„Solange ich gebraucht werde, bleibe ich hier“
Wie Freiwillige in Slowjansk und Kramatorsk die Erwartungen an die „große Schlacht um den Donbas“ erleben. Von Veronika Perepelitsa
Ich weiß nicht, wann und ob ich überhaupt in meine Heimat zurückkehren kann. Ich bin traurig, aber ich lebe, und das ist die Hauptsache. Das Wichtigste ist, an sich selbst und seine Familie zu denken, denn es gibt nichts Wichtigeres als das Leben. Häuser können immer wieder aufgebaut werden.
Ich komme aus Slowjansk, der Stadt, von der aus vor acht Jahren Russlands Krieg gegen die Ukraine begann. Die Stadt erlebte damals 86 schreckliche und schmerzhafte Besatzungstage, von denen sich das zerstörte Slowjansk lange Zeit erholen musste. Viele Jahre danach wurde Slowjansk nur noch „die Stadt, von der aus alles begann“ genannt.
Für die Einwohner von Slowjansk, Kramatorsk und dem ganzen Donbas ist es bereits der zweite Krieg.
Mariupol, Rubischne, Isjum und viele andere Städte in der Ostukraine wurden vollständig zerstört. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Einwohner von Slowjansk Angst vor einer erneuten Invasion ihrer Stadt haben. Laut dem Leiter der regionalen Militärverwaltung von Donezk, Pavel Kyrylenko, „gibt es Städte, die für die sogenannte ‘Donetsker Volksrepublik’ symbolisch sind. Das ist Slowjansk. 2014 wurden die von Russland gesteuerten Separatisten aus der Stadt geworfen. Jetzt wollen sie das realisieren, was sie damals versäumt haben.“
Die Massenevakuierung aus den Regionen Donezk und Luhansk, der Raketenangriff auf den Bahnhof in Kramatorsk am 9. April, bei dem zweiundfünfzig Menschen getötet und mehr als Hundert verletzt wurden – all das erregte viel mehr Aufmerksamkeit in der Welt für Slowjansk und Kramatorsk. In wenigen Wochen blieben nur noch 30.000 bis 40.000 Einwohner von Slowjansk in der Stadt. Aber im Moment leben dort viele Menschen – sowohl heimattreue Menschen, die bis zuletzt hier bleiben, als auch solche, die keine Möglichkeit haben, irgendwohin zu gehen. Letztere sind leider in der Überzahl.
Wie geht es Slowjansk und Kramatorsk in diesen Tagen? Vor welchen Herausforderungen stehen Freiwillige, Aktivisten, Ärzte oder Rentner? Vier Geschichten zeigen die Standhaftigkeit und mentale Stärke der Einwohner der beiden Städte.
Stanislaw, 20, aus Kramatorsk
Stanislaw aus Kramatorsk ist erst 20 Jahre alt. Vor dem Krieg leitete er eine selbst gegründete Barista-Schule, arbeitete jeden Tag an der Bar, liebte seine Arbeit und servierte den Bewohnern und Gästen von Kramatorsk duftenden Kaffee. Aber seit dem ersten Tag der russischen Invasion im Februar 2022 hat er seinen Job aufgeben, um sich als Freiwilliger zu melden.
Stanislaw: „Zuerst wollte ich an die Front, aber meine Militärfreunde wussten, dass ich keine Ausbildung hatte. Also sagten sie, wenn ich an der zivilen Front nützlich sein wollte, sollte ich besser hier bleiben und helfen. Ich hatte ein paar Ersparnisse und konnte über meinen Instagram-Profil auch etwas sammeln. Ich habe meine eigenen Öko-Taschen verkauft und die Einnahmen gespendet, um zu helfen. Die größte Spende habe ich aus Deutschland erhalten. Ich möchte den Menschen dort im Namen von ganz Kramatorsk danken.”
Dann nahm Stanislav Kontakt zu den Freiwilligen auf und begann mit dem Roten Kreuz zusammenzuarbeiten. „Ich hielt es für notwendig, weil viele nicht bereit waren, ihren Job aufzugeben und andere von ihren Kindern verlassen wurden, sodass von niemandem erwartet wurde, dass sie helfen “, erzählt Stanislav. Am 45. Kriegstag musste er mit seiner Familie in den Westen des Landes ziehen, wo er sich Freiwilligen anschloss, die den Vertriebenen beim Ankommen helfen, Wege zur Evakuierung aus aktiven Kampfgebieten finden und psychologische Unterstützung leisten.
Stanislaws Geschichte ist die Geschichte eines Freiwilligen, der jeden Tag den Schmerz von Tausenden von Menschen sieht, aber den Wunsch und die Fähigkeit hat, zu helfen – egal, was es kostet.
Stanislaw: „Während ich humanitäre Hilfe leistete, sah ich zerstörte Häuser und verletzte Menschen. Dieser Schmerz ist für immer in meinem Herzen und ich werde ihn nicht vergessen können. Ich wache nachts voller Schrecken auf, wenn ich träume, dass eine Rakete in meinem Haus einschlägt. Manchmal falle ich aus dem Bett und wache auf. Ich habe vergessen, wie es ist, in ein Geschäft zu gehen, um ein neues T‑Shirt zu kaufen oder einen Kaffee mit Freunden zu trinken.“
Oleksandr aus Kramatorsk
Oleksandr kommt auch aus Kramatorsk. Er war schon vor dem Krieg für seine Stadt aktiv. Die Stiftung „Alles wird gut“ bringt Einwohner zusammen, die humanitäre Hilfe leisten und bei den Evakuierungen helfen. Oleksandr ist einer der Koordinatoren. Er sagt, dass die Evakuierungen im Moment sehr schwierig sind, weil es in den Städten zwar viele Aktivisten und Organisationen gibt, aber ihre Aktionen nicht koordiniert sind. Außerdem gibt es viele Probleme mit der Bereitstellung humanitärer Hilfe. Zwar gibt es theoretisch viele Räume für die Verteilung der Lebensmittel, aber die Besitzer sind oft samt Schlüsseln weggezogen, sodass es jetzt unmöglich ist, dorthin zu gelangen.
Oleksandr: „Es gibt einfach nicht genug Hände, um alles aufzuteilen und zu optimieren. Wir haben versucht, Leute aus anderen Gegenden anzulocken, aber gerade viele junge Menschen kennen die Stadt einfach nicht und die Straßennamen sagen ihnen nichts. Das macht alles komplizierter. Aber wir verteilen ungefähr 70 Essenspakete pro Tag. Jeder Freiwilliger liefert etwa zehn bis 15 Pakete pro Tag aus.”
Oleksandrs Freiwillige haben auch an dem schrecklichen Morgen des 9. April gearbeitet, als ein Luftangriff auf den Bahnhof von Kramatorsk fünfzig Menschen tötete. Leider ist auch einer der Freiwilligen der Stiftung „Alles wird gut“ gestorben.
Weniger als vierzig Prozent der Bevölkerung lebt heute noch in der Stadt, die einmal mehr als 200.000 Einwohnern zählte. Über die Stimmung der Menschen in der Stadt berichtet Oleksandr: „Manche sagen: das ist meine Wohnung, ich werde sie nicht verlassen. Andere beklagen, dass sie kein Geld haben und woanders nicht gebraucht werden.“
Maritschka, 21, aus Slowjansk
Auch im benachbarten Slowjansk hat die Freiwilligenbewegung Fahrt aufgenommen, und jetzt, wo die Gefahr eines erneuten Angriffs extrem groß ist, gibt es immer noch junge Menschen, denen die Stadt so sehr am Herzen liegt, dass sie bleiben.
Maritschka engagiert sich seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr ehrenamtlich in der Stadt und konnte nach der Besetzung 2014 nicht wegbleiben. Sie half beim Wiederaufbau beschädigter Häuser und der kulturellen Entwicklung der Region. Heute, wo die Freiwilligen vor vielen Herausforderungen stehen, findet sie die Kraft, anderen zu helfen. Sie versorgt ältere Menschen, Menschen mit eingeschränkter Mobilität und Menschen mit Behinderungen in verschiedenen Stadtteilen mit Medikamenten und Lebensmitteln, organisiert Fahrdienste und holt Hilfsgüter aus anderen Städten ab.
Maritschka erzählt, dass die Freiwilligen derzeit mit großen logistischen Problemen konfrontiert sind: Kraftstoffmangel, Probleme mit der Post und der Suche nach den nötigen Produkten und Medikamenten. „Aber wir managen alles, wir lösen alles“, sagt sie selbstbewusst.
Maritschka: „Freiwillige können durch viele Gefühle gehen. Wenn sie einen Menschen im Rollstuhl sehen, eine alte Großmutter, die nicht mehr laufen kann oder heimatlose Tiere, von denen es in der Stadt sehr viele gibt, wissen sie: Wenn hier gekämpft wird, können sie ihnen nicht mehr helfen. Mein Herz schmerzt, aber ich versuche, jeden Tag mit einem kalten Verstand aufzuwachen und alles zu tun, was ich kann. Ja, manchmal komme ich abends nach Hause und fange an zu weinen, weil ich verstehe, dass ich nicht allen helfen kann, so sehr ich es auch will. Es ist schwierig, mit Menschen zu sympathisieren, weil man nicht mit allen sympathisieren kann. Meine Psyche leidet sehr darunter.”
Frau Valentina, 82, aus Slowjansk
In Slowjansk waren vor dem Krieg nach inoffiziellen Angaben mehr als vierzig Prozent der Bevölkerung im Ruhestand. Viele Rentner und Rentnerinnen sind in der Stadt geblieben, sie können nirgendwo hin und die meisten lassen sich von der Rhetorik leiten: „Das ist meine Heimat, wo ich mein ganzes Leben gelebt habe. Ich werde hier bleiben. “
Frau Valentina, 82 Jahre alt, ist eine alleinstehende Rentnerin, die am Stadtrand von Slowjansk lebt. Sie war gezwungen, in der Stadt zu bleiben, weil sie, wie viele andere, nicht die Möglichkeit zu einer vorzeitigen Evakuierung hatte – für eine Frau in Kriegszeiten eine bedrohliche Situation.
Frau Valentina:„Wir leben von Tag zu Tag. Wenn man rausgeht und sieht, dass einem jemand entgegen kommt, wird es irgendwie einfacher. Und, wenn niemand in der Nähe ist, ist es noch beängstigender, weil niemand weiß, was uns erwartet.“
Einheimische wiederholen oft, dass die Situation jetzt viel schwieriger und schlimmer ist als 2014. Aber diejenigen, die aus eigenem Antrieb bleiben, zeigen eine besondere Liebe und Hingabe für ihre Stadt. Trotz der Tatsache, dass die Stadt jetzt leer ist und beunruhigende Wolken sich Slowjansk nähern, lebt die Stadt.
Der zentrale Platz der Stadt ist voller blühender Bäume, es riecht nach Frühling. Und das weckt die Hoffnung, dass wir mit jedem Tag dem Sieg näher kommen.
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