Die deutschen Ukraineversteher aus Sicht der Ukraine
Eine aktuelle Studie zeigt die Sicht deutscher Experten auf die Ukraine: Krieg, Krise, Krim und Korruption sind die bestimmenden Themen. Wie wird die Studie aus ukrainischer Perspektive bewertet?
Den GIZ-Bericht „Die Ukraine in den Augen Deutschlands” begann ich mit Schmetterlingen im Bauch zu lesen. Ich stellte mich darauf ein, auf eine ganze Reihe der üblichen Stereotypen und auf die in der öffentlichen Meinung in Deutschland verbreitete Propaganda zu treffen. Das war dann jedoch nicht der Fall.
Der Bericht basiert auf 44 Interviews mit Deutschen, die die Ukraine gut oder ziemlich gut kennen. Und das ist die erste positive Nachricht – dass es über Deutschland verteilt mindestens 44 Personen mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen gibt (Wirtschaft, politische Analyse, Wissenschaft, Medien und andere), die über die Ukraine informiert sind – in mancher Hinsicht besser und tiefgreifender als einige Ukrainer selbst, möchte ich sagen. 44 mag nicht viel scheinen, ich bezweifle allerdings, dass sich 44 „ukrainebewusste” Personen in Italien oder den Niederlanden finden lassen; selbst im Deutschland der 1990er Jahre wäre es schwer gewesen, auf eine solche Zahl zu kommen. Ihre Auffassungen mögen sich von der allgemeinen öffentlichen Meinung unterscheiden und sollten keinesfalls auf die gesamte deutsche Bevölkerung übertragen werden – dass die betreffenden Personen allerdings die öffentliche Meinung in ihrem Land prägen, kommt der Ukraine definitiv zugute.
Das Ukraine-Bild der deutschen Expertencommunity ist ausgewogen
Eine weitere gute Nachricht ist, dass die Meinung dieser Personen über die Ukraine insgesamt ausgewogen, sogar wohlgesonnen und nahezu frei von Mythen und Stereotypen ist. Die interviewten Deutschen bewundern die ukrainische Zivilgesellschaft und die Euromajdan-Revolution (laut einer eindrucksvollen Bekundung eines der Interviewten ist der Euromajdan das größte soziopolitische Ereignis seit dem Fall der Mauer, das er persönlich erlebt hat), betonen die Wiedereingliederung der Binnenflüchtlinge als Erfolgsgeschichte der Ukraine, haben ein Verständnis von der friedlichen Koexistenz von ukrainischer und russischer Sprache in der Ukraine, das bis hin zu nuancierten Beobachtungen von den sich im Laufe der Zeit verändernden Sprachdynamiken reicht, und sehen die Verantwortung Russlands für die Aggression im Osten. Einige Interviewte treffen zwar falsche Aussagen – etwa dass Russen die Einreise in die Ukraine verboten ist –, solche Fehler sind jedoch selten.
Sie äußern eine Besorgnis über den Fortschritt der Reformen, die viele Ukrainer teilen – einige der Interviewten sind der Ukraine dezidiert emotional zugewandt, betonen deren Hingabe an europäische Werte und ihre Bedeutung als „europäisches Projekt”, bringen einen starken Glauben an das wirtschaftliche Potenzial der Ukraine zum Ausdruck und loben sogar ihre Bemühungen zur Korruptionsbekämpfung (laut einem Interviewten „bekämpft kein Land außer Rumänien die Korruption so systematisch wie die Ukraine”). Einige Befragte haben zudem ein differenziertes Verständnis von der Bedrohung, die eine demokratische und prosperierende Ukraine für das derzeitige russische Regime darstellen würde – und verstehen daher auch, warum der Kreml alles daran setzt, die Prosperität der Ukraine zu unterminieren.
Probleme des Ukraine-Bilds im Ausland
Der Bericht zeigt aber auch, dass die typischen Probleme des Ukraine-Bilds im Ausland weiterhin bestehen. Zunächst sind die stärksten Assoziationen mit der Ukraine nach wie vor negativ: Nach 2014 traten die Begriffe Krieg, Krise und Krim neben die breit gefächerten Assoziationen aus dem Spektrum der Korruption. Laut einer bundesweiten Umfrage in Deutschland, die TNS Emnid 2015 im Auftrag des New Europe Center durchgeführt hat, zählen zur Bandbreite der in der Öffentlichkeit vorhandenen Assoziationen auch die Begriffe Russland und Armut; die einzige positive Assoziation war Klitschko. Die Befragten betonen Probleme, die in der Ukraine lange bekannt und dennoch ungelöst sind: fehlendes Interesse der deutschen Medien an der Ukraine abseits von Krisensituationen und das Nichtvorhandensein von Reportern der großen deutschen Medien in Kiew.
Die Ukraine für die Deutschen beständig interessant und attraktiv zu machen, ist nach wie vor eine Aufgabe der ukrainischen Führung.
Darüber hinaus geht das Auftauchen der Ukraine auf der inneren Landkarte der Deutschen, das der Bericht bestätigt – mit der Fußballeuropameisterschaft 2012 beginnend und verstärkt durch die Ereignisse um den Euromaidan und die Aggression Russlands –, weniger auf bewusste Antrengungen des ukrainischen Staates, das eigene Bild im Ausland zu fördern, zurück, sondern macht eher dessen situations- und anlassbezogene Art deutlich, die zu einem Verschwinden des Landes aus dem Gedächtnis führt, sobald es keine krisenbezogenen Anlässe zur Berichterstattung mehr gibt. Die Ukraine für die Deutschen beständig interessant und attraktiv zu machen, ist nach wie vor eine Aufgabe der ukrainischen Führung. Bis diese gelöst ist, stehen die Chancen gut, dass wir noch mehr Titel wie den zu lesen bekommen, unter dem das Handelsblatt kürzlich sein Interview mit dem ukrainischen Präsidenten vor dessen Deutschland-Besuch veröffentlichte: „Poroschenko bringt die wirtschaftlichen Probleme der Ukraine nach Deutschland”.
Beim Thema NATO-Mitgliedschaft gehen die Meinungen auseinander
Außerdem zeigt der Bericht deutlich, wo ukrainische und deutsche Meinungsbildner noch auf unterschiedlichen Seiten stehen – beim Thema NATO-Integration der Ukraine. Obwohl die Bestrebungen der Ukraine auf NATO-Mitgliedschaft Teil der ukrainischen Gesetzgebung sind, liest sich der Bericht, als ob der größte Teil der Interviewten der Meinung ist, dass die Ukraine nicht der NATO beitreten und die NATO die Integration der Ukraine keinesfalls begrüßen sollte.
Die Bekundungen und Schlüsse der Studie helfen nicht nur die Wahrnehmung der Ukraine in Deutschland, sondern auch Deutschland selbst zu verstehen. Ich persönlich fand es überraschend, dass die in der Ukraine sehr verbreitete Metapher von der Brücke zwischen Ost und West nicht auf die Ukraine, sondern … auf Deutschland bezogen wurde. Die deutschen Anstrengungen, den Dialog mit Russland und den Dialog zwischen Russland und der Ukraine aufrechtzuerhalten, werden in der Ukraine nicht mit Verständnis aufgenommen, gibt es dort doch eine eigene Position und Perspektive. Der vorliegende Bericht hilft aber zumindest zu verstehen, woher der deutsche Standpunkt kommt. Genauso überraschend war für mich die Diskussion über die Lieferung deutscher Waffen an die Ukraine – der Bericht zeigt, dass es einige Befürworter dieses Schritts gibt, der der offiziellen deutschen Politik zuwiderläuft.
Insgesamt steckt der Bericht einen Rahmen für die Beziehungen der Ukraine zu Deutschland ab und weist Erfolge, Misserfolge und Kommunikationslücken der Ukraine präzise aus. Zudem zeigt er, wer die Beobachter der Ukraine in Deutschland sind – „Freunde der Ukraine” würden sie im Politikjargon der Ukraine wohl genannt. Ihr Vorhandensein, das noch reflektiert und strategisch zu handhaben wäre, dürfte zu den größten Vorteilen der Ukraine im Rahmen der Beziehungen zu ihrem wichtigsten europäischen Partner zählen. Ein weiteres wichtiges strategisches Ziel ist es, an einer Verlängerung dieser Liste zu arbeiten.
Aus dem Englischen von Sophie Hellgardt.
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