Tage­buch einer Eskalation

Foto: Kon­stan­tin Reutski /​ Vostok SOS

Der rus­si­sche Über­fall auf die Ukraine hat im Ausland eine Welle der Hilfs­be­reit­schaft aus­ge­löst. Ukrai­ni­sche NGOs wie Vostok SOS helfen wo sie können, um drin­gend benö­tigte Güter an die Men­schen zu bringen. Imke Hansen, Frie­dens­fach­kraft bei der KURVE Wustrow, arbei­tet eng mit Ihnen zusam­men und berich­tet von der Arbeit in Kriegszeiten.

17.02.

Am Don­ners­tag­mor­gen wurde ein Kin­der­gar­ten in der Front­stadt Stanyt­sia Luhanska beschos­sen. Das war ein Schock. Wir hatten am Diens­tag und Mitt­woch ein wenig auf­ge­at­met, die diplo­ma­ti­schen Beschwich­ti­gun­gen gegen­über Russ­land schie­nen zu funk­tio­nie­ren. Nun war klar, dass das eine Illu­sion war, eine Irre­füh­rung der rus­si­schen Infor­ma­ti­ons­po­li­tik. Mittags meldete sich eine Schul­di­rek­to­rin mit der Bitte um psy­cho­lo­gi­sche Hilfe für die jün­ge­ren Schul­kin­der. Auch dort hatte es Beschuss gegeben.

Bereits die letzten Wochen waren für die ukrai­ni­sche NGO Vostok SOS anstren­gend gewesen. Es ist schwer, sich auf etwas vor­zu­be­rei­ten, von dem man hofft, dass es nicht pas­siert, von dem man noch nicht weiß, was es ist, und wie man darauf reagie­ren kann.

Vostok SOS wurde 2014 von „Inter­nal Dis­pla­ced Persons“ aus Luhansk in Kyjiw gegrün­det. Durch ihren spek­ta­ku­lä­ren Einsatz bei der huma­ni­tä­ren Hilfe für andere Bin­nen­flücht­linge und Men­schen im Kriegs­ge­biet machte sich die Orga­ni­sa­tion sofort einen Namen. Das Team war eines der wenigen, die auch in der heißen Phase Hilfs­gü­ter an die abge­le­gens­ten Orte brach­ten. Kaum ein Dorf, in dem sie noch nicht waren. Kaum jemand kennt sich im Gebiet Luhansk besser aus als sie. Die meisten Mit­ar­bei­ter von Vostok SOS haben Familie auf der anderen Seite der Frontlinie.

Schon vor der KURVE Wustrow bin ich ehren­amt­lich aktiv beim deutsch-schwei­ze­ri­schen Verein Libe­reco Part­ner­ship for Human Rights, die eng mit Vostok SOS seit 2015 zusam­men­ar­bei­ten. Ich habe zahl­rei­che huma­ni­täre Trans­porte selbst mit­er­lebt, bin mit dem bis auf den letzten Mil­li­me­ter voll­ge­pack­ten Bus im Sand stecken geblie­ben, habe Wasch­mit­tel und Hafer­flo­cken ver­teilt und den Leuten zuge­hört, wie sie erzählt haben, dass ihre letzte Kuh von einem Geschoss getrof­fen wurde.

18.02.

Am Frei­tag­abend spreche ich mit einem Kol­le­gen von Vostok SOS über seine Eltern. Seine Mutter war gerade noch in Luhansk. „Das wich­tigste für das Sicher­heits­ge­fühl meiner Eltern ist, dass sie zusam­men sind. Und ich fühle mich siche­rer, wenn sie in meiner Nähe sind, sodass ich ihnen im Notfall helfen kann.“ Das gilt nicht nur für ihn, sondern für die meisten Fami­lien im Donbas. Trotz der Bedro­hung fällt es vielen Men­schen aktuell schwer, die Kriegs­re­gion zu ver­las­sen, weil sie damit die Nähe zu Fami­li­en­mit­glie­dern ein­bü­ßen. Die meisten kennen den Tren­nungs­schmerz und das damit häufig ein­her­ge­hende Schuld­ge­fühl bereits seit 2014.

Jetzt gerade sind Deine Eltern so weit es geht in Sicher­heit, sage ich, und merke sofort, dass der Satz keine Erleich­te­rung auslöst, sondern etwas ganz anderes. Ich frage nach. „Ich muss an die alten Leute denken, die ich 2014 nicht eva­ku­ie­ren konnte“, ant­wor­tet mein Kollege. Wir stol­pern täglich über Par­al­le­len zu den schwe­ren Situa­tio­nen von 2014/​2015. Trigger der alten Trau­mata lauern gerade überall, sodass die Leute nicht nur mit der aktu­el­len Bedro­hung, sondern zusätz­lich mit den trau­ma­ti­schen Ängsten der Ver­gan­gen­heit kon­fron­tiert sind. Das kann die Hand­lungs­fä­hig­keit stark ein­schrän­ken. Dabei ist es gerade jetzt wichtig, die Hand­lungs­fä­hig­keit der Zivil­ge­sell­schaft aufrechtzuerhalten.

19.02.

Das Kri­sen­tref­fen von Vostok SOS am Samstag mar­kiert den Start­punkt der huma­ni­tä­ren Hilfs­ak­tion im akuten Kri­sen­fall von Vostok SOS. Die Hot­lines werden ver­stärkt und über ver­schie­dene Kanäle erneut bekannt gemacht. Im Bedarfs­fall können Men­schen auch über ein ein­fa­ches For­mu­lar im Inter­net Hilfe anfor­dern. Viele Hilfs­ge­su­che errei­chen die Orga­ni­sa­tion nicht direkt, sondern über Dritte, die nur vage Infor­ma­tio­nen haben, weil die Betrof­fe­nen kein Netz­werk und kein Inter­net haben.

Auf­ga­ben werden ver­teilt. Wer über­nimmt die Rekru­tie­rung von frei­wil­li­gen Helfern? Wer kümmert sich darum, einen Adress-Pool von Leuten zu erstel­len, die vor­über­ge­hend Flücht­linge auf­neh­men können? Wohin soll man die Leute über­haupt schi­cken? In welchen Teilen der Ukraine ist es am sichersten?

Die Dis­kus­sion ist pro­fes­sio­nell. Die meisten haben bereits mehrere Kri­sen­si­tua­tio­nen gemeis­tert und haben Erfah­rung im Aufbau von Hilfs­sys­te­men. Als die Ver­ant­wor­tungs­be­rei­che auf­ge­teilt sind, machen sich alle an die Arbeit. Ich selbst merke Erleich­te­rung, auch wenn die poli­ti­sche Lage immer bedroh­li­cher wird. Denn jetzt ent­fal­tet sich genau das, worin Vostok SOS unschlag­bar ist: Im Kri­sen­fall zusam­men­hal­ten, Kräfte bündeln und mit Pro­fes­sio­na­li­tät und Krea­ti­vi­tät anderen Men­schen helfen. Ich spreche mit einer Kol­le­gin, frage sie, wie es ihr geht. „Ich habe zu tun“, sagt sie. „Die Angst merke ich nur am Abend.“

20.02.

Das Wochen­ende über sind wir immer wieder in Kontakt mit unseren Kol­le­gen und Kol­le­gin­nen in Sje­wjer­odo­nezk, der aktu­el­len Haupt­stadt der Oblast Luhansk. Dort befin­det sich das Regio­nal­büro von Vostok SOS, von wo aus huma­ni­täre, psy­cho­so­ziale, Bil­dungs- und Doku­men­ta­ti­ons­ar­beit umge­setzt wird. Mehrere Vostok-Mit­ar­bei­tende doku­men­tie­ren aktuell die Situa­tion an der Front­li­nie und ver­sor­gen uns täglich mit aktu­el­len Fotos, Berich­ten und Bedarfs­mel­dun­gen. Jour­na­lis­tin­nen und Jour­na­lis­ten kommen ins Office, welches gerade einem Medi­en­zen­trum gleicht, um Infor­ma­tio­nen aus erster Hand und Inter­views zu bekommen.

Gleich­zei­tig tele­fo­nie­ren und schrei­ben wir immer wieder mit unseren Kon­takt­per­so­nen im Kriegs­ge­biet – zivil­ge­sell­schaft­li­chen Aktivist/​innen, Lehrer/​innen, medi­zi­ni­schem Per­so­nal und anderen. Dieser direkte Draht ins betrof­fene Gebiet hilft nicht nur beim Ver­ständ­nis der Situa­tion und der Planung der Maß­nah­men, er sorgt auch für eine gewisse Beru­hi­gung auf beiden Seiten. Vostok SOS ist es wichtig, dass die Men­schen, mit denen zusam­men­ge­ar­bei­tet wird, sich nicht allein­ge­las­sen fühlen. Gerade in Kri­sen­si­tua­tio­nen ist direkte, per­sön­li­che Unter­stüt­zung wichtig – selbst wenn es sich nur um eine mit­füh­lende Kurz­nach­richt handelt.

21.02.

Mon­tag­mit­tag errei­chen mich schlechte Nach­rich­ten. Das Elek­tri­zi­täts­werk in Scht­schastja wurde abge­stellt. Beschuss hat es stark beschä­digt. Das ist nicht einmal 2014/​2015 pas­siert. Während der dama­li­gen heißen Kriegs­phase trug das lau­fende Werk wesent­lich zur Sta­bi­li­sie­rung der huma­ni­tä­ren Situa­tion bei. Kurz darauf spricht mein Kollege mit einem Kran­ken­haus. Sie haben keinen Strom mehr, kämpfen darum, die Medi­ka­mente zu kühlen. 7.300 Haus­halte sind ohne Strom, ganz abge­se­hen von der Infra­struk­tur. „Das wird die huma­ni­täre Situa­tion jetzt sehr schnell, sehr stark ver­schlim­mern“, sagt er.

Der Mon­tag­abend ist voller Tele­fon­ge­sprä­che und Kurz­nach­rich­ten auf allen Kanälen. Wir ver­fol­gen Putins Rede, in der er der Ukraine die Legi­ti­mi­tät ihrer Unab­hän­gig­keit abspricht. Wie erwar­tet, erkennt Russ­land die selbst­er­nann­ten „Volks­re­pu­bli­ken“ Luhansk und Donezk an. Wenig über­ra­schend besteht die erste Amts­hand­lung darin, „Truppen zum Erhalt des Frie­dens“ zu schicken.

22.02.

Am Diens­tag ver­su­chen wir, unsere Kol­le­gin­nen aus Sje­wer­odo­nezk zu über­zeu­gen, den Osten zu ver­las­sen und mit ihren Kindern erstmal nach Kyjiw zu kommen. Aber alle zögern. Wir warten noch, wir können unsere Mutter nicht allein lassen, wir beob­ach­ten. Alle warten irgend­ein deut­li­ches Signal ab, wobei nicht klar ist, was genau das sein würde. Ich habe Angst, dass es dann zu spät sein wird, dass dann die Straßen voll sein werden, dass man dann nicht mehr ruhig nach Westen gelangt.

24.02.

Der Groß­an­griff hat in den frühen Mor­gen­stun­den begon­nen. Meine Kol­le­gen und Kol­le­gin­nen sind auf der Flucht und orga­ni­sie­ren gleich­zei­tig die Eva­kua­tion von anderen. Immer mehr Teile der Ukraine werden von Russ­land ein­ge­nom­men. Niemand weiß, wo es noch sicher ist. Ich höre, dass Eva­kua­tion immer schwie­ri­ger wird, die Straßen sind dicht, heißt es. Wir orga­ni­sie­ren die Eva­kua­tion und Hilfe für Flücht­linge im Ausland. Auch wenn wir nonstop beschäf­tigt sind, ist das domi­nie­rende Gefühl Hilf­lo­sig­keit. Ich habe keine Worte mehr.

25.02.

Seit gestern ständig Zoom-Mee­tings mit pol­ni­schen Orga­ni­sa­tio­nen. Die pol­ni­sche Zivil­ge­sell­schaft hat wahn­sin­nig schnell mobi­li­siert. Leute fahren an die Grenze, sammeln Geld, stellen Infor­ma­tio­nen zusam­men. So viele wollen helfen, das ist echt beein­dru­ckend. Aber es ist schwie­rig, in den ganzen Dschun­gel Koor­di­na­tion zu bringen und dafür zu sorgen, dass die rich­ti­gen Infor­ma­tio­nen zu den Men­schen kommen, die sie brau­chen. Die Treffen fordern allen Kon­zen­tra­tion und Gelas­sen­heit ab. Ehren­amt­li­che treffen auf stark pro­fes­sio­na­li­sierte Orga­ni­sa­tio­nen, Gene­ra­tio­nen treffen auf­ein­an­der, unter­schied­li­che Auf­fas­sun­gen über Arbeits­ge­schwin­dig­keit und Rede­zeit werden deut­lich. Und immer wieder meldet sich jemand, der sagt: Wir müssen auf­pas­sen, dass wir uns nicht zer­strei­ten. Wir müssen zusam­men­ar­bei­ten, auch wenn wir uns dabei auf die Füße treten.

Ich kann mein ukrai­ni­sches Team kaum errei­chen. Die einen sitzen in einem Luft­schutz­bun­ker, die anderen sind am Steuer und eva­ku­ie­ren. Ich bin die einzige, die in Sicher­heit ist und kümmere mich um die Dinge, um die sich sonst keiner kümmern kann. Ver­trete die anderen, die gerade sich und andere in Sicher­heit bringen. Ich muss Ent­schei­dun­gen alleine treffen. Und zwi­schen­durch muss ich heulen, weil ich meine Kolleg*innen so ver­misse und mich so alleine fühle. Und dann Brille putzen, Wasser trinken, und wieder in das nächste Treffen.

Am Abend kommt die Nach­richt, dass die Stadt Scht­schastja – was auf Deutsch „Glück“ bedeu­tet – zu 80 % zer­stört ist. In Scht­schastja war ich in den letzten Monaten oft, wir haben viel mit einer Gruppe von zivil­ge­sell­schaft­li­chen Aktivist*innen gear­bei­tet. Bei unserem letzten Treffen haben wir Ideen zur zivil­ge­sell­schaft­li­chen Ent­wick­lung in der Stadt ent­wi­ckelt, indem wir sym­bo­li­sche Land­kar­ten einer idealen Zivil­ge­sell­schaft gezeich­net haben, erst jeweils eigene und dann eine gemein­same, die ent­spre­chend bunt und ver­rückt gewor­den ist. Auf der Rück­fahrt haben Maksim und ich uns gefreut, weil bei dem Treffen so viele Ideen und sogar erste Umset­zungs­stra­te­gien ent­stan­den sind.

Jetzt liegt das alles in Schutt und Asche. Auf Face­book wird eine Liste mit Über­le­ben­den gepos­tet. Tote ohne Papiere werden anonym bestattet.

In meinen Gedan­ken läuft ein Film ab, ich sehe die Straßen an mir vor­bei­zie­hen, durch die wir immer in die Stadt rein­fah­ren. Im Sommer haben wir die Ein­fahrt zu der alten Fabrik, wo unser Grup­pen­raum ist, immer an dem rie­si­gen Blu­men­beet an der Ecke erkannt. Als wir das letzte Mal da waren, hat es geschneit. Ich weiß noch genau, wie wir uns ver­ab­schie­det haben, im Licht der trüben Außen­lampe, die die dicken Schnee­flo­cken wie eine roman­ti­sche Film­ani­ma­tion aus­se­hen ließ. Ich weiß nicht, wen von unserer Gruppe ich wie­der­se­hen werde.

26.02.

Am Morgen tele­fo­niere ich mit meinem Team­kol­le­gen Maksim. Er hat nicht geschla­fen, ich glaube, er hat über­haupt vor drei Tagen das letzte Mal mehr als zwei Stunden geschla­fen. Dok, sagt er, ich fasse es nicht, was in den letzten 48 Stunden alles war.

Es ist tat­säch­lich kaum zu glauben, was er in dieser Zeit geleis­tet hat. Orga­ni­siert, ent­schie­den, gehan­delt, Men­schen in Sicher­heit gebracht, sein zu Hause auf unge­wisse Zeit ver­las­sen. Am Vortag hat Maksim mit unserem Arbeits­auto in meh­re­ren Touren 13 Men­schen aus Kyjiw raus­ge­holt. Auf der vor­letz­ten Fahrt, als er gerade wieder auf die Stadt zu fuhr, hat er mir aus dem Auto drei Sprach­nach­rich­ten auf­ge­nom­men, direkt hin­ter­ein­an­der. In der ersten sagte er: Dok, wenn wir uns wie­der­se­hen, schrei­ben wir zusam­men ein Buch. Wir müssen das alles auf­schrei­ben, was wir hier machen, auch in den letzten Monaten und Jahren gemacht haben. In der zweiten Nach­richt sagte er: Wenn wir uns in zehn Jahren nicht wie­der­ge­trof­fen haben, dann darfst Du das Buch allein schreiben.

In der letzten Nach­richt: Und für die Ver­fil­mung: Ich will von Brad Pitt gespielt werden. Ich habe ihm geant­wor­tet, dass ich nicht zulas­sen würde, dass irgend­je­mand anderes seine Rolle spielt.

Meine Kol­le­gin Tanja, ob ich meinen Vater bitten könnte, für Vostok SOS und alle anderen Men­schen in der Ukraine zu beten. Als Pfarrer habe der doch sicher einen engen Draht zu Gott, sagt sie.

27.02.

Eine Kli­en­tin aus dem Kyjiwer Umland schreibt, im Nach­bar­dorf sind Panzer. Es fällt Ihr schwer, sich jetzt zu beru­hi­gen. Sie bittet mich, ihr eine Sprach­nach­richt auf­zu­neh­men. Das mache ich.

Mein Team ist auf der Flucht. Schon seit Tagen. Sie fahren in einem Konvoi mit über 40 Leuten. Zwi­schen­durch immer wieder Beschuss. Zwei Autos sind auf dem Weg kaputtgegangen.

Abends: Ein großer Teil ist in Usch­ho­rod ange­kom­men. Vier Tage haben sie für 800 km gebraucht. Alle total fertig.

28.02.

Ich habe erfah­ren, dass die Poli­kli­nik in Trjochiz­benka dem Erd­bo­den gleich gemacht wurde. Die Lila und ihr Mann hatten sich in Sicher­heit gebracht. Lila leitet das Ambu­la­to­rium in Trjochiz­benka, das man sich wie eine kleine Poli­kli­nik vor­stel­len kann, nur ohne Ärzte. Seit 2014 gibt es viel zu wenig Ärzte im Kon­flikt­ge­biet der Oblast Luhansk. Lila selbst hat eine Aus­bil­dung zur Feld­sche­rin, das ist so etwas zwi­schen Ärztin und Kran­ken­schwes­ter. Im Ein­zugs­ge­biet des Ambu­la­to­ri­ums, das ziem­lich groß ist, ist sie die medi­zi­ni­sche Auto­ri­tät und es könnte keine bessere geben. Lilas Art, mit Men­schen umzu­ge­hen, Pro­bleme zu lösen, zu beru­hi­gen und gleich­zei­tig nicht zu bevor­mun­den beein­druckt mich sehr.

Lilas Haus ist auch beschos­sen worden. Es war das letzte Haus von Trjochiz­benka – direkt dahin­ter begann die Front­li­nie. Ein paar Meter hinter dem Gar­ten­zaun waren die ersten Schüt­zen­grä­ben, die in den letzten Jahren aber nicht mehr benutzt worden waren. In diesem Haus war ich gerade im letzten Jahr häufig zu Gast. Immer wenn es möglich war, Lila und Wowa zu besu­chen, haben wir das genutzt.

Lila und ich haben uns 2016 ken­nen­ge­lernt und das war Liebe auf den ersten Blick. Seitdem ver­su­chen wir uns zu sehen, wann immer wir können. Wenn wir mal zwei Wochen nicht zu Besuch bei ihnen waren, konnte es sein, dass Lila und Wowa sams­tags morgens auf einmal bei uns in Sever­odo­nezk vor der Tür standen, um uns Gemüse zu bringen, die sie in ihrem rie­si­gen Garten geern­tet hatten, und Eier von ihren Hühnern.

Lila und das Ambu­la­to­rium sind ein ziviler Kno­ten­punkt im Front­ge­biet. Jeder kennt sie. Auch die kommen zu ihr, die Kontakt mit medi­zi­ni­schem Per­so­nal gegen­über sonst eher abge­neigt sind. Im Garten des Ambu­la­to­ri­ums stehen immer Grüpp­chen rum, unter­hal­ten sich, hier bekommt man Infor­ma­tio­nen, Zuspruch, Behand­lung, und alles andere, was in der Kriegs­si­tua­tion der letzten acht Jahre von Bedeu­tung war. Lilas Arbeit, und fast noch mehr ihre bloße Exis­tenz und ihre Art, sind unvor­stell­bar wichtig für den Zusam­men­halt und Wei­ter­be­stand der lokalen dörf­li­chen Zivil­ge­sell­schaf­ten dort.

Ihr Haus war gemüt­lich und vor allem sehr kreativ ein­ge­rich­tet. Beson­ders gefal­len hat mir Ihr Bade­zim­mer­re­gal, das war eine aus­ran­gierte Kühl­schrank­tür. Jetzt sind Lila und Wowa in Sever­odo­nezk, in unserem Office. Sie ver­su­chen, Hilfe für Trjochiz­benka zu orga­ni­sie­ren und sind völlig fertig.

01.03.

Die Tage sind so aus­ge­füllt mit Orga­ni­sie­ren, dass es keine Zeit für irgend­et­was anderes gibt. Heute bin ich um 19:00 das erste Mal dazu gekom­men, etwas zu essen. Die huma­ni­täre Situa­tion ver­schlech­tert sich. Im Osten der Ukraine sind mehrere Orte bereits im Bereich einer huma­ni­tä­ren Kata­stro­phe. Orte, die ich kenne, und an denen ich in den letzten Jahren regel­mä­ßig gear­bei­tet habe. Wir bemühen uns um huma­ni­täre Trans­porte und ich lerne eine neue Welt kennen: die der huma­ni­tä­ren Logis­tik. Die große Frage ist dabei, wie wir die Güter sicher durch das Land in den Osten bekommen.

Vostok SOS und Libe­reco errei­chen zahl­rei­che Anrufe von Men­schen, die Hilfe bei der Eva­ku­ie­rung brau­chen. Aber es nicht leicht. Es ist fast unmög­lich, einen Fahrer zu finden. Die Straßen sind nicht sicher. Das Tempo ist langsam, weil so viele Men­schen unter­wegs sind. Meine Team­kol­le­gen haben 3 Tage gebraucht, für eine Strecke von 800 km. Immer­hin gabs in der letzten Nacht keinen Beschuss, erzählt Zhenya. Es gibt auch kaum noch Benzin.

Das sicherste ist aktuell der Zug. Jeden Tag gibt es eine Ankün­di­gung, mit den Zügen, die fahren. Der Andrang ist groß, die Men­schen quet­schen sich in die Züge. Tickets und Plätze spielen keine Rolle mehr. Am Bahnhof in Lwiw sind Massen von Leuten, die über die pol­ni­sche Grenze wollen und auf den Zug nach Prze­mysl warten. Die meisten sehen erschöpft aus, sind schon seit Tagen unter­wegs. Meine Kol­le­gin Tanja ist dort und leistet psy­cho­lo­gi­sche Hilfe.

02.03.

Ich komme nicht zum Schrei­ben. Ich komme nicht mal zum Essen. Heute habe ich um 19:00 das erste Mal etwas geges­sen, obwohl ich seit 6 am Rechner war. Die Tage gehen enorm schnell vorbei, so schnell wie nie zuvor. Ich stehe auf, orga­ni­siere, ständig kommen Nach­rich­ten, ständig klin­gelt das Telefon, ständig ver­än­dert sich etwas.

Wir ver­su­chen, die Huma­ni­täre Hilfe zu orga­ni­sie­ren. Das schwie­rige Stück ist die Grenze. Sie ist zwar offen, aber für huma­ni­täre Trans­porte kaum zu über­win­den: Deut­sche Wagen können nicht in die Ukraine, weil die Ver­si­che­rung die Fahrt in ein Kriegs­ge­biet nicht zulässt. Ukrai­ni­sche Fahrer können nicht aus der Ukraine raus, weil es eine Gene­ral­mo­bi­li­sie­rung gibt, die es Männern von 18 bis 60 ver­bie­tet, das Land zu verlassen.

Wir hören immer mehr von Men­schen, die sterben. Eine Freun­din unserer Trai­nings­gruppe in Scht­schastja ist ihren Ver­let­zun­gen erlegen. Vika, unsere Ansprech­part­ne­rin in Stanyt­sia Luhanska, hat das auf FB gepostet.

Alles wird beschos­sen. Kin­der­gär­ten, Schulen, sogar das Kin­der­krebs­kran­ken­haus in Kyjiw. Es ist schwer, das noch Krieg zu nennen. Krieg hat regeln. Nicht auf zivile Ein­rich­tun­gen zielen. Nicht auf medi­zi­ni­sche Ein­rich­tun­gen zielen. Kein Trans­port von Kämp­fern in Kran­ken­wa­gen oder Schul­bus­sen. Nichts davon hält die Rus­si­sche Föde­ra­tion ein. Ist das ein Krieg oder ein Vernichtungsschlag?

03.03.

Heute ist Ascher­mitt­woch. Ich soll bei einem Online-Frie­dens­ge­bet spre­chen. Ich will mir ein kurzes Update aus meinem Team holen und frage Zhenya, was er wichtig findet, zu sagen.

Wir wollen Frieden, Frei­heit und Unab­hän­gig­keit und müssen seit 39 Jahren darum kämpfen. Jetzt schaut die ganze Welt zu, wie die rus­si­sche Armee das ukrai­ni­sche Volk ver­nich­tet. Russ­land will keinen Nach­barn mit demo­kra­ti­schen Werten haben.

Seit sieben Tagen führt Russ­land einen Krieg gegen eine fried­li­che Bevöl­ke­rung, zer­stört Kin­der­gär­ten, Schulen und Wohn­häu­ser. Mehr als 2000 Zivi­lis­ten hat dieser Krieg bereits das Leben gekostet.

Die Ukraine kann keinen Krieg mit Russ­land auf Augen­höhe führen. Uns fehlen die Waffen und die finan­zi­el­len Ressourcen.

Aber wir haben den Glauben, die Wahr­heit, und den Wunsch in einem freien Land zu leben.

Die Ukraine steht am Rande einer huma­ni­tä­ren Kata­stro­phe. Wir brau­chen Hilfe von unseren Nach­barn, Part­nern und Freun­den. Ohne Eure Hilfe wird es schwer sein, der rus­si­schen Inva­sion standzuhalten.

Das ist das Brie­fing von Zhenya.

05.03.

Wir müssen Supply Chains neu planen. Unsere geplante Infra­struk­tur ist zusam­men­ge­bro­chen. Die Lager­häu­ser der ukrai­ni­schen Regie­rung auf der EU-Seite der Grenze sind nicht mehr benutz­bar. Sie sind voll mit Alt­klei­dern und Kuschel­tie­ren, gelie­fert von Pri­vat­per­so­nen und Initia­ti­ven. Für die medi­zi­ni­sche Hilfe, die jetzt drin­gend gebraucht wird, ist kein Platz mehr. Wie müssen wir neue Lösun­gen finden?

Der erste Impuls von vielen Men­schen ist Klei­dung spenden. Klei­der­samm­lun­gen und Kuschel­tier­samm­lun­gen sind unheim­lich populär, sodass schnell eine Masse von Mate­rial zusam­men kommt, die dann die gesamte Logis­tik ver­stopft, die eigent­lich für Lebens­mit­tel und Medi­ka­mente gebraucht wird.

Glei­ches gilt für die Akti­vi­tät an der Grenze. Viele Men­schen kommen ange­fah­ren, um Flücht­linge an der Grenze abzu­ho­len. Dabei ist Bahn­fah­ren in Polen und Deutsch­land umsonst. Die Straßen zur Grenze sind teil­weise von Klein­wa­gen aus Deutsch­land ver­stopft. An der Grenze ist Chaos. Unter das Volk mischen sich Men­schen­händ­ler, die sich als Hilfs­or­ga­ni­sa­tion aus­ge­ben und junge, von tage­lan­ger Flucht gestresste Frauen abgrei­fen. Komi­sche ehren­amt­li­che Helfer tauchen an der Grenze auf, und es kommt raus, dass die irgend­wie von Russ­land bezahlt sind. Die pol­ni­sche Regie­rung sperrt einen Bereich von 1–2 km vor der Grenze, um wei­te­res Chaos zu ver­mei­den. Das erschwert die Arbeit der pro­fes­sio­nel­len Hilfsorganisationen.

Ich freue mich, wenn Men­schen Anteil nehme und helfen wollen. Ich wünsche mir, dass sie sich etwas besser infor­mie­ren, statt einfach loszufahren.

Die deutsch-schwei­ze­ri­sche NGO „Libe­reco – Part­ner­ship for Human Rights“ und Vostok SOS sammeln Spenden für huma­ni­täre Hilfe in der Ukraine und für Men­schen auf der Flucht und für Not­un­ter­künfte im In- & Ausland. Jeder Betrag ist eine Unterstützung.

Textende

Dr. phil. Imke Hansen ist eine inter­dis­zi­pli­när arbei­tende His­to­ri­ke­rin für Ost­eu­ro­päi­sche Geschichte mit Schwer­punkt Oral History. Sie ist stell­ver­tre­tende Geschäfts­füh­re­rin der Orga­ni­sa­tion Libe­reco – Part­ner­ship for Human Rights und leitet den Bereich der psy­cho­so­zia­len Hilfe in der Ukraine. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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