„Solange ich gebraucht werde, bleibe ich hier“

Foto: Andriy Andri­y­enko /​ Imago Images

Wie Frei­wil­lige in Slo­wjansk und Kra­ma­torsk die Erwar­tun­gen an die „große Schlacht um den Donbas“ erleben. Von Vero­nika Perepelitsa

Ich weiß nicht, wann und ob ich über­haupt in meine Heimat zurück­keh­ren kann. Ich bin traurig, aber ich lebe, und das ist die Haupt­sa­che. Das Wich­tigste ist, an sich selbst und seine Familie zu denken, denn es gibt nichts Wich­ti­ge­res als das Leben. Häuser können immer wieder auf­ge­baut werden.

Ich komme aus Slo­wjansk, der Stadt, von der aus vor acht Jahren Russ­lands Krieg gegen die Ukraine begann. Die Stadt erlebte damals 86 schreck­li­che und schmerz­hafte Besat­zungs­tage, von denen sich das zer­störte Slo­wjansk lange Zeit erholen musste. Viele Jahre danach wurde Slo­wjansk nur noch „die Stadt, von der aus alles begann“ genannt.

Für die Ein­woh­ner von Slo­wjansk, Kra­ma­torsk und dem ganzen Donbas ist es bereits der zweite Krieg. 

Mariu­pol, Rubi­schne, Isjum und viele andere Städte in der Ost­ukraine wurden voll­stän­dig zer­stört. Es ist daher nicht ver­wun­der­lich, dass die Ein­woh­ner von Slo­wjansk Angst vor einer erneu­ten Inva­sion ihrer Stadt haben. Laut dem Leiter der regio­na­len Mili­tär­ver­wal­tung von Donezk, Pavel Kyry­l­enko, „gibt es Städte, die für die soge­nannte ‘Donets­ker Volks­re­pu­blik’ sym­bo­lisch sind. Das ist Slo­wjansk. 2014 wurden die von Russ­land gesteu­er­ten Sepa­ra­tis­ten aus der Stadt gewor­fen. Jetzt wollen sie das rea­li­sie­ren, was sie damals ver­säumt haben.“

Die Mas­sen­eva­ku­ie­rung aus den Regio­nen Donezk und Luhansk, der Rake­ten­an­griff auf den Bahnhof in Kra­ma­torsk am 9. April, bei dem zwei­und­fünf­zig Men­schen getötet und mehr als Hundert ver­letzt wurden – all das erregte viel mehr Auf­merk­sam­keit in der Welt für Slo­wjansk und Kra­ma­torsk. In wenigen Wochen blieben nur noch 30.000 bis 40.000 Ein­woh­ner von Slo­wjansk in der Stadt. Aber im Moment leben dort viele Men­schen – sowohl hei­mat­treue Men­schen, die bis zuletzt hier bleiben, als auch solche, die keine Mög­lich­keit haben, irgend­wo­hin zu gehen. Letz­tere sind leider in der Überzahl.

Wie geht es Slo­wjansk und Kra­ma­torsk in diesen Tagen? Vor welchen Her­aus­for­de­run­gen stehen Frei­wil­lige, Akti­vis­ten, Ärzte oder Rentner? Vier Geschich­ten zeigen die Stand­haf­tig­keit und mentale Stärke der Ein­woh­ner der beiden Städte.

Sta­nis­law, 20, aus Kramatorsk

Sta­nis­law aus Kra­ma­torsk ist erst 20 Jahre alt. Vor dem Krieg leitete er eine selbst gegrün­dete Barista-Schule, arbei­tete jeden Tag an der Bar, liebte seine Arbeit und ser­vierte den Bewoh­nern und Gästen von Kra­ma­torsk duf­ten­den Kaffee. Aber seit dem ersten Tag der rus­si­schen Inva­sion im Februar 2022 hat er seinen Job auf­ge­ben, um sich als Frei­wil­li­ger zu melden.

Sta­nis­law: „Zuerst wollte ich an die Front, aber meine Mili­tär­freunde wussten, dass ich keine Aus­bil­dung hatte. Also sagten sie, wenn ich an der zivilen Front nütz­lich sein wollte, sollte ich besser hier bleiben und helfen. Ich hatte ein paar Erspar­nisse und konnte über meinen Insta­gram-Profil auch etwas sammeln. Ich habe meine eigenen Öko-Taschen ver­kauft und die Ein­nah­men gespen­det, um zu helfen. Die größte Spende habe ich aus Deutsch­land erhal­ten. Ich möchte den Men­schen dort im Namen von ganz Kra­ma­torsk danken.”

Dann nahm Sta­nis­lav Kontakt zu den Frei­wil­li­gen auf und begann mit dem Roten Kreuz zusam­men­zu­ar­bei­ten. „Ich hielt es für not­wen­dig, weil viele nicht bereit waren, ihren Job auf­zu­ge­ben und andere von ihren Kindern ver­las­sen wurden, sodass von nie­man­dem erwar­tet wurde, dass sie helfen “, erzählt Sta­nis­lav. Am 45. Kriegs­tag musste er mit seiner Familie in den Westen des Landes  ziehen, wo er sich Frei­wil­li­gen anschloss, die den Ver­trie­be­nen beim Ankom­men helfen, Wege zur Eva­ku­ie­rung aus aktiven Kampf­ge­bie­ten finden und psy­cho­lo­gi­sche Unter­stüt­zung leisten.

Sta­nis­laws Geschichte ist die Geschichte eines Frei­wil­li­gen, der jeden Tag den Schmerz von Tau­sen­den von Men­schen sieht, aber den Wunsch und die Fähig­keit hat, zu helfen – egal, was es kostet.

Sta­nis­law: „Während ich huma­ni­täre Hilfe leis­tete, sah ich zer­störte Häuser und ver­letzte Men­schen. Dieser Schmerz ist für immer in meinem Herzen und ich werde ihn nicht ver­ges­sen können. Ich wache nachts voller Schre­cken auf, wenn ich träume, dass eine Rakete in meinem Haus ein­schlägt. Manch­mal falle ich aus dem Bett und wache auf. Ich habe ver­ges­sen, wie es ist, in ein Geschäft zu gehen, um ein neues T‑Shirt zu kaufen oder einen Kaffee mit Freun­den zu trinken.“

Foto: privat

Olek­sandr aus Kramatorsk

Olek­sandr kommt auch aus Kra­ma­torsk. Er war schon vor dem Krieg für seine Stadt aktiv. Die Stif­tung „Alles wird gut“ bringt Ein­woh­ner zusam­men, die huma­ni­täre Hilfe leisten und bei den Eva­ku­ie­run­gen helfen. Olek­sandr ist einer der Koor­di­na­to­ren. Er sagt, dass die Eva­ku­ie­run­gen im Moment sehr schwie­rig sind, weil es in den Städten zwar viele Akti­vis­ten und Orga­ni­sa­tio­nen gibt, aber ihre Aktio­nen nicht koor­di­niert sind. Außer­dem gibt es viele Pro­bleme mit der Bereit­stel­lung huma­ni­tä­rer Hilfe. Zwar gibt es theo­re­tisch viele Räume für die Ver­tei­lung der Lebens­mit­tel, aber die Besit­zer sind oft samt Schlüs­seln weg­ge­zo­gen, sodass es jetzt unmög­lich ist, dorthin zu gelangen.

Olek­sandr: „Es gibt einfach nicht genug Hände, um alles auf­zu­tei­len und zu opti­mie­ren. Wir haben ver­sucht, Leute aus anderen Gegen­den anzu­lo­cken, aber gerade viele junge Men­schen kennen die Stadt einfach nicht und die Stra­ßen­na­men sagen ihnen nichts. Das macht alles kom­pli­zier­ter. Aber wir ver­tei­len unge­fähr 70 Essens­pa­kete pro Tag. Jeder Frei­wil­li­ger liefert etwa zehn bis 15 Pakete pro Tag aus.”

Olek­san­drs Frei­wil­lige haben auch an dem schreck­li­chen Morgen des 9. April gear­bei­tet, als ein Luft­an­griff auf den Bahnhof von Kra­ma­torsk fünfzig Men­schen tötete. Leider ist auch einer der Frei­wil­li­gen der Stif­tung „Alles wird gut“ gestorben.

Weniger als vierzig Prozent der Bevöl­ke­rung lebt heute noch in der Stadt, die einmal mehr als 200.000 Ein­woh­nern zählte. Über die Stim­mung der Men­schen in der Stadt berich­tet Olek­sandr: „Manche sagen: das ist meine Wohnung, ich werde sie nicht ver­las­sen. Andere bekla­gen, dass sie kein Geld haben und woan­ders nicht gebraucht werden.“

Marit­schka, 21, aus Slowjansk

Auch im benach­bar­ten Slo­wjansk hat die Frei­wil­li­gen­be­we­gung Fahrt auf­ge­nom­men, und jetzt, wo die Gefahr eines erneu­ten Angriffs extrem groß ist, gibt es immer noch junge Men­schen, denen die Stadt so sehr am Herzen liegt, dass sie bleiben.

Marit­schka enga­giert sich seit ihrem fünf­zehn­ten Lebens­jahr ehren­amt­lich in der Stadt und konnte nach der Beset­zung 2014 nicht weg­blei­ben. Sie half beim Wie­der­auf­bau beschä­dig­ter Häuser und der kul­tu­rel­len Ent­wick­lung der Region. Heute, wo die Frei­wil­li­gen vor vielen Her­aus­for­de­run­gen stehen, findet sie die Kraft, anderen zu helfen. Sie ver­sorgt ältere Men­schen, Men­schen mit ein­ge­schränk­ter Mobi­li­tät und Men­schen mit Behin­de­run­gen in ver­schie­de­nen Stadt­tei­len mit Medi­ka­men­ten und Lebens­mit­teln, orga­ni­siert Fahr­dienste und holt Hilfs­gü­ter aus anderen Städten ab.

Foto: privat

Marit­schka erzählt, dass die Frei­wil­li­gen derzeit mit großen logis­ti­schen Pro­ble­men kon­fron­tiert sind: Kraft­stoff­man­gel, Pro­bleme mit der Post und der Suche nach den nötigen Pro­duk­ten und Medi­ka­men­ten. „Aber wir managen alles, wir lösen alles“, sagt sie selbstbewusst.

Marit­schka: „Frei­wil­lige können durch viele Gefühle gehen. Wenn sie einen Men­schen im Roll­stuhl sehen, eine alte Groß­mutter, die nicht mehr laufen kann oder hei­mat­lose Tiere, von denen es in der Stadt sehr viele gibt, wissen sie: Wenn hier gekämpft wird, können sie ihnen nicht mehr helfen. Mein Herz schmerzt, aber ich ver­su­che, jeden Tag mit einem kalten Ver­stand auf­zu­wa­chen und alles zu tun, was ich kann. Ja, manch­mal komme ich abends nach Hause und fange an zu weinen, weil ich ver­stehe, dass ich nicht allen helfen kann, so sehr ich es auch will. Es ist schwie­rig, mit Men­schen zu sym­pa­thi­sie­ren, weil man nicht mit allen sym­pa­thi­sie­ren kann. Meine Psyche leidet sehr darunter.”

Frau Valen­tina, 82, aus Slowjansk

In Slo­wjansk waren vor dem Krieg nach inof­fi­zi­el­len Angaben mehr als vierzig Prozent der Bevöl­ke­rung im Ruhe­stand. Viele Rentner und Rent­ne­rin­nen sind in der Stadt geblie­ben, sie können nir­gendwo hin und die meisten lassen sich von der Rhe­to­rik leiten: „Das ist meine Heimat, wo ich mein ganzes Leben gelebt habe. Ich werde hier bleiben. “

Frau Valen­tina, 82 Jahre alt, ist eine allein­ste­hende Rent­ne­rin, die am Stadt­rand von Slo­wjansk lebt. Sie war gezwun­gen, in der Stadt zu bleiben, weil sie, wie viele andere, nicht die Mög­lich­keit zu einer vor­zei­ti­gen Eva­ku­ie­rung hatte – für eine Frau in Kriegs­zei­ten eine bedroh­li­che Situation.

Frau Valentina:„Wir leben von Tag zu Tag. Wenn man raus­geht und sieht, dass einem jemand ent­ge­gen kommt, wird es irgend­wie ein­fa­cher. Und, wenn niemand in der Nähe ist, ist es noch beängs­ti­gen­der, weil niemand weiß, was uns erwartet.“

Ein­hei­mi­sche wie­der­ho­len oft, dass die Situa­tion jetzt viel schwie­ri­ger und schlim­mer ist als 2014. Aber die­je­ni­gen, die aus eigenem Antrieb bleiben, zeigen eine beson­dere Liebe und Hingabe für ihre Stadt. Trotz der Tat­sa­che, dass die Stadt jetzt leer ist und beun­ru­hi­gende Wolken sich Slo­wjansk nähern, lebt die Stadt.

Der zen­trale Platz der Stadt ist voller blü­hen­der Bäume, es riecht nach Früh­ling. Und das weckt die Hoff­nung, dass wir mit jedem Tag dem Sieg näher kommen.

Textende

Portrait von Veronika Perepelitsa

Vero­nika Pere­pe­litsa ist Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ma­na­ge­rin bei Dru­kar­nia – Civil Society Center Slo­vi­ansk und freie Journalistin.

 

 

 

 

 

 

 

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