Häuser auf den Gebeinen tausender Ermordeter
Im ukrainischen Poltawa soll ein Areal als Baugelände vermietet werden, auf dem sowohl der sowjetische Geheimdienst als auch Mordkommandos der SS mit Hilfe der Wehrmacht viele tausende Menschen ermordet haben. Stadtrat und Zivilgesellschaft versuchen einen Kompromiss zu finden. Von Christoph Brumme
Von welchem Balkon aus Adolf Hitler geredet hat, das weiß in der ukrainischen Stadt Poltawa fast jeder. Aber wo tausende jüdische Menschen, sowjetische Kriegsgefangene und Zivilisten von den Deutschen ermordet wurden, das weiß nicht einmal der Stadtrat. Dabei ist der Ort des Grauens nur wenige hundert Meter vom Gebäude des Stadtrats entfernt.
Die Abgeordneten der Stadt wollen Beweise sehen, wo genau die Massenmorde stattgefunden haben, sonst wird das Areal als Bauland verpachtet. Die Proteste von 15 gesellschaftlichen Organisationen haben überhaupt erst einen Aufschub dieses Beschlusses bewirkt. Aber Beweise zu erbringen, ist gar nicht so einfach. Denn das Archiv des ukrainischen Sicherheitsdienstes SBU, in dem die entsprechenden Dokumente lagern, ist nicht für jedermann zugänglich. Vor zwei Jahren durften dort einen Tag lang Studenten eine Ausstellung sehen, das galt als Sensation. Den Vertretern von Nichtregierungsorganisationen jedoch, die für einen Dokumentarfilm über den Holocaust in Poltawa Nachforschungen anstellen wollten, wurde der Zugang zum Archiv verweigert.
Poltawa wurde am 19. September 1941 von der Wehrmacht eingenommen, hier wurde das Hauptquartier der deutschen Heeresgruppe Süd eingerichtet, die Stalingrad und das Kaukasusgebiet erobern sollten. Hitler kam zwei Mal nach Poltawa, am 3. Dezember 1941 und am 1. Juni 1942. Schon wenige Tage nach Beginn der Okkupation ermordeten die Deutschen viele jüdische Menschen. Die gleichen Einsatztruppen der „Sicherheitspolizei“, die bei Kiew in der Schlucht von Babi Yar 33.000 jüdische Menschen getötet hatten, mordeten auch in Poltawa. Wehrmacht und SS arbeiteten zusammen, verantwortlicher Oberbefehlshaber war Generalfeldmarschall Walter von Reichenau, der unmittelbare Befehlshaber SS-Standartenführer Paul Blobel. In Poltawa sollen die Deutschen nach neuesten Schätzungen insgesamt 34.000 Menschen ermordet haben. Etwa ein Drittel von ihnen waren Juden, etwa ein Drittel waren sowjetische Kriegsgefangene und alle anderen waren Zivilisten.
Sie nutzten für ihre Morde ein Gelände, auf dem in den Jahren zuvor schon der sowjetische Geheimdienst viele tausende angebliche „Feinde des Volkes“ gefoltert und hingerichtet hatte. Damals stand die sogenannte Rote Kaserne am Stadtrand, doch inzwischen ist die Stadt gewachsen, der größte Markt ist jetzt nur wenige Gehminuten entfernt. Das Gelände ist heute teilweise ein Park, teilweise aber auch freier Acker. Menschen spazieren dort, braten Schaschlik, feiern Partys. Es gibt keine offiziellen Gräber, keine Markierungen, wo der Bereich der Tötungen war. Lediglich zwei Gedenksteine erinnern an die Opfer, jedoch nur an die Opfer der Deutschen.
Auf dem einen Stein lautet die Inschrift „Die Erinnerung an sie ist in unserem Herzen – den getöteten sowjetischen Menschen 1941 – 1943“. Auf dem zweiten Gedenkstein, errichtet aufgrund einer Privatinitiative noch zu Zeiten der Sowjetunion, ist auf Hebräisch und Ukrainisch zu lesen, „Nicht alle Opfer des Nazismus waren Juden. Aber alle Juden waren Opfer des Nazismus.“ Und in drei ukrainischen Zeilen wird das jüdische Volk dazu aufgerufen, „die unsterbliche Kraft des Geistes“ zu loben. Außerdem stehen am Rande des Areals auf einer alten, oft mit Graffiti beschmierten Tafel, noch allgemeine Hinweise, dass an diesem Ort Menschen ermordet wurden, „die leben wollten“.
Unter den sowjetischen Machthabern galten sowohl die massenhaften Tötungen des eigenen Geheimdienstes als auch die Massenmorde der Deutschen als Staatsgeheimnisse. Zu ähnlich waren sich die deutsche und die sowjetische Mordmaschinerie. Wäre an die Verbrechen der Deutschen erinnert worden, hätte man vielleicht auch nach den sowjetischen unter Stalin gefragt. Sogar noch während der antisemitischen Kampagnen zwischen den Jahren 1961 und 1964 gegen den „Diebstahl sozialistischen Eigentums“ wurden mehrere Juden in Poltawa festgenommen und zu langen Haftstrafen und sogar zu Todesstrafen verurteilt.
Jetzt haben die protestierenden Aktivisten und die Vertreter der jüdischen Gemeinde zwei Monate Zeit, Dokumente über die genauen Orte vorzulegen, an denen sich die Gebeine der Ermordeten befinden. Die bisher gezeigten Dokumente überzeugen die Abgeordneten nicht, unter anderem eine Luftaufnahme von US-amerikanischen Fliegern, auf welcher die Konzentrationslager der Deutschen zu sehen sind. Wenn die Beweise nicht ausreichen, wird das Land wie geplant verpachtet und es werden Wohnhäuser auf ihm gebaut. Die zuständige Kommission des Stadtrates versichert, dass die Bauarbeiten unterbrochen werden, sollten sterbliche Überreste gefunden werden. Dann sollen die Gebeine umgebettet und dann soll weiter gebaut werden. Jedoch erklären die Vertreter der jüdischen Gemeinde, dass die Überreste von Menschen nach ihrem Glauben nicht an einen anderen Ort gebracht werden können. Ihrer Ansicht nach dürften die Stadtbehörden ohne Berücksichtigung der Begräbnisstätten keine Unterlagen für die Entwicklung dieses Territoriums erstellen, sonst begingen sie ein Verbrechen. Sie berufen sich auf das Dekret des ukrainischen Ministerkabinetts Nr. 1867, demzufolge Bauarbeiten auf den Territorien der Opfer von Kriegs- und Repressionshandlungen von außerparlamentarischen Kommissionen entschieden werden müssen, also im Dialog mit den Bürgern und spezialisierten gesellschaftlichen Organisationen.
Den Zusicherungen des Stadtrats, die Bauarbeiten bei Bedarf zu unterbrechen, ist ohnehin schwer zu glauben. Denn erst am 29. März wurden Strafverfahren wegen Machtmissbrauch gegen die für Baugenehmigungen zuständigen Ausschüsse eröffnet. Beim Bau neuer Häuser muss Infrastruktur-Hilfe an die Stadt gezahlt werden, bis zu vier Prozent des Bauwerts. Die Abgeordneten legten bei etlichen Neubauten der letzten Zeit nur 0,05 Prozent fest. Dazu gehören Häuser des ehemaligen Bürgermeisters, der im Herbst letzten Jahres abgewählt wurde. Doch auch in der neuen Koalition ist einer der führenden Politiker ein wichtiger Bauherr. Er ist Vorsitzender des Block Poroschenko und trägt im Volksmund er den Spitznamen „Fünfzig Prozent“, weil er in seiner Amtszeit als Bürgermeister bei neu genehmigten Geschäften angeblich immer fünfzig Prozent von den Gewinnen haben wollte.
„Wem gefällt die Deponie?“, fragt er während der öffentlichen Sitzung des Stadtrates. „Die Aktivisten konstruieren eine Situation, als ob wir etwas Illegales tun wollen.“ Seinen Angaben zufolge wurden schon im Sommer 2006 Aushubarbeiten durchgeführt und es wurden keine sterblichen Überreste gefunden. Aber bereits vor zwei Jahren waren nach dem Frost des Winters bei Kanalisationsarbeiten menschliche Knochen an die Erdoberfläche gekommen, ohne dass die Bauarbeiten deshalb gestoppt wurden. Die städtische Behörde zum Schutz und zur Erforschung archäologischer Denkmäler erklärte damals, sie sei dafür nicht zuständig, rief aber dazu auf, die Suchaktivitäten fortzusetzen.
Der Stadtrat beschloss nun, eine Arbeitsgruppe einzurichten, die versuchen soll, eine Lösung zu finden. Doch wie diese Lösung aussehen soll, ist völlig unklar. Die Bürger fordern, die Grabstätten zu bestimmen und ein würdiges Denkmal zu errichten wie etwa in Baby Yar bei Kiew. Die Vertreterin der jüdischen Gemeinde, Sasha Supra-Zhenko bot an, alle Begräbnisstätten zu identifizieren, den alten Friedhof, den Ort der Erschießungen von Zivilisten durch den sowjetischen Geheimdienst und die zwei Konzentrationslager, in denen die Deutschen Besatzer Kriegsgefangene töteten. Man werde mit der Akademie der Wissenschaften der Ukraine und mit dem Amerikanisch-Jüdischen Komitee für Juden der ehemaligen Sowjetunion zusammenarbeiten, um das weitere Vorgehen zu beraten.
Die Stadtverwaltung hingegen erklärt, die Vorschläge der Demonstranten würden nur zu jahrelangen Verzögerungen führen. Es sei weder zeitlich noch finanziell realistisch, nach den sterblichen Überresten von Menschen auf dem gesamten Territorium zu suchen. Für die Untersuchung von einem Hektar Land wird ein Jahr benötigt, und es müssten mindestens zehn, eigentlich sogar 56 Hektar erkundet werden. Die Erkundung von einem Hektar kostet zwei bis drei Millionen Griwna, umgerechnet 67.000 – 100.000 Euro.
Tatsächlich teilen nicht alle Menschen aus Poltawa die Einwände der Aktivisten gegen die Baupläne, zumal nur eine Minderheit von den Verbrechen der Nazis und des sowjetischen Geheimdienstes etwas gehört hat, nur vier von zehn Jugendlichen beispielsweise, wie eine Umfrage ergab.
„Dieses Thema ist so traurig, dabei ist die Gegenwart doch schon traurig genug. Warum soll man Geld ausgeben für ein Denkmal, wenn die Rentner und Invaliden nicht genug Geld haben, um lebensnotwendige Medikamente zu kaufen?“, fragt ein Kommentator im Online-Magazin Poltawschina.
Der Aktivist Wiktor Trofimenko von der NGO „Save Poltawa“ hofft, dass mit dem neuen Präsidenten Wolodymyr Selenskij sich die Chancen verbessern, zumindest umfassende Aufklärung betreiben und die Archive des Sicherheitsdienstes SBU für alle Interessierten öffnen zu können. Weil Selenskij selbst Jude sei, habe er vielleicht mehr Verständnis für dieses Anliegen. Und die Verbrechen der Vergangenheit sollten dringend Lehrstoff in den Schulen und Universitäten werden.
Denn das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen, wie der amerikanische Schriftsteller William Faulkner in seinem Roman „Requiem für eine Nonne“ schrieb. Bevor am 23. Mai Archäologen aus Lwiw das Gelände der Roten Kaserne untersuchen und die genauen Orte der Massengräber bestimmen konnten, fanden Spaziergänger dort in dieser Woche (am 15. Mai) etwa 50 menschliche Knochen mit Spuren von Schusswunden. Laut dem Forensiker sind diese Knochen über 70 Jahre alt. Sie werden nun kriminologisch untersucht, erklärte der Inspektor der Untersuchungsabteilung des Kiewer Gebiets.
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