Tagebuch einer Eskalation
Der russische Überfall auf die Ukraine hat im Ausland eine Welle der Hilfsbereitschaft ausgelöst. Ukrainische NGOs wie Vostok SOS helfen wo sie können, um dringend benötigte Güter an die Menschen zu bringen. Imke Hansen, Friedensfachkraft bei der KURVE Wustrow, arbeitet eng mit Ihnen zusammen und berichtet von der Arbeit in Kriegszeiten.
17.02.
Am Donnerstagmorgen wurde ein Kindergarten in der Frontstadt Stanytsia Luhanska beschossen. Das war ein Schock. Wir hatten am Dienstag und Mittwoch ein wenig aufgeatmet, die diplomatischen Beschwichtigungen gegenüber Russland schienen zu funktionieren. Nun war klar, dass das eine Illusion war, eine Irreführung der russischen Informationspolitik. Mittags meldete sich eine Schuldirektorin mit der Bitte um psychologische Hilfe für die jüngeren Schulkinder. Auch dort hatte es Beschuss gegeben.
Bereits die letzten Wochen waren für die ukrainische NGO Vostok SOS anstrengend gewesen. Es ist schwer, sich auf etwas vorzubereiten, von dem man hofft, dass es nicht passiert, von dem man noch nicht weiß, was es ist, und wie man darauf reagieren kann.
Vostok SOS wurde 2014 von „Internal Displaced Persons“ aus Luhansk in Kyjiw gegründet. Durch ihren spektakulären Einsatz bei der humanitären Hilfe für andere Binnenflüchtlinge und Menschen im Kriegsgebiet machte sich die Organisation sofort einen Namen. Das Team war eines der wenigen, die auch in der heißen Phase Hilfsgüter an die abgelegensten Orte brachten. Kaum ein Dorf, in dem sie noch nicht waren. Kaum jemand kennt sich im Gebiet Luhansk besser aus als sie. Die meisten Mitarbeiter von Vostok SOS haben Familie auf der anderen Seite der Frontlinie.
Schon vor der KURVE Wustrow bin ich ehrenamtlich aktiv beim deutsch-schweizerischen Verein Libereco Partnership for Human Rights, die eng mit Vostok SOS seit 2015 zusammenarbeiten. Ich habe zahlreiche humanitäre Transporte selbst miterlebt, bin mit dem bis auf den letzten Millimeter vollgepackten Bus im Sand stecken geblieben, habe Waschmittel und Haferflocken verteilt und den Leuten zugehört, wie sie erzählt haben, dass ihre letzte Kuh von einem Geschoss getroffen wurde.
18.02.
Am Freitagabend spreche ich mit einem Kollegen von Vostok SOS über seine Eltern. Seine Mutter war gerade noch in Luhansk. „Das wichtigste für das Sicherheitsgefühl meiner Eltern ist, dass sie zusammen sind. Und ich fühle mich sicherer, wenn sie in meiner Nähe sind, sodass ich ihnen im Notfall helfen kann.“ Das gilt nicht nur für ihn, sondern für die meisten Familien im Donbas. Trotz der Bedrohung fällt es vielen Menschen aktuell schwer, die Kriegsregion zu verlassen, weil sie damit die Nähe zu Familienmitgliedern einbüßen. Die meisten kennen den Trennungsschmerz und das damit häufig einhergehende Schuldgefühl bereits seit 2014.
Jetzt gerade sind Deine Eltern so weit es geht in Sicherheit, sage ich, und merke sofort, dass der Satz keine Erleichterung auslöst, sondern etwas ganz anderes. Ich frage nach. „Ich muss an die alten Leute denken, die ich 2014 nicht evakuieren konnte“, antwortet mein Kollege. Wir stolpern täglich über Parallelen zu den schweren Situationen von 2014/2015. Trigger der alten Traumata lauern gerade überall, sodass die Leute nicht nur mit der aktuellen Bedrohung, sondern zusätzlich mit den traumatischen Ängsten der Vergangenheit konfrontiert sind. Das kann die Handlungsfähigkeit stark einschränken. Dabei ist es gerade jetzt wichtig, die Handlungsfähigkeit der Zivilgesellschaft aufrechtzuerhalten.
19.02.
Das Krisentreffen von Vostok SOS am Samstag markiert den Startpunkt der humanitären Hilfsaktion im akuten Krisenfall von Vostok SOS. Die Hotlines werden verstärkt und über verschiedene Kanäle erneut bekannt gemacht. Im Bedarfsfall können Menschen auch über ein einfaches Formular im Internet Hilfe anfordern. Viele Hilfsgesuche erreichen die Organisation nicht direkt, sondern über Dritte, die nur vage Informationen haben, weil die Betroffenen kein Netzwerk und kein Internet haben.
Aufgaben werden verteilt. Wer übernimmt die Rekrutierung von freiwilligen Helfern? Wer kümmert sich darum, einen Adress-Pool von Leuten zu erstellen, die vorübergehend Flüchtlinge aufnehmen können? Wohin soll man die Leute überhaupt schicken? In welchen Teilen der Ukraine ist es am sichersten?
Die Diskussion ist professionell. Die meisten haben bereits mehrere Krisensituationen gemeistert und haben Erfahrung im Aufbau von Hilfssystemen. Als die Verantwortungsbereiche aufgeteilt sind, machen sich alle an die Arbeit. Ich selbst merke Erleichterung, auch wenn die politische Lage immer bedrohlicher wird. Denn jetzt entfaltet sich genau das, worin Vostok SOS unschlagbar ist: Im Krisenfall zusammenhalten, Kräfte bündeln und mit Professionalität und Kreativität anderen Menschen helfen. Ich spreche mit einer Kollegin, frage sie, wie es ihr geht. „Ich habe zu tun“, sagt sie. „Die Angst merke ich nur am Abend.“
20.02.
Das Wochenende über sind wir immer wieder in Kontakt mit unseren Kollegen und Kolleginnen in Sjewjerodonezk, der aktuellen Hauptstadt der Oblast Luhansk. Dort befindet sich das Regionalbüro von Vostok SOS, von wo aus humanitäre, psychosoziale, Bildungs- und Dokumentationsarbeit umgesetzt wird. Mehrere Vostok-Mitarbeitende dokumentieren aktuell die Situation an der Frontlinie und versorgen uns täglich mit aktuellen Fotos, Berichten und Bedarfsmeldungen. Journalistinnen und Journalisten kommen ins Office, welches gerade einem Medienzentrum gleicht, um Informationen aus erster Hand und Interviews zu bekommen.
Gleichzeitig telefonieren und schreiben wir immer wieder mit unseren Kontaktpersonen im Kriegsgebiet – zivilgesellschaftlichen Aktivist/innen, Lehrer/innen, medizinischem Personal und anderen. Dieser direkte Draht ins betroffene Gebiet hilft nicht nur beim Verständnis der Situation und der Planung der Maßnahmen, er sorgt auch für eine gewisse Beruhigung auf beiden Seiten. Vostok SOS ist es wichtig, dass die Menschen, mit denen zusammengearbeitet wird, sich nicht alleingelassen fühlen. Gerade in Krisensituationen ist direkte, persönliche Unterstützung wichtig – selbst wenn es sich nur um eine mitfühlende Kurznachricht handelt.
21.02.
Montagmittag erreichen mich schlechte Nachrichten. Das Elektrizitätswerk in Schtschastja wurde abgestellt. Beschuss hat es stark beschädigt. Das ist nicht einmal 2014/2015 passiert. Während der damaligen heißen Kriegsphase trug das laufende Werk wesentlich zur Stabilisierung der humanitären Situation bei. Kurz darauf spricht mein Kollege mit einem Krankenhaus. Sie haben keinen Strom mehr, kämpfen darum, die Medikamente zu kühlen. 7.300 Haushalte sind ohne Strom, ganz abgesehen von der Infrastruktur. „Das wird die humanitäre Situation jetzt sehr schnell, sehr stark verschlimmern“, sagt er.
Der Montagabend ist voller Telefongespräche und Kurznachrichten auf allen Kanälen. Wir verfolgen Putins Rede, in der er der Ukraine die Legitimität ihrer Unabhängigkeit abspricht. Wie erwartet, erkennt Russland die selbsternannten „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk an. Wenig überraschend besteht die erste Amtshandlung darin, „Truppen zum Erhalt des Friedens“ zu schicken.
22.02.
Am Dienstag versuchen wir, unsere Kolleginnen aus Sjewerodonezk zu überzeugen, den Osten zu verlassen und mit ihren Kindern erstmal nach Kyjiw zu kommen. Aber alle zögern. Wir warten noch, wir können unsere Mutter nicht allein lassen, wir beobachten. Alle warten irgendein deutliches Signal ab, wobei nicht klar ist, was genau das sein würde. Ich habe Angst, dass es dann zu spät sein wird, dass dann die Straßen voll sein werden, dass man dann nicht mehr ruhig nach Westen gelangt.
24.02.
Der Großangriff hat in den frühen Morgenstunden begonnen. Meine Kollegen und Kolleginnen sind auf der Flucht und organisieren gleichzeitig die Evakuation von anderen. Immer mehr Teile der Ukraine werden von Russland eingenommen. Niemand weiß, wo es noch sicher ist. Ich höre, dass Evakuation immer schwieriger wird, die Straßen sind dicht, heißt es. Wir organisieren die Evakuation und Hilfe für Flüchtlinge im Ausland. Auch wenn wir nonstop beschäftigt sind, ist das dominierende Gefühl Hilflosigkeit. Ich habe keine Worte mehr.
25.02.
Seit gestern ständig Zoom-Meetings mit polnischen Organisationen. Die polnische Zivilgesellschaft hat wahnsinnig schnell mobilisiert. Leute fahren an die Grenze, sammeln Geld, stellen Informationen zusammen. So viele wollen helfen, das ist echt beeindruckend. Aber es ist schwierig, in den ganzen Dschungel Koordination zu bringen und dafür zu sorgen, dass die richtigen Informationen zu den Menschen kommen, die sie brauchen. Die Treffen fordern allen Konzentration und Gelassenheit ab. Ehrenamtliche treffen auf stark professionalisierte Organisationen, Generationen treffen aufeinander, unterschiedliche Auffassungen über Arbeitsgeschwindigkeit und Redezeit werden deutlich. Und immer wieder meldet sich jemand, der sagt: Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht zerstreiten. Wir müssen zusammenarbeiten, auch wenn wir uns dabei auf die Füße treten.
Ich kann mein ukrainisches Team kaum erreichen. Die einen sitzen in einem Luftschutzbunker, die anderen sind am Steuer und evakuieren. Ich bin die einzige, die in Sicherheit ist und kümmere mich um die Dinge, um die sich sonst keiner kümmern kann. Vertrete die anderen, die gerade sich und andere in Sicherheit bringen. Ich muss Entscheidungen alleine treffen. Und zwischendurch muss ich heulen, weil ich meine Kolleg*innen so vermisse und mich so alleine fühle. Und dann Brille putzen, Wasser trinken, und wieder in das nächste Treffen.
Am Abend kommt die Nachricht, dass die Stadt Schtschastja – was auf Deutsch „Glück“ bedeutet – zu 80 % zerstört ist. In Schtschastja war ich in den letzten Monaten oft, wir haben viel mit einer Gruppe von zivilgesellschaftlichen Aktivist*innen gearbeitet. Bei unserem letzten Treffen haben wir Ideen zur zivilgesellschaftlichen Entwicklung in der Stadt entwickelt, indem wir symbolische Landkarten einer idealen Zivilgesellschaft gezeichnet haben, erst jeweils eigene und dann eine gemeinsame, die entsprechend bunt und verrückt geworden ist. Auf der Rückfahrt haben Maksim und ich uns gefreut, weil bei dem Treffen so viele Ideen und sogar erste Umsetzungsstrategien entstanden sind.
Jetzt liegt das alles in Schutt und Asche. Auf Facebook wird eine Liste mit Überlebenden gepostet. Tote ohne Papiere werden anonym bestattet.
In meinen Gedanken läuft ein Film ab, ich sehe die Straßen an mir vorbeiziehen, durch die wir immer in die Stadt reinfahren. Im Sommer haben wir die Einfahrt zu der alten Fabrik, wo unser Gruppenraum ist, immer an dem riesigen Blumenbeet an der Ecke erkannt. Als wir das letzte Mal da waren, hat es geschneit. Ich weiß noch genau, wie wir uns verabschiedet haben, im Licht der trüben Außenlampe, die die dicken Schneeflocken wie eine romantische Filmanimation aussehen ließ. Ich weiß nicht, wen von unserer Gruppe ich wiedersehen werde.
26.02.
Am Morgen telefoniere ich mit meinem Teamkollegen Maksim. Er hat nicht geschlafen, ich glaube, er hat überhaupt vor drei Tagen das letzte Mal mehr als zwei Stunden geschlafen. Dok, sagt er, ich fasse es nicht, was in den letzten 48 Stunden alles war.
Es ist tatsächlich kaum zu glauben, was er in dieser Zeit geleistet hat. Organisiert, entschieden, gehandelt, Menschen in Sicherheit gebracht, sein zu Hause auf ungewisse Zeit verlassen. Am Vortag hat Maksim mit unserem Arbeitsauto in mehreren Touren 13 Menschen aus Kyjiw rausgeholt. Auf der vorletzten Fahrt, als er gerade wieder auf die Stadt zu fuhr, hat er mir aus dem Auto drei Sprachnachrichten aufgenommen, direkt hintereinander. In der ersten sagte er: Dok, wenn wir uns wiedersehen, schreiben wir zusammen ein Buch. Wir müssen das alles aufschreiben, was wir hier machen, auch in den letzten Monaten und Jahren gemacht haben. In der zweiten Nachricht sagte er: Wenn wir uns in zehn Jahren nicht wiedergetroffen haben, dann darfst Du das Buch allein schreiben.
In der letzten Nachricht: Und für die Verfilmung: Ich will von Brad Pitt gespielt werden. Ich habe ihm geantwortet, dass ich nicht zulassen würde, dass irgendjemand anderes seine Rolle spielt.
Meine Kollegin Tanja, ob ich meinen Vater bitten könnte, für Vostok SOS und alle anderen Menschen in der Ukraine zu beten. Als Pfarrer habe der doch sicher einen engen Draht zu Gott, sagt sie.
27.02.
Eine Klientin aus dem Kyjiwer Umland schreibt, im Nachbardorf sind Panzer. Es fällt Ihr schwer, sich jetzt zu beruhigen. Sie bittet mich, ihr eine Sprachnachricht aufzunehmen. Das mache ich.
Mein Team ist auf der Flucht. Schon seit Tagen. Sie fahren in einem Konvoi mit über 40 Leuten. Zwischendurch immer wieder Beschuss. Zwei Autos sind auf dem Weg kaputtgegangen.
Abends: Ein großer Teil ist in Uschhorod angekommen. Vier Tage haben sie für 800 km gebraucht. Alle total fertig.
28.02.
Ich habe erfahren, dass die Poliklinik in Trjochizbenka dem Erdboden gleich gemacht wurde. Die Lila und ihr Mann hatten sich in Sicherheit gebracht. Lila leitet das Ambulatorium in Trjochizbenka, das man sich wie eine kleine Poliklinik vorstellen kann, nur ohne Ärzte. Seit 2014 gibt es viel zu wenig Ärzte im Konfliktgebiet der Oblast Luhansk. Lila selbst hat eine Ausbildung zur Feldscherin, das ist so etwas zwischen Ärztin und Krankenschwester. Im Einzugsgebiet des Ambulatoriums, das ziemlich groß ist, ist sie die medizinische Autorität und es könnte keine bessere geben. Lilas Art, mit Menschen umzugehen, Probleme zu lösen, zu beruhigen und gleichzeitig nicht zu bevormunden beeindruckt mich sehr.
Lila’s Haus ist auch beschossen worden. Es war das letzte Haus von Trjochizbenka – direkt dahinter begann die Frontlinie. Ein paar Meter hinter dem Gartenzaun waren die ersten Schützengräben, die in den letzten Jahren aber nicht mehr benutzt worden waren. In diesem Haus war ich gerade im letzten Jahr häufig zu Gast. Immer wenn es möglich war, Lila und Wowa zu besuchen, haben wir das genutzt.
Lila und ich haben uns 2016 kennengelernt und das war Liebe auf den ersten Blick. Seitdem versuchen wir uns zu sehen, wann immer wir können. Wenn wir mal zwei Wochen nicht zu Besuch bei ihnen waren, konnte es sein, dass Lila und Wowa samstags morgens auf einmal bei uns in Severodonezk vor der Tür standen, um uns Gemüse zu bringen, die sie in ihrem riesigen Garten geerntet hatten, und Eier von ihren Hühnern.
Lila und das Ambulatorium sind ein ziviler Knotenpunkt im Frontgebiet. Jeder kennt sie. Auch die kommen zu ihr, die Kontakt mit medizinischem Personal gegenüber sonst eher abgeneigt sind. Im Garten des Ambulatoriums stehen immer Grüppchen rum, unterhalten sich, hier bekommt man Informationen, Zuspruch, Behandlung, und alles andere, was in der Kriegssituation der letzten acht Jahre von Bedeutung war. Lilas Arbeit, und fast noch mehr ihre bloße Existenz und ihre Art, sind unvorstellbar wichtig für den Zusammenhalt und Weiterbestand der lokalen dörflichen Zivilgesellschaften dort.
Ihr Haus war gemütlich und vor allem sehr kreativ eingerichtet. Besonders gefallen hat mir Ihr Badezimmerregal, das war eine ausrangierte Kühlschranktür. Jetzt sind Lila und Wowa in Severodonezk, in unserem Office. Sie versuchen, Hilfe für Trjochizbenka zu organisieren und sind völlig fertig.
01.03.
Die Tage sind so ausgefüllt mit Organisieren, dass es keine Zeit für irgendetwas anderes gibt. Heute bin ich um 19:00 das erste Mal dazu gekommen, etwas zu essen. Die humanitäre Situation verschlechtert sich. Im Osten der Ukraine sind mehrere Orte bereits im Bereich einer humanitären Katastrophe. Orte, die ich kenne, und an denen ich in den letzten Jahren regelmäßig gearbeitet habe. Wir bemühen uns um humanitäre Transporte und ich lerne eine neue Welt kennen: die der humanitären Logistik. Die große Frage ist dabei, wie wir die Güter sicher durch das Land in den Osten bekommen.
Vostok SOS und Libereco erreichen zahlreiche Anrufe von Menschen, die Hilfe bei der Evakuierung brauchen. Aber es nicht leicht. Es ist fast unmöglich, einen Fahrer zu finden. Die Straßen sind nicht sicher. Das Tempo ist langsam, weil so viele Menschen unterwegs sind. Meine Teamkollegen haben 3 Tage gebraucht, für eine Strecke von 800 km. Immerhin gabs in der letzten Nacht keinen Beschuss, erzählt Zhenya. Es gibt auch kaum noch Benzin.
Das sicherste ist aktuell der Zug. Jeden Tag gibt es eine Ankündigung, mit den Zügen, die fahren. Der Andrang ist groß, die Menschen quetschen sich in die Züge. Tickets und Plätze spielen keine Rolle mehr. Am Bahnhof in Lwiw sind Massen von Leuten, die über die polnische Grenze wollen und auf den Zug nach Przemysl warten. Die meisten sehen erschöpft aus, sind schon seit Tagen unterwegs. Meine Kollegin Tanja ist dort und leistet psychologische Hilfe.
02.03.
Ich komme nicht zum Schreiben. Ich komme nicht mal zum Essen. Heute habe ich um 19:00 das erste Mal etwas gegessen, obwohl ich seit 6 am Rechner war. Die Tage gehen enorm schnell vorbei, so schnell wie nie zuvor. Ich stehe auf, organisiere, ständig kommen Nachrichten, ständig klingelt das Telefon, ständig verändert sich etwas.
Wir versuchen, die Humanitäre Hilfe zu organisieren. Das schwierige Stück ist die Grenze. Sie ist zwar offen, aber für humanitäre Transporte kaum zu überwinden: Deutsche Wagen können nicht in die Ukraine, weil die Versicherung die Fahrt in ein Kriegsgebiet nicht zulässt. Ukrainische Fahrer können nicht aus der Ukraine raus, weil es eine Generalmobilisierung gibt, die es Männern von 18 bis 60 verbietet, das Land zu verlassen.
Wir hören immer mehr von Menschen, die sterben. Eine Freundin unserer Trainingsgruppe in Schtschastja ist ihren Verletzungen erlegen. Vika, unsere Ansprechpartnerin in Stanytsia Luhanska, hat das auf FB gepostet.
Alles wird beschossen. Kindergärten, Schulen, sogar das Kinderkrebskrankenhaus in Kyjiw. Es ist schwer, das noch Krieg zu nennen. Krieg hat regeln. Nicht auf zivile Einrichtungen zielen. Nicht auf medizinische Einrichtungen zielen. Kein Transport von Kämpfern in Krankenwagen oder Schulbussen. Nichts davon hält die Russische Föderation ein. Ist das ein Krieg oder ein Vernichtungsschlag?
03.03.
Heute ist Aschermittwoch. Ich soll bei einem Online-Friedensgebet sprechen. Ich will mir ein kurzes Update aus meinem Team holen und frage Zhenya, was er wichtig findet, zu sagen.
Wir wollen Frieden, Freiheit und Unabhängigkeit und müssen seit 39 Jahren darum kämpfen. Jetzt schaut die ganze Welt zu, wie die russische Armee das ukrainische Volk vernichtet. Russland will keinen Nachbarn mit demokratischen Werten haben.
Seit sieben Tagen führt Russland einen Krieg gegen eine friedliche Bevölkerung, zerstört Kindergärten, Schulen und Wohnhäuser. Mehr als 2000 Zivilisten hat dieser Krieg bereits das Leben gekostet.
Die Ukraine kann keinen Krieg mit Russland auf Augenhöhe führen. Uns fehlen die Waffen und die finanziellen Ressourcen.
Aber wir haben den Glauben, die Wahrheit, und den Wunsch in einem freien Land zu leben.
Die Ukraine steht am Rande einer humanitären Katastrophe. Wir brauchen Hilfe von unseren Nachbarn, Partnern und Freunden. Ohne Eure Hilfe wird es schwer sein, der russischen Invasion standzuhalten.
Das ist das Briefing von Zhenya.
05.03.
Wir müssen Supply Chains neu planen. Unsere geplante Infrastruktur ist zusammengebrochen. Die Lagerhäuser der ukrainischen Regierung auf der EU-Seite der Grenze sind nicht mehr benutzbar. Sie sind voll mit Altkleidern und Kuscheltieren, geliefert von Privatpersonen und Initiativen. Für die medizinische Hilfe, die jetzt dringend gebraucht wird, ist kein Platz mehr. Wie müssen wir neue Lösungen finden?
Der erste Impuls von vielen Menschen ist Kleidung spenden. Kleidersammlungen und Kuscheltiersammlungen sind unheimlich populär, sodass schnell eine Masse von Material zusammen kommt, die dann die gesamte Logistik verstopft, die eigentlich für Lebensmittel und Medikamente gebraucht wird.
Gleiches gilt für die Aktivität an der Grenze. Viele Menschen kommen angefahren, um Flüchtlinge an der Grenze abzuholen. Dabei ist Bahnfahren in Polen und Deutschland umsonst. Die Straßen zur Grenze sind teilweise von Kleinwagen aus Deutschland verstopft. An der Grenze ist Chaos. Unter das Volk mischen sich Menschenhändler, die sich als Hilfsorganisation ausgeben und junge, von tagelanger Flucht gestresste Frauen abgreifen. Komische ehrenamtliche Helfer tauchen an der Grenze auf, und es kommt raus, dass die irgendwie von Russland bezahlt sind. Die polnische Regierung sperrt einen Bereich von 1–2 km vor der Grenze, um weiteres Chaos zu vermeiden. Das erschwert die Arbeit der professionellen Hilfsorganisationen.
Ich freue mich, wenn Menschen Anteil nehme und helfen wollen. Ich wünsche mir, dass sie sich etwas besser informieren, statt einfach loszufahren.
Die deutsch-schweizerische NGO „Libereco – Partnership for Human Rights“ und Vostok SOS sammeln Spenden für humanitäre Hilfe in der Ukraine und für Menschen auf der Flucht und für Notunterkünfte im In- & Ausland. Jeder Betrag ist eine Unterstützung.
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