen inter­na­tio­na­len Über­ein­künf­ten. 2014 habe man sich gegen­über dem IWF expli­zit ver­pflich­tet, diese Klausel ins Straf­ge­setzt zu über­neh­men, sagt Haluschka. Des Wei­te­ren ver­letze die Ent­schei­dung auch sämt­li­che Ver­pflich­tun­gen gegen­über der EU– dar­un­ter das lau­fende makro­fi­nan­zi­elle Unter­stüt­zungs­pa­ket, in welchem man sich zur Ver­bes­se­rung der Ver­mö­gens­er­klä­run­gen ver­pflich­tet hatte.

Auch Koz­l­ovts­eva teilt diese Ein­schät­zung und fügt hinzu, dass durch die Dekri­mi­na­li­sie­rung von „ille­ga­ler Berei­che­rung“ die Effek­ti­vi­tät der gesam­ten digi­ta­len Ver­mö­gens­er­klä­run­gen in Frage steht. Die soge­nann­ten e‑declarations waren zen­trale Bedin­gung für die Ein­füh­rung der Visum-Libe­ra­li­sie­rung. Jetzt bleibt abzu­war­ten, wie der IWF und die EU auf diesen Rück­schritt reagie­ren werden. Im schlimms­ten Fall droht der Ukraine im Rahmen des regel­mä­ßi­gen Reviews des soge­nann­ten Visa Libe­ra­li­sa­tion Action Plans sogar der Entzug der Visum­frei­heit. Gleich­zei­tig ist es zu bezwei­feln, ob der IWF drin­gend not­wen­dige Mil­li­ar­den-Kredite aus­zahlt, sofern diese ekla­tante Lücke in der Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung nicht geschlos­sen ist. Alleine in diesem Jahr muss die ukrai­ni­sche Regie­rung etwa 15 Mil­li­ar­den US-Dollar an Schul­den bedie­nen und bleibt daher von inter­na­tio­na­len Geld­ge­bern abhängig.

Bereits in den letzten Tagen hätten Par­la­men­ta­rier Gerichte ange­ru­fen, sagt Mykhailo Zher­na­kow, Leiter der Demo­cracy, Justice & Reforms Foun­da­tion und ehe­ma­li­ger Richter. Sie hätten die Gerichte gebeten zu prüfen, ob NGOs ihre Ermitt­lungs­er­geb­nisse, die im Rahmen inves­ti­ga­ti­ver Recher­chen zu ille­ga­ler Berei­che­rung von Poli­ti­kern ent­stan­den sind, zurück­neh­men müssen – jetzt, wo das keinen Straf­be­stand mehr dar­stellt. „Viele Ermitt­lun­gen sind schlicht­weg sinnlos“, so Zher­na­kow: „Jetzt können Poli­ti­ker den Eif­fel­turm in ihren Ver­mö­gens­er­klä­run­gen angeben und niemand hat eine recht­li­che Grund­lage, dies zu prüfen und gege­be­nen­falls zur Anklage zu bringen.“

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