Der ukrainische Präsidentschaftswahlkampf geht an die Substanz
Der ukrainische Präsidentschaftswahlkampf nahm letzte Woche bizarre Züge an. Drogentests und Debatten darüber, wann die Debatten eigentlich stattfinden sollen, da konnte man leicht den Überblick verlieren. Und trotzdem geht es derzeit in Kyjiw nicht nur um Klamauk, sondern auch um Politik und Inhalte. Mattia Nelles gibt einen kurzen Überblick über die Ereignisse der letzten Tage.
Über das Video-Ping Pong zwischen Wolodymr Selenskyj und Petro Poroschenko wurde viel berichtet. Am Donnerstag forderte Selenskyj Poroschenko in einem perfekt inszenierten Video zu einer Debatte ins Olympia-Stadion in Kyjiw und zu einen Medizincheck auf. Poroschenko nahm die Aufforderungen an. Am Freitagmorgen kam es dann zu den Medizinchecks. Denis Trubetskoy, der bei Poroschenkos Medizincheck im Stadion war, schrieb sogar „Die Ukraine dreht durch“.
Dieser „Aderlass vor laufender Kamera“ (SPON) wirkte für viele Beobachter besonders bizarr, folgte aber einem einfachen Kalkül. Vor der Wahl wurde Selenskyj – zum Teil auch Poroschenko – vorgeworfen, drogenabhängig bzw. ein Alkoholiker zu sein. Mit diesem Test konnte Selenskyj den Angriff parieren. Danach fragten sich viele Beobachter, ob es außer der Debatte um eine Debatte überhaupt zu einer wirklichen Debatte kommen werde. Unterstützer Poroschenkos erhoffen sich, dass der Präsident als erfahrener Staatsmann den Komiker in einer Debatte zerlegen könnte. Ein Kalkül, das durchaus nach hinten losgehen könnte, da der telegene Selenskyj über extrem viel Erfahrung im Fernsehen verfügt.
Noch am Sonntag forderte Poroschenko in einem Fernsehinterview Selenskyj zu einer Debatte am 14. April auf. Am Montag, den 8. April, nahm Selenskyj die Aufforderung an. Per Video bestätigte er auf seinem Telegram-Kanal seine Bereitschaft zu einer Debatte, jedoch für den 19. April – also dem gesetzlich vorgeschriebenen Termin. Gleichzeitig rief er seine Nutzer auf, ihm Fragen zu schicken, die er Poroschenko stellen sollte. Er kündigte an, Poroschenko nach der Causa Hladkowskyj – also dem Korruptionsfall im Verteidigungssektor – ansprechen zu wollen.
Am Dienstag ruderte Präsident Poroschenko zurück und kündigte an, am 19. April im Studio des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders diskutieren zu wollen. Erst danach will der Präsident im Stadion vorbeischauen.
Poroschenko zeigt Demut und räumt Fehler ein
Am Samstag traf Poroschenko führende Vertreter der Zivilgesellschaft zu einem Gedankenaustausch. Daria Kaleniuk, Direktorin der führenden Antikorruptions-NGO, berichtete, dass der Präsident im Gespräch gestand, Fehler gemacht zu haben. Der Präsident räumte ein, dass ein solches Zusammentreffen viel früher hätte stattfinden sollen. Zudem sicherte Poroschenko seine Unterstützung für die Antikorruptionsagenda der Zivilgesellschaft zu. Diese Agenda hatte Selenskyj bereits vor Wochen unterstützt. Gleichzeitig baten ihn die Aktivisten um die Entlassung des Gouverneurs von Cherson, Andrij Hordejew, und dessen Stellvertreter Yevhen Ryschtschuk. Beide sollen in die Ermordung der Aktivistin Katja Handsjuk verstrickt sein.
Eine der Anwesenden, die Schriftstellerin Soja Kasanschi, schrieb über das Treffen: “Der Präsident räumte ein, dass zwei Probleme – Personalien und die Kommunikation – nicht gelöst worden seien, mehr noch, gescheitert seien. (…) Der Ball liegt nun beim Präsidenten. Die Gesellschaft erwartet wichtige Botschaften vom Garanten der Verfassung. Fehler müssen beseitigt und dringende Schritte unternommen werden. Es müssen Personen entlassen und ernannt werden. Wir haben viele intelligente, professionelle, fähige, ehrliche und anständige Menschen im Land. Wo sind sie?”
Nach dem demütigen Treffen kamen jedoch Fragen auf, warum der Präsident vergangene Woche den umstrittenen Wladyslaw Kosinskyj zum Vize-Chef des mächtigen Geheimdienstes berufen hat, obwohl die Antikorruptionsbehörde NABU gegen ihn in mehreren Verfahren ermittelt.
Gleichzeitig wandte sich der Präsident in seinem Telegram- und Facebook-Kanal an die jungen Wähler. Die Wähler zwischen 18 und 29 Jahren hatten fast zu 50 Prozent für Selenskyj gestimmt. Inwiefern sie sich von einer direkten Ansprache umstimmen lassen, ist vollkommen offen.
Aus Berlin erhielt Poroschenko zudem überraschend Wahlkampfunterstützung. Angela Merkel gratulierte Poroschenko, genau wie Ratspräsident Donald Tusk, zum Einzug in die Stichwahl. Und am 05. April gab Regierungssprecher Steffen Seibert überraschend bekannt, dass Poroschenko zu einem bilateralen Gespräch am 12. April in Berlin eintreffen werde.
Zum Problem wird für Poroschenko, dass keiner der anderen Kandidaten ihn unterstützt. Julija Tymoscheno, Jurij Boiko, Anatolij Hryzenko und Ihor Schmeschko verweigerten ein, eine Unterstützungserklärung und gaben sogar an, den Präsidenten nicht wählen zu wollen. Zusammen kommen die Kandidaten immerhin auf knapp 40 Prozent. Bisherige Umfragen von Ende März zeigten, dass nur Selenskyj signifikante Wählerströme zu seinen Gunsten zu erwarten habe.
Selenskyj liefert Inhalte
Nach dem überzeugenden Sieg in der ersten Wahlrunde erwarten viele Wähler mehr Inhalte von Selenskyj. Bereits im Wahlkampf hatte der Kandidat die Justiz- und Korruptionsreformagenda der Zivilgesellschaft unterstützt. Am Wochenende legte Selenskyjs Team einen eigenen detaillierten Antikorruptionsplan vor. Dieser enthält die Kernforderungen der Zivilgesellschaft und betont, dass es im Feld der Korruptionsbekämpfung in den letzten Jahren nicht an Ideen, sondern an politischen Willen gemangelt habe – eine Einschätzung, der viele Antikorruptionsaktivisten zustimmen. Das Programm regt etwa die Gründung eines internationalen Wirtschaftsgerichts an, das unter Beteiligung internationaler Juristen Vertragssicherheit durchsetzen und damit das Geschäftsklima verbessern soll.
Am Sonntag sagte Selenskyj in einem seiner wenigen Exklusivinterviews, dass die Ukraine zwei Probleme hätte: den Krieg im Donbas und die Angst der Geschäftsleute, in der Ukraine zu investieren. Zum Krieg sagte der Kandidat, dass er direkte Verhandlungen mit Russland anstrebe und einen sofortigen Waffenstillstand durchsetzen wolle. Gleichzeitig kündigte er an, die Lebensbedingungen für die Menschen in den besetzten Gebieten verbessern zu wollen. Dabei soll es vor allem um vereinfachte Rentenzahlungen gehen. Bisher müssen Tausende von Rentnern unter schweren Bedingungen die Kontaktlinie zwischen den besetzten und den von der Regierung kontrollierten Teil der Ukraine überqueren. Zum NATO-Beitritt sagte Selenskyj, dass er diesen genau wie den EU-Beitritt zwar begrüße und als Präsident vorantreiben würde, aber darüber ein Referendum ansetzen würde.
Noch am Samstag hatte sich Selenskyj mit Anatolij Hryzenko getroffen. Der ehemalige Verteidigungsminister und zwischenzeitlicher Hoffnungsträger einiger Maidan-Aktivisten war bei den Wahlen mit 6,9 Prozent nur Fünftplatzierter geworden. Hryzenko kündigte an, Selenskyj unterstützen zu wollen, sofern dieser vor der zweiten Wahlrunde ein gutes Team vorstelle. „Ist er bereit für die Präsidentschaft?“ fragte Hryzenko auf Facebook, „Nein, ist er nicht. Aber er ist sich im Klaren darüber, mit welcher Verantwortung das Amt verbunden ist, er bereitet sich umfassend vor und will sich mit Profis umgeben.“
Zu diesen Profis gehören außer dem ehemaligen Wirtschaftsminister Aivaras Abromavičius, über den bereits viel diskutiert wurde, auch der ehemalige Finanzminister Oleksandr Danylyuk, der Investigativjournalist und Maidanaktivist Serhij Letschenko und der ehemalige Vize-Justizminister Rouslan Ryaboshapka. Entscheidend werden aber die Vorschläge Selenskyjs für die vom Präsidenten zu besetzenden Schlüsselpositionen sein – die des Generalstaatsanwalts, des Chefs des Inhaltsgeheimdienstes (SBU), des Verteidigungs- und Außenministers. Hier hat Selenski mal wieder Überraschungen versprochen. Man darf gespannt sein, welche neuen Verbündeten er präsentieren wird.
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