Die Ukraine und der Westen: Zum Tango gehören immer zwei
Das dritte Jahr des russischen Angriffskrieges ist angebrochen. Ein kritischer Blick auf die unzulängliche Unterstützung des Westens – sowie auf die ukrainische Mobilisierungspolitik und den wachsenden Unmut in der Gesellschaft. Der Osteuropaexperte Tadeusz Iwański analysiert die Stimmung diesseits und jenseits der ukrainischen Landesgrenzen.
Damit die Ukraine den Krieg gewinnen kann, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt werden, sowohl außerhalb als auch innerhalb des Landes. Oberste Priorität hat eine verstärkte Unterstützung des Westens – militärisch, finanziell und politisch. Andernfalls wird Russland den Krieg gewinnen, mit allen daraus resultierenden negativen Folgen für die Sicherheit in Europa und in der Pazifikregion.
Aus dem Geflüster über ein Einfrieren des Krieges werden offene Appelle
Das Thema ist besonders dringlich, da wir im dritten – dem vielleicht bisher schwierigsten –
Kriegsjahr sind. In den USA sind die Ukraine-Hilfen in Geiselhaft der Präsidentschaftswahlen. In Europa gewinnen populistische Parteien an Stärke, die Ermüdung angesichts des russischen Zermürbungskrieges nimmt zu, und aus dem Geflüster über ein Einfrieren des Konflikts werden offene Appelle, wie kürzlich gesehen bei Rolf Mützenich.
Ein Abkommen mit Russland über die Ukraine würde Moskau und Peking jedoch lediglich signalisieren, dass der Westen nicht bereit für eine Konfrontation ist. Der europäische und der pazifische Kriegsschauplatz sind so stark voneinander abhängig wie es Putin und Xi auf persönlicher Ebene und hinsichtlich ihrer Wahrnehmung der globalen Rolle der USA sind. In ein paar Jahren könnte dies eine Spirale der Gewalt in Gang setzen und eine zweite Front eröffnen. Wenn China Taiwan militärisch angreift, wird dies für Europa wirtschaftliche Folgen haben, die kaum zu überblicken sind.
Europa muss angesichts eines möglichen Sieges von Donald Trump bei den US-Präsidentschaftswahlen im November seine Bemühungen um den Ausbau seiner eigenen Verteidigungskapazitäten verstärken und der Ukraine mehr Waffen und Flugabwehrsysteme liefern. Die Ukraine muss ihrerseits die Skeptiker sowohl in den USA als auch in Europa effektiver davon überzeugen, dass es sich lohnt, politisch, finanziell und militärisch in den Sieg über Russland zu investieren. Das ist der einzige Weg zum Erfolg im Jahr 2024 – dem entscheidenden Jahr für das Schicksal dieses Krieges.
Veränderte Stimmung in der Ukraine
Neben dem Waffen- und Munitionsdefizit steht die Ukraine auch vor großen internen Herausforderungen, die sie angehen muss. Es wird sonst schwierig, an einen endgültigen Erfolg zu denken. Denn das Land und die Gesellschaft legen zwar noch immer eine bewundernswerte Widerstandsfähigkeit und Kreativität bei der Verteidigung an den Tag, doch hat sich die Stimmung im vergangenen Jahr gewandelt. Anders als im Jahr 2022, als es den Menschen in der Ukraine nicht nur gelang, sich gegen die Invasion zu verteidigen, sondern auch die Hälfte der verlorenen Gebiete zurückzugewinnen, waren sich im März 2024 laut einer Umfrage des Rasumkow-Zentrums nur knapp 38 Prozent sicher, dass sich die Situation im Land in die richtige Richtung bewegt.
Zum ersten Mal seit Beginn des Angriffskrieges war im Februar der Anteil der Pessimisten höher als derjenige der Optimisten. Auch das Vertrauen in die zivilen Behörden ist rückläufig: Präsident Selenskyj genießt zwar immer noch das Vertrauen von 64 Prozent der Bevölkerung – doch sind dies 30 Prozent weniger als noch vor zwei Jahren. Der Hauptgrund scheint das Ausbleiben offensichtlicher Erfolge an der Front in den letzten anderthalb Jahren (seit der Rückeroberung von Cherson im November 2022) zu sein, außerdem spielen wachsenden Spannungen zwischen der zivilen und der militärischen Führung eine Rolle.
Die Entlassung des beliebten Oberbefehlshabers Walerij Saluschnyj durch den Präsidenten – hauptsächlich von persönlichen Interessen beeinflusst – hat weder in der Armee noch in der Bevölkerung sichtbare Zeichen des Unmuts hervorgerufen. Das Abwälzen der Schuld für die gescheiterte Offensive, um Saluschnyj politisch an den Rand zu drängen, führte jedoch auch nicht zu einem positiven Umfragetrend für Selenskyj. Dies zeigt einmal mehr die Reife der ukrainischen Gesellschaft, die pluralistische Debatten schätzt, spalterische Aktionen, die die politische Konsolidierung des Landes gegenüber Russland schwächen, jedoch verurteilt.
Ein Sieg der Ukraine ist für das Land buchstäblich existenziell
Was unverändert bleibt, ist der unerschütterliche Glaube der Ukrainer an den Sieg. Kein anderes Szenario ist für sie akzeptabel. Denn angesichts des russischen Terrors (Massaker in Butscha, Bombardierung von Wohnvierteln, Entführung von Kindern) und der Drohungen russischer Politiker, die Ukraine als Nation auszulöschen, ist der Kampf nun eindeutig existenzieller Natur.
Gleichzeitig wächst die Überzeugung, dass sich der Krieg in die Länge ziehen wird, denn Russland bleibt hart und zeigt keine Bereitschaft nachzugeben. Langsam wächst auch der Anteil der ukrainischen Gesellschaft (19 Prozent), der glaubt, dass der Frieden und die Wahrung der Unabhängigkeit territoriale Zugeständnisse wert sind. Nur noch gut die Hälfte der Bürger hält die Befreiung der Krim und des Donbas für ein realistisches Szenario zur Beendigung des Krieges.
Wachsende (Intoleranz gegenüber der) Korruption
Korruption wird zu einem immer offensichtlicheren Problem. Es hat sich gezeigt, dass der Krieg nicht alle dazu motiviert hat, ihr Verhalten zu verändern. Umfragen zufolge toleriert die Gesellschaft Korruption immer weniger, Korruption wird abgesehen vom Krieg jetzt als Hauptproblem des Landes gesehen.
Besondere Empörung haben im Verteidigungsministerium aufgedeckte Missstände ausgelöst. Diese haben Journalisten und Antikorruptionsaktivisten dazu veranlasst, die Selbstzensur aufzugeben, die sie sich in den ersten Monaten des Krieges auferlegt hatten. Die traditionell aktive Zivilgesellschaft in der Ukraine ist nicht zu Unrecht zu dem Schluss gekommen, dass die Zeit des Krieges auch eine Zeit der grundlegenden Sanierung des Staates und der Verabschiedung heilsamer Reformen ist. Die Offenlegung und Bekämpfung von Korruption im öffentlichen Sektor und in der staatlichen Verwaltung wird als wichtige interne Front im Kampf um die Stärkung der Widerstandsfähigkeit des Staates gegenüber Russland angesehen. Dies wiederum hat jedoch zu fragwürdigen Reaktionen der Behörden gegenüber ihren Kritikern geführt, die man als Einschüchterung sehen kann.
Korruption auf verschiedenen Regierungsebenen führt nicht nur zu einer Erosion des Vertrauens in die Regierung, sondern hat auch konkrete negative Auswirkungen. Nach Angaben von Eurostat wurde im vergangenen Jahr 235.000 ukrainischen Männern im Alter von 18 bis 64 Jahren vorübergehender Rechtsschutz in Europa gewährt. Das könnte heißen, dass viele von ihnen das Land illegal verlassen haben, denn nach den Bestimmungen des geltenden Kriegsrechts dürfen Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren das Land (mit einigen Ausnahmen) nicht verlassen. In den Medien häufen sich Berichte über Korruption an der Grenze und illegal ausgestellte Grenzübertrittsgenehmigungen.
Die Herausforderung einer fairen Mobilisierung
Weitaus kritischer ist jedoch die abnehmende Bereitschaft der Ukrainer, den Streitkräften beizutreten. Dies ist nicht auf eine fehlende Bereitschaft, das Heimatland zu verteidigen, sondern auf eine Organisationskrise in den Streitkräften und an der Front zurückzuführen. Nach mehr als zwei Jahren Krieg weiß jeder um die Realität an der Front, und dieses Wissen unterscheidet sich zunehmend von der geschönten Berichterstattung in staatlich kontrollierten Fernsehsendern. Defizite in Ausrüstung und persönlicher Ausstattung der Soldaten, fehlende Rotations- und Demobilisierungsregeln, Machtmissbrauch durch Offiziere, eine mangelhafte Ausbildung vor der Entsendung an die Front und Versäumnisse der militärischen Nachschubzentren kommen ans Licht.
Diese und andere Probleme verstärken die physische und psychische Erschöpfung, die das Land nach zwei Jahren Krieg verspürt. Außerdem wächst das Gefühl, dass die Kriegsanstrengungen in der ukrainischen Gesellschaft ungleich verteilt sind. Bessergestellte Männer aus den Großstädten, die über ein größeres Sozialkapital verfügen, sind von der Mobilisierung weniger betroffen als ärmere Männer aus der Provinz. Erstere können sich dem Militärdienst eher entziehen, indem sie ihre Beziehungen und finanziellen Ressourcen ausspielen. Dies verstärkt die gesellschaftliche Spaltung zwischen den „besseren“ und „schlechteren“ Patrioten – denjenigen, die an der Front waren, und denjenigen, die sich ihr entzogen oder das Land einfach verlassen haben.
Riskantes Ringen um neues Mobilisierungsgesetz
Wenn sich keine Freiwilligen mehr melden, ist die einzige Möglichkeit, die Reihen wirksam zu füllen, neue Mobilisierungsregeln einzuführen – vor allem gerechte, die den Blutzoll gleichmäßiger verteilen, die Dienstpflicht auf jüngere Altersgruppen ausdehnen (ab 25 statt wie bisher ab 27 Jahren), die Ausbildungseinrichtungen und Trainingsabläufe verbessern und klare Regeln für Rotation und Demobilisierung einführen.
Doch während in der Öffentlichkeit akzeptiert wird, dass ohne neue Soldaten – die Armee fordert bis zu einer halben Million Rekruten – ein wirksamer Widerstand gegen Russland schwierig sein wird, ist die Ausarbeitung klarer Regeln für deren Mobilisierung eine politisch und gesellschaftlich riskante Aufgabe.
Im dritten Kriegsjahr wollten weder die Regierungspartei noch die Opposition die Verantwortung für das entsprechende Gesetz übernehmen. Es wurde wie eine heiße Kartoffel zwischen Regierung und Parlament hin- und hergereicht. Gleichzeitig hat das Präsidialamt – das wichtigste Entscheidungszentrum des Landes – seine Hände unnütz in Unschuld gewaschen und es vorgezogen, die Rolle des Vermittlers zu übernehmen und die Aufgabe auf andere abzuwälzen, darunter auch auf die Armee selbst.
Im vergangenen Dezember stieß die erste Gesetzesfassung auf massive Kritik und wurde rasch zurückgezogen. Gegen die zweite Fassung, die im Februar in erster Lesung verabschiedet wurde, wurden fast 5.000 Änderungsanträge eingereicht. Die Politiker zogen es vor, sich als diejenigen darzustellen, die für soziale Gerechtigkeit eintreten, indem sie Ausnahmen vorschlugen, und nicht als diejenigen, die Menschen in den Tod schicken wollen.
Nach deutlichen Änderungen wurde das Gesetz Mitte April 2024 schließlich von der Werchowna Rada angenommen. Es gibt jedoch keine Garantie dafür, dass die neuen Bestimmungen zu einer höheren Zahl von Rekruten führen werden. Die Motivation, in die Armee einzutreten, könnte dadurch beeinträchtigt werden, dass das Gesetz keine klaren Regeln für die Demobilisierung und für eine Rotation (Dauer des Dienstes an der Front) vorsieht. Diese Fragen sollen in einem gesonderten Gesetz geregelt werden, was ein langwieriges Verfahren darstellen könnte, denn die Armee hat kein Interesse daran, erfahrene Soldaten von der Front abzuziehen.
Westliche Unterstützung als wichtigster Faktor
Die unzureichende militärische Unterstützung aus dem Westen, die bereits zu einer Verringerung der ukrainischen Verteidigungskapazitäten geführt und Russlands langsamen, aber stetigen Vormarsch begünstigt hat, untergräbt zusätzlich das Durchhaltevermögen der ukrainischen Bevölkerung (ganz zu schweigen von den Streitkräften). Umfragen zufolge ist für fast 60 Prozent der Befragten eine angemessene Unterstützung durch den Westen der wichtigste Faktor, um Russland zu besiegen.
Die Ukraine braucht dringend einen deutlichen militärischen Erfolg. Dieser kann nur durch die Verknüpfung von zwei Faktoren erreicht werden – die militärische Unterstützung aus dem Westen und eine effektivere Mobilisierung im eigenen Land. Die ukrainische Armee muss gestärkt werden; das erhöht nicht nur ihr militärisches Potenzial, sondern stärkt auch die öffentliche Moral und trägt zur innenpolitischen Stabilität und gesellschaftlichen Widerstandsfähigkeit bei.
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