Putins Meis­ter­er­zäh­lung – Geschichts­po­li­tik als Instru­ment der Herrschaft

Russ­land ver­klärt seine grau­same Geschichte und instru­men­ta­li­siert Geschichts­po­li­tik. Ost­eu­ro­päi­sche Nach­barn werden als Kol­la­bo­ra­teure der Nazis denun­ziert. Post-moderne Inno­va­tio­nen erset­zen die sowje­ti­sche Tradition.

Die Sowjet­union war eine geschichts­po­li­ti­sche Groß­macht. Als gläu­bige Mar­xis­ten war für die Bol­sche­wiki die Geschichte der Klas­sen­kämpfe und die Ver­or­tung der eigenen Partei in der Heils­ge­schichte des Pro­le­ta­ri­ats von her­aus­ra­gen­der Bedeu­tung. Auch als das Gewicht des Mar­xis­mus abnahm, zog das Regime einen großen Teil seiner Legi­ti­ma­tion aus der eigenen Geschichte. Kurz gesagt: in der kom­mu­nis­ti­schen Dik­ta­tur war die Geschichts­wis­sen­schaft stets Legi­ti­ma­ti­ons­wis­sen­schaft. Die großen Meis­ter­er­zäh­lun­gen wurden seit Stalins „Kurzem Lehr­gang der Geschichte der KPdSU“ von den Macht­ha­bern geschrie­ben und über­wacht. Bis hin­un­ter in die Pro­vin­zen des Impe­ri­ums wurde das weite his­to­ri­sche Feld eng­ma­schig kon­trol­liert. Die Bewirt­schaf­tung des gesam­ten öffent­li­chen Raumes ver­folgte das Ziel, eine ein­heit­li­che Reprä­sen­ta­tion der eigenen Geschichte zu gewähr­leis­ten. So war der sowje­ti­sche Macht­be­reich auch eine gigan­ti­sche his­to­ri­sche Fassade, die vor einem Abgrund poli­ti­scher Ver­bre­chen errich­tet wurde. 

Portrait von Jan Claas Behrends

Jan Claas Beh­rends ist Pro­fes­sor an der Europa-Uni­ver­si­tät Via­drina und His­to­ri­ker am Zentrum für Zeit­his­to­ri­sche For­schung in Potsdam.

Die Wahr­heit erschüt­tert die Legi­ti­ma­tion der Macht

Über Jahr­zehnte hatte das Wissen um die sowje­ti­sche Geschichte jen­seits der par­tei­staat­li­chen Meis­ter­er­zäh­lun­gen den Status eines Staats­ge­heim­nis­ses. Nur wenige Ein­ge­weihte, ver­bor­gen im Arkanum der Macht, hatten Zugang zu den Archi­ven. Sie hüteten einen Wis­sens­schatz, der niemals öffent­lich werden durfte. Als während der Pere­stro­jka die Türen zu den Archi­ven geöff­net wurden, erschüt­terte jede Ent­hül­lung der his­to­ri­schen Wahr­heit umge­hend die Legi­ti­ma­tion des Regimes. Zum Ende der sowje­ti­schen Herr­schaft setzte sich die Erkennt­nis durch, dass die Okto­ber­re­vo­lu­tion nicht den Beginn eines Tri­umph­zu­ges mar­kierte, sondern den Aus­gangs­punkt zu einer bei­spiel­lo­sen Serie poli­ti­scher Ver­bre­chen, die Mil­lio­nen das Leben kostete. Deshalb betrach­tet man die sowje­ti­sche Geschichte außer­halb Russ­lands mitt­ler­weile als Zeit der „Okku­pa­tion“ – man ist dort nicht mehr bereit, die Ver­ant­wor­tung für die kom­mu­nis­ti­sche Herr­schaft zu teilen. 

Russ­land hat sich für einen anderen Umgang mit der eigenen Ver­gan­gen­heit ent­schlos­sen. Bereits zu Beginn der 1990er Jahre wurde deut­lich, dass die Zeit der Auf­ar­bei­tung sowje­ti­scher Ver­bre­chen zu Ende ging. Schnell erlahmte das Inter­esse an der Aus­ein­an­der­set­zung mit einer toxi­schen Ver­gan­gen­heit. Kaum jemand wollte erfah­ren, wie der Fleisch­wolf genau funk­tio­nierte, durch den die rus­si­sche Gesell­schaft für Jahr­zehnte gedreht wurde. Die Ver­stri­ckun­gen waren komplex. In der­sel­ben Familie konnte es Täter und Opfer geben, die eigene Bio­gra­phie konnte zugleich die eines Täters und Opfers sein. Deshalb fokus­sierte sich die staat­li­che Geschichts­po­li­tik bereits unter Boris Jelzin auf das eine Ereig­nis, im dem die Rollen klar ver­teilt schie­nen: der Zweite Welt­krieg oder in sowje­ti­scher Diktion, der „Große Vater­län­di­sche Krieg“. Hier gab es Inva­so­ren und Befreier, Ver­tei­di­ger der Heimat kämpf­ten gegen ruch­lose Kriegs­ver­bre­cher. Außer­dem ver­schwand hinter dem Hero­is­mus der Terror der drei­ßi­ger Jahre, durch den die sowje­ti­sche Gesell­schaft ato­mi­siert worden war. In unge­wis­sen Zeiten stif­tete die Erin­ne­rung an Krieg und Sieg Gemeinschaft.

Sowje­ti­sche Kriegs­ver­bre­chen werden ausgeblendet

Im ersten Jahr­zehnt seiner Herr­schaft folgte Wla­di­mir Putin den geschichts­po­li­ti­schen Wei­chen­stel­lun­gen, die unter seinem Vor­gän­ger Jelzin getrof­fen wurden. Auch sein Regime setzte auf den „Großen Vater­län­di­schen Krieg“ als natio­nal-impe­ria­len Erin­ne­rungs­ort. Unter Putin avan­cier­ten die Feiern des Sieges von 1945 zu einer der Säulen des Regimes. Für die Erin­ne­rung an den Hitler-Stalin-Pakt, für sowje­ti­sche Kriegs­ver­bre­chen oder die gewalt­same Sowje­ti­sie­rung Ost­eu­ro­pas war im offi­zi­el­len Geschichts­bild kein Platz. Die Besin­nung auf eine große mili­tä­ri­sche Ver­gan­gen­heit beschränkte sich jedoch nicht auf den Welt­krieg: in einer neuen Meis­ter­er­zäh­lung betonte die Geschichts­po­li­tik die Stärke und impe­riale Größe Russ­lands. Über die Brüche und Revo­lu­tio­nen hinweg ent­stand das Bild eines Staates, der sämt­li­che Bewäh­rungs­pro­ben über­stand, weil in ihm Macht mehr galt als Recht. Die Russen sollten stolz sein auf ein Reich, das ihnen über Jahr­hun­derte Frei­heit und Würde ver­wei­gerte, aber Ruhm und Ehre ver­sprach. Damit grenzte sich das Regime auch von west­li­chen Nar­ra­ti­ven ab, in denen die Erin­ne­rung an Welt­krieg und Holo­caust als Ver­pflich­tung zum Einsatz für offene Gesell­schaf­ten und Men­schen­rechte begrif­fen wird. Schließ­lich hatte Putins Sie­ges­kult eine weitere Kon­se­quenz: Er ging einher mit der par­ti­el­len Reha­bi­li­tie­rung Joseph Stalins, dessen Ter­ror­herr­schaft erneut durch den Sieg über Hitler legi­ti­miert wurde.

Russ­lands Heils­ge­schichte: Seid dankbar, dass Ihr Opfer bringen dürft! 

Die Geschichts­po­li­tik Putins hatte zunächst primär innen­po­li­ti­sche Bedeu­tung. Die Legi­ti­mi­tät der rus­si­schen Groß­macht sollte wie­der­her­ge­stellt werden. Dabei galt es, die Son­der­stel­lung Russ­lands in Europa und der Welt her­aus­zu­stel­len. Im Rück­griff auf his­to­ri­sche Größe sollte nicht nur Selbst­be­wusst­sein, sondern natio­na­les Son­der­be­wusst­sein gestif­tet und gepflegt werden. Wie die Sowjet­union oder das Zaren­reich war auch Russ­land nicht nur ein wei­te­rer euro­päi­scher Staat, sondern ein Impe­rium ersten Ranges, das seine eigenen Bürger schüt­zen und seine Nach­barn von der Tyran­nei erlösen konnte. Das neue Dogma lautete: Rus­si­sche Geschichte sei zwar voller Tragik, aber letzt­lich nicht nur eine Helden‑, sondern eine Heils­ge­schichte. Russ­lands Bevöl­ke­rung sollte stolz und dankbar sein, selbst wenn sie immer wieder Opfer bringen musste. Um diese Meis­ter­er­zäh­lung zu ver­brei­ten, brauchte das Regime keine Geschichts­wis­sen­schaft. Im Unter­schied zur Sowjet­union, die stets darauf beharrte, dass sie eine wis­sen­schaft­li­che Alter­na­tive zur west­li­chen Sicht bot, benö­tigt die Regie­rung Putins keine His­to­ri­ker. Es genügen die kon­trol­lier­ten Mas­sen­me­dien, die Schulen und die großen Insze­nie­run­gen an den natio­na­len Fei­er­ta­gen. Schließ­lich geht es nicht um Fakten, auch nicht um Inter­pre­ta­tio­nen, sondern um Emo­tio­nen und um Loya­li­tät. Wer in Russ­land das offi­zi­elle Geschichts­bild ablehnt, steht außer­halb der Nation.

Geschichts­po­li­tik im Dienst der rus­si­schen Diplomatie

Seit der Anne­xion der Krim und dem anschlie­ßen­den Ein­marsch in die Ukraine im Früh­jahr 2014 hat eine neue Epoche der Herr­schaft Putins begon­nen. Da die Ver­tei­lung mate­ri­el­ler Res­sour­cen an öko­no­mi­sche Grenzen stieß, legi­ti­mie­ren sich sein Regime nun primär durch außen­po­li­ti­sche Kon­flikte. Die Aggres­sion gegen die Ukraine wurde von Beginn an auch geschichts­po­li­tisch legi­ti­miert: die rus­si­schen Medien stell­ten sie in die Tra­di­tion des „anti­fa­schis­ti­schen“ Kampfes von 1941–45 und bezeich­ne­ten ihre ukrai­ni­schen Gegner als „faschis­ti­sche Junta“. Damit griff Moskau auf Begriffe aus seinem geschichts­po­li­ti­schen Arsenal zurück, um den Angriff auf ein fried­li­ches Nach­bar­land zu recht­fer­ti­gen. Spä­tes­tens 2014 wurde die Geschichts­po­li­tik damit in den Dienst der rus­si­schen Diplo­ma­tie gestellt. Neben die innen­po­li­ti­sche Dimen­sion trat nun die Recht­fer­ti­gung außen­po­li­ti­scher Aggres­sion durch his­to­ri­sche Narrative.

Wie Stalin ent­schei­det auch Putin über die Wahrheit

Worin unter­schei­det sich die Gegen­wart von der sowje­ti­schen Epoche? Inno­va­tiv sind weniger die Erzäh­lun­gen des Kreml, die oft ältere sowje­ti­sche Topoi kom­bi­nie­ren und Tabus reak­ti­vie­ren, sondern die ein­ge­setz­ten Mittel. Von den Mas­sen­me­dien wie RT, über die sozia­len Netz­werke mit ihren Troll­fa­bri­ken, bis hin zu den Wür­den­trä­gern der rus­si­schen Diplo­ma­tie wird alles in den Dienst des Staates gestellt. Es gibt eine breite Front realer und vir­tu­el­ler Geschichts­ar­bei­ter, die von anony­men Hackern bis zum Prä­si­den­ten reicht. Dies wirft zugleich die Frage auf, wie die Adres­sa­ten auf diese mul­ti­plen Angriffe reagie­ren sollen.

Putins per­sön­li­cher Einsatz für die rus­si­sche Geschichts­po­li­tik ver­deut­licht die zen­trale Bedeu­tung dieser Nar­ra­tive für seine Herr­schaft. Er insze­niert sich als Erbe der hel­den­haf­ten Kriegs­ge­nera­tion. Der rus­si­sche Prä­si­dent begreift sich als starker Herr­scher, der in der auto­kra­ti­schen Tra­di­tion seines Landes ver­wur­zelt ist. Letzt­lich agiert Putin in der Geschichts­po­li­tik ähnlich wie in anderen Poli­tik­fel­dern: auto­ri­tär, aggres­siv, selbst­ge­recht und ohne Respekt für eta­blierte Regeln. Putin betont die rus­si­sche Sou­ve­rä­ni­tät über die eigene Geschichte und auf­grund seiner Macht­fülle bedeu­tet dies letzten Endes, dass er per­sön­lich ent­schei­det, was richtig und was falsch ist. Seit Stalins „Kurzem Lehr­gang“ hat kein rus­si­scher Herr­scher mehr diese Deu­tungs­ho­heit für sich beansprucht.

Wich­ti­ger als Auf­klä­rung: Ver­wir­rung stiften

Im Russ­land der Gegen­wart gibt es wei­ter­hin His­to­ri­ke­rin­nen und His­to­ri­ker, die her­vor­ra­gend arbei­ten. Sie dürfen, im Unter­schied zur sowje­ti­schen Epoche, sogar weit­ge­hend unbe­hel­ligt ihre For­schun­gen ver­öf­fent­li­chen und ins Ausland reisen. Doch dies ist kein Aus­druck der Frei­heit der Wis­sen­schaft, sondern ihrer erfolg­rei­chen Mar­gi­na­li­sie­rung. Es ist ein aus­sichts­lo­ses Unter­fan­gen gegen die mediale Maschi­ne­rie des Levia­thans anzu­schrei­ben. Selbst­ver­ständ­lich weiß der Kreml, dass seine euro­päi­schen Nach­barn die rus­si­schen Nar­ra­tive über den Welt- oder Ukrai­ne­krieg nicht über­neh­men werden. Das ist ver­mut­lich auch gar nicht das Ziel. Die Auf­ga­ben der pro­fes­sio­nel­len Geschichts­ar­bei­ter des Kreml sind: Ver­wir­rung zu stiften, Empö­rung aus­zu­lö­sen, eta­blierte Gewiss­hei­ten immer wieder zu erschüt­tern, den common sense zu unter­mi­nie­ren und dies so lange zu tun, bis wir des Wider­spruchs müde werden, die Zweifel sich ver­stär­ken und die west­li­chen Medien schluss­end­lich die rus­si­sche Meis­ter­er­zäh­lung als eine mög­li­che Vari­ante his­to­ri­schen Denkens über den Zweiten Welt­krieg oder die Ukraine akzep­tie­ren. Im Zeit­al­ter der Diver­si­tät for­ciert Russ­land ein Nar­ra­tiv, das die Iden­ti­tät seines Staates, die Wahr­heit seiner herr­schen­den Gruppe stützt. Und der Kreml wird behaup­ten, dass er damit nur das tut, was seine Gegner auch tun.

Son­der­sta­tus für rus­si­sche Opfer

In den Monaten vor dem 75. Jah­res­tag des Sieges am 9. Mai wird die geschichts­po­li­ti­sche Offen­sive Moskaus vor­aus­sicht­lich wei­ter­ge­hen. Einen Vor­ge­schmack auf das, was kommen mag, lie­ferte die Gedenk­ver­an­stal­tung zur Befrei­ung von Ausch­witz in Yad Vashem. Dort nannte Wla­di­mir Putin den Holo­caust in einem Atemzug mit der Blo­ckade von Lenin­grad. Während er seine ost­eu­ro­päi­schen Nach­barn als Kol­la­bo­ra­teure der Nazis denun­ziert und von ihnen zugleich Dank­bar­keit für die „Befrei­ung vom Faschis­mus“ fordert, rekla­mierte der rus­si­sche Prä­si­dent für die rus­si­schen Opfer einen äqui­va­len­ten Platz im inter­na­tio­na­len Geden­ken wie er den Toten der Shoah zusteht. Putins Auf­tritt in Yad Vashem war ein wei­te­rer Höhe­punkt seiner geschichts­po­li­ti­schen Offen­sive und kor­re­spon­diert mit anderen Ver­su­chen Moskaus, seine his­to­ri­sche Son­der­rolle als euro­päi­sche Groß­macht zu legi­ti­mie­ren. Offen­kun­dig fühlt er sich nicht mehr an den Mini­mal­kon­sens einer euro­päi­schen Geschichts­kul­tur – Frieden, Ver­söh­nung, Sicher­heit auch für kleine Natio­nen – gebun­den. Am Ende geht es dem Kreml nicht nur darum, die Teilung Ost­eu­ro­pas 1939 oder die Ordnung von Jalta 1945 zu recht­fer­ti­gen, sondern zu zeigen, dass es Russ­lands his­to­ri­sches Recht ist, eine Ein­fluss­sphäre in Ost­eu­ropa zu bean­spru­chen, in der fremde Mächte wie die USA oder die EU nicht inter­ve­nie­ren dürfen. Die „kleinen grünen Männer“ auf der Krim waren eine Waffe im Kampf um diese Sphäre, die Geschichts­po­li­tik dieser Tage ist eine andere.

In seinen zahl­rei­chen Facet­ten – die Geschichts­po­li­tik ist nur ein Aspekt – bleibt der aggres­sive Revi­sio­nis­mus des Kreml die größte diplo­ma­ti­sche Her­aus­for­de­rung, mit der die Euro­päi­sche Union kon­fron­tiert ist.

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