Die Ukraine und der Westen: Zum Tango gehören immer zwei

Foto: shut­ter­stock

Das dritte Jahr des rus­si­schen Angriffs­krie­ges ist ange­bro­chen. Ein kri­ti­scher Blick auf die unzu­läng­li­che Unter­stüt­zung des Westens – sowie auf die ukrai­ni­sche Mobi­li­sie­rungs­po­li­tik und den wach­sen­den Unmut in der Gesell­schaft. Der Ost­eu­ro­pa­ex­perte Tadeusz Iwański ana­ly­siert die Stim­mung dies­seits und jen­seits der ukrai­ni­schen Landesgrenzen.

Damit die Ukraine den Krieg gewin­nen kann, müssen bestimmte Bedin­gun­gen erfüllt werden, sowohl außer­halb als auch inner­halb des Landes. Oberste Prio­ri­tät hat eine ver­stärkte Unter­stüt­zung des Westens – mili­tä­risch, finan­zi­ell und poli­tisch. Andern­falls wird Russ­land den Krieg gewin­nen, mit allen daraus resul­tie­ren­den nega­ti­ven Folgen für die Sicher­heit in Europa und in der Pazifikregion.

Aus dem Geflüs­ter über ein Ein­frie­ren des Krieges werden offene Appelle

Das Thema ist beson­ders dring­lich, da wir im dritten – dem viel­leicht bisher schwierigsten –
Kriegs­jahr sind. In den USA sind die Ukraine-Hilfen in Gei­sel­haft der Prä­si­dent­schafts­wah­len. In Europa gewin­nen popu­lis­ti­sche Par­teien an Stärke, die Ermü­dung ange­sichts des rus­si­schen Zer­mür­bungs­krie­ges nimmt zu, und aus dem Geflüs­ter über ein Ein­frie­ren des Kon­flikts werden offene Appelle, wie kürz­lich gesehen bei Rolf Mützenich.

Ein Abkom­men mit Russ­land über die Ukraine würde Moskau und Peking jedoch ledig­lich signa­li­sie­ren, dass der Westen nicht bereit für eine Kon­fron­ta­tion ist. Der euro­päi­sche und der pazi­fi­sche Kriegs­schau­platz sind so stark von­ein­an­der abhän­gig wie es Putin und Xi auf per­sön­li­cher Ebene und hin­sicht­lich ihrer Wahr­neh­mung der glo­ba­len Rolle der USA sind. In ein paar Jahren könnte dies eine Spirale der Gewalt in Gang setzen und eine zweite Front eröff­nen. Wenn China Taiwan mili­tä­risch angreift, wird dies für Europa wirt­schaft­li­che Folgen haben, die kaum zu über­bli­cken sind.

Europa muss ange­sichts eines mög­li­chen Sieges von Donald Trump bei den US-Prä­si­dent­schafts­wah­len im Novem­ber seine Bemü­hun­gen um den Ausbau seiner eigenen Ver­tei­di­gungs­ka­pa­zi­tä­ten ver­stär­ken und der Ukraine mehr Waffen und Flug­ab­wehr­sys­teme liefern. Die Ukraine muss ihrer­seits die Skep­ti­ker sowohl in den USA als auch in Europa effek­ti­ver davon über­zeu­gen, dass es sich lohnt, poli­tisch, finan­zi­ell und mili­tä­risch in den Sieg über Russ­land zu inves­tie­ren. Das ist der einzige Weg zum Erfolg im Jahr 2024 – dem ent­schei­den­den Jahr für das Schick­sal dieses Krieges.

Ver­än­derte Stim­mung in der Ukraine

Neben dem Waffen- und Muni­ti­ons­de­fi­zit steht die Ukraine auch vor großen inter­nen Her­aus­for­de­run­gen, die sie angehen muss. Es wird sonst schwie­rig, an einen end­gül­ti­gen Erfolg zu denken. Denn das Land und die Gesell­schaft legen zwar noch immer eine bewun­derns­werte Wider­stands­fä­hig­keit und Krea­ti­vi­tät bei der Ver­tei­di­gung an den Tag, doch hat sich die Stim­mung im ver­gan­ge­nen Jahr gewan­delt. Anders als im Jahr 2022, als es den Men­schen in der Ukraine nicht nur gelang, sich gegen die Inva­sion zu ver­tei­di­gen, sondern auch die Hälfte der ver­lo­re­nen Gebiete zurück­zu­ge­win­nen, waren sich im März 2024 laut einer Umfrage des Ras­um­kow-Zen­trums nur knapp 38 Prozent sicher, dass sich die Situa­tion im Land in die rich­tige Rich­tung bewegt.

Zum ersten Mal seit Beginn des Angriffs­krie­ges war im Februar der Anteil der Pes­si­mis­ten höher als der­je­nige der Opti­mis­ten. Auch das Ver­trauen in die zivilen Behör­den ist rück­läu­fig: Prä­si­dent Selen­skyj genießt zwar immer noch das Ver­trauen von 64 Prozent der Bevöl­ke­rung – doch sind dies 30 Prozent weniger als noch vor zwei Jahren. Der Haupt­grund scheint das Aus­blei­ben offen­sicht­li­cher Erfolge an der Front in den letzten andert­halb Jahren (seit der Rück­erobe­rung von Cherson im Novem­ber 2022) zu sein, außer­dem spielen wach­sen­den Span­nun­gen zwi­schen der zivilen und der mili­tä­ri­schen Führung eine Rolle.

Die Ent­las­sung des belieb­ten Ober­be­fehls­ha­bers Walerij Salu­schnyj durch den Prä­si­den­ten – haupt­säch­lich von per­sön­li­chen Inter­es­sen beein­flusst – hat weder in der Armee noch in der Bevöl­ke­rung sicht­bare Zeichen des Unmuts her­vor­ge­ru­fen. Das Abwäl­zen der Schuld für die geschei­terte Offen­sive, um Salu­schnyj poli­tisch an den Rand zu drängen, führte jedoch auch nicht zu einem posi­ti­ven Umfra­ge­trend für Selen­skyj. Dies zeigt einmal mehr die Reife der ukrai­ni­schen Gesell­schaft, die plu­ra­lis­ti­sche Debat­ten schätzt, spal­te­ri­sche Aktio­nen, die die poli­ti­sche Kon­so­li­die­rung des Landes gegen­über Russ­land schwä­chen, jedoch verurteilt.

Ein Sieg der Ukraine ist für das Land buch­stäb­lich existenziell

Was unver­än­dert bleibt, ist der uner­schüt­ter­li­che Glaube der Ukrai­ner an den Sieg. Kein anderes Sze­na­rio ist für sie akzep­ta­bel. Denn ange­sichts des rus­si­schen Terrors (Mas­sa­ker in Butscha, Bom­bar­die­rung von Wohn­vier­teln, Ent­füh­rung von Kindern) und der Dro­hun­gen rus­si­scher Poli­ti­ker, die Ukraine als Nation aus­zu­lö­schen, ist der Kampf nun ein­deu­tig exis­ten­zi­el­ler Natur.

Gleich­zei­tig wächst die Über­zeu­gung, dass sich der Krieg in die Länge ziehen wird, denn Russ­land bleibt hart und zeigt keine Bereit­schaft nach­zu­ge­ben. Langsam wächst auch der Anteil der ukrai­ni­schen Gesell­schaft (19 Prozent), der glaubt, dass der Frieden und die Wahrung der Unab­hän­gig­keit ter­ri­to­riale Zuge­ständ­nisse wert sind. Nur noch gut die Hälfte der Bürger hält die Befrei­ung der Krim und des Donbas für ein rea­lis­ti­sches Sze­na­rio zur Been­di­gung des Krieges.

Wach­sende (Into­le­ranz gegen­über der) Korruption

Kor­rup­tion wird zu einem immer offen­sicht­li­che­ren Problem. Es hat sich gezeigt, dass der Krieg nicht alle dazu moti­viert hat, ihr Ver­hal­ten zu ver­än­dern. Umfra­gen zufolge tole­riert die Gesell­schaft Kor­rup­tion immer weniger, Kor­rup­tion wird abge­se­hen vom Krieg jetzt als Haupt­pro­blem des Landes gesehen.

Beson­dere Empö­rung haben im Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­rium auf­ge­deckte Miss­stände aus­ge­löst. Diese haben Jour­na­lis­ten und Anti­kor­rup­ti­ons­ak­ti­vis­ten dazu ver­an­lasst, die Selbst­zen­sur auf­zu­ge­ben, die sie sich in den ersten Monaten des Krieges auf­er­legt hatten. Die tra­di­tio­nell aktive Zivil­ge­sell­schaft in der Ukraine ist nicht zu Unrecht zu dem Schluss gekom­men, dass die Zeit des Krieges auch eine Zeit der grund­le­gen­den Sanie­rung des Staates und der Ver­ab­schie­dung heil­sa­mer Refor­men ist. Die Offen­le­gung und Bekämp­fung von Kor­rup­tion im öffent­li­chen Sektor und in der staat­li­chen Ver­wal­tung wird als wich­tige interne Front im Kampf um die Stär­kung der Wider­stands­fä­hig­keit des Staates gegen­über Russ­land ange­se­hen. Dies wie­derum hat jedoch zu frag­wür­di­gen Reak­tio­nen der Behör­den gegen­über ihren Kri­ti­kern geführt, die man als Ein­schüch­te­rung sehen kann.

Kor­rup­tion auf ver­schie­de­nen Regie­rungs­ebe­nen führt nicht nur zu einer Erosion des Ver­trau­ens in die Regie­rung, sondern hat auch kon­krete nega­tive Aus­wir­kun­gen. Nach Angaben von Euro­stat wurde im ver­gan­ge­nen Jahr 235.000 ukrai­ni­schen Männern im Alter von 18 bis 64 Jahren vor­über­ge­hen­der Rechts­schutz in Europa gewährt. Das könnte heißen, dass viele von ihnen das Land illegal ver­las­sen haben, denn nach den Bestim­mun­gen des gel­ten­den Kriegs­rechts dürfen Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren das Land (mit einigen Aus­nah­men) nicht ver­las­sen. In den Medien häufen sich Berichte über Kor­rup­tion an der Grenze und illegal aus­ge­stellte Grenzübertrittsgenehmigungen.

Die Her­aus­for­de­rung einer fairen Mobilisierung

Weitaus kri­ti­scher ist jedoch die abneh­mende Bereit­schaft der Ukrai­ner, den Streit­kräf­ten bei­zu­tre­ten. Dies ist nicht auf eine feh­lende Bereit­schaft, das Hei­mat­land zu ver­tei­di­gen, sondern auf eine Orga­ni­sa­ti­ons­krise in den Streit­kräf­ten und an der Front zurück­zu­füh­ren. Nach mehr als zwei Jahren Krieg weiß jeder um die Rea­li­tät an der Front, und dieses Wissen unter­schei­det sich zuneh­mend von der geschön­ten Bericht­erstat­tung in staat­lich kon­trol­lier­ten Fern­seh­sen­dern. Defi­zite in Aus­rüs­tung und per­sön­li­cher Aus­stat­tung der Sol­da­ten, feh­lende Rota­ti­ons- und Demo­bi­li­sie­rungs­re­geln, Macht­miss­brauch durch Offi­ziere, eine man­gel­hafte Aus­bil­dung vor der Ent­sen­dung an die Front und Ver­säum­nisse der mili­tä­ri­schen Nach­schub­zen­tren kommen ans Licht.

Diese und andere Pro­bleme ver­stär­ken die phy­si­sche und psy­chi­sche Erschöp­fung, die das Land nach zwei Jahren Krieg ver­spürt. Außer­dem wächst das Gefühl, dass die Kriegs­an­stren­gun­gen in der ukrai­ni­schen Gesell­schaft ungleich ver­teilt sind. Bes­ser­ge­stellte Männer aus den Groß­städ­ten, die über ein grö­ße­res Sozi­al­ka­pi­tal ver­fü­gen, sind von der Mobi­li­sie­rung weniger betrof­fen als ärmere Männer aus der Provinz. Erstere können sich dem Mili­tär­dienst eher ent­zie­hen, indem sie ihre Bezie­hun­gen und finan­zi­el­len Res­sour­cen aus­spie­len. Dies ver­stärkt die gesell­schaft­li­che Spal­tung zwi­schen den „bes­se­ren“ und „schlech­te­ren“ Patrio­ten – den­je­ni­gen, die an der Front waren, und den­je­ni­gen, die sich ihr ent­zo­gen oder das Land einfach ver­las­sen haben.

Ris­kan­tes Ringen um neues Mobilisierungsgesetz

Wenn sich keine Frei­wil­li­gen mehr melden, ist die einzige Mög­lich­keit, die Reihen wirksam zu füllen, neue Mobi­li­sie­rungs­re­geln ein­zu­füh­ren – vor allem gerechte, die den Blut­zoll gleich­mä­ßi­ger ver­tei­len, die Dienst­pflicht auf jüngere Alters­grup­pen aus­deh­nen (ab 25 statt wie bisher ab 27 Jahren), die Aus­bil­dungs­ein­rich­tun­gen und Trai­nings­ab­läufe ver­bes­sern und klare Regeln für Rota­tion und Demo­bi­li­sie­rung einführen.

Doch während in der Öffent­lich­keit akzep­tiert wird, dass ohne neue Sol­da­ten – die Armee fordert bis zu einer halben Million Rekru­ten – ein wirk­sa­mer Wider­stand gegen Russ­land schwie­rig sein wird, ist die Aus­ar­bei­tung klarer Regeln für deren Mobi­li­sie­rung eine poli­tisch und gesell­schaft­lich ris­kante Aufgabe.

Im dritten Kriegs­jahr wollten weder die Regie­rungs­par­tei noch die Oppo­si­tion die Ver­ant­wor­tung für das ent­spre­chende Gesetz über­neh­men. Es wurde wie eine heiße Kar­tof­fel zwi­schen Regie­rung und Par­la­ment hin- und her­ge­reicht. Gleich­zei­tig hat das Prä­si­di­al­amt – das wich­tigste Ent­schei­dungs­zen­trum des Landes – seine Hände unnütz in Unschuld gewa­schen und es vor­ge­zo­gen, die Rolle des Ver­mitt­lers zu über­neh­men und die Aufgabe auf andere abzu­wäl­zen, dar­un­ter auch auf die Armee selbst.

Im ver­gan­ge­nen Dezem­ber stieß die erste Geset­zes­fas­sung auf massive Kritik und wurde rasch zurück­ge­zo­gen. Gegen die zweite Fassung, die im Februar in erster Lesung ver­ab­schie­det wurde, wurden fast 5.000 Ände­rungs­an­träge ein­ge­reicht. Die Poli­ti­ker zogen es vor, sich als die­je­ni­gen dar­zu­stel­len, die für soziale Gerech­tig­keit ein­tre­ten, indem sie Aus­nah­men vor­schlu­gen, und nicht als die­je­ni­gen, die Men­schen in den Tod schi­cken wollen.

Nach deut­li­chen Ände­run­gen wurde das Gesetz Mitte April 2024 schließ­lich von der Wer­chowna Rada ange­nom­men. Es gibt jedoch keine Garan­tie dafür, dass die neuen Bestim­mun­gen zu einer höheren Zahl von Rekru­ten führen werden. Die Moti­va­tion, in die Armee ein­zu­tre­ten, könnte dadurch beein­träch­tigt werden, dass das Gesetz keine klaren Regeln für die Demo­bi­li­sie­rung und für eine Rota­tion (Dauer des Diens­tes an der Front) vor­sieht. Diese Fragen sollen in einem geson­der­ten Gesetz gere­gelt werden, was ein lang­wie­ri­ges Ver­fah­ren dar­stel­len könnte, denn die Armee hat kein Inter­esse daran, erfah­rene Sol­da­ten von der Front abzuziehen.

West­li­che Unter­stüt­zung als wich­tigs­ter Faktor

Die unzu­rei­chende mili­tä­ri­sche Unter­stüt­zung aus dem Westen, die bereits zu einer Ver­rin­ge­rung der ukrai­ni­schen Ver­tei­di­gungs­ka­pa­zi­tä­ten geführt und Russ­lands lang­sa­men, aber ste­ti­gen Vor­marsch begüns­tigt hat, unter­gräbt zusätz­lich das Durch­hal­te­ver­mö­gen der ukrai­ni­schen Bevöl­ke­rung (ganz zu schwei­gen von den Streit­kräf­ten). Umfra­gen zufolge ist für fast 60 Prozent der Befrag­ten eine ange­mes­sene Unter­stüt­zung durch den Westen der wich­tigste Faktor, um Russ­land zu besiegen.

Die Ukraine braucht drin­gend einen deut­li­chen mili­tä­ri­schen Erfolg. Dieser kann nur durch die Ver­knüp­fung von zwei Fak­to­ren erreicht werden – die mili­tä­ri­sche Unter­stüt­zung aus dem Westen und eine effek­ti­vere Mobi­li­sie­rung im eigenen Land. Die ukrai­ni­sche Armee muss gestärkt werden; das erhöht nicht nur ihr mili­tä­ri­sches Poten­zial, sondern stärkt auch die öffent­li­che Moral und trägt zur innen­po­li­ti­schen Sta­bi­li­tät und gesell­schaft­li­chen Wider­stands­fä­hig­keit bei.

Porträt Trubetskoy

Tadeusz Iwański ist Leiter der Abtei­lung für Belarus, die Ukraine und Moldau am Zentrum für Ost­stu­dien (OSW) in Warschau.

 

 

 

 

 

 

 

 
 

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