Auf der Suche nach neuen Definitionen

© Rupert Parker

Die Ukraine ist ein Land auf der Suche nach Iden­ti­tät – und nach Frei­heit. Ist die Frei­heit sogar daran, zur neuen Reli­gion des Landes zu werden? Von Juri Andruchowytsch

Eine por­tu­gie­si­sche Publi­zis­tin, ein rumä­ni­scher Dichter, ein öster­rei­chi­scher Schrift­stel­ler mit „anti­ka­pi­ta­lis­ti­scher Haltung“. Und ich, einer aus der Ukraine. Warum aus­ge­rech­net diese vier? Warum aus­ge­rech­net in dieser Zusam­men­set­zung und nicht in einer anderen? Als ob es um eine Qua­li­fi­ka­ti­ons­gruppe bei der Fußball-Euro­pa­meis­ter­schaft nach der Aus­lo­sung ginge: Por­tu­gal, Rumä­nien, Öster­reich, Ukraine. Klar ist, dass Por­tu­gal den ersten Platz belegt, der Kampf um den zweiten Platz findet zwi­schen den drei anderen Teams statt.

Doch handelt es sich hier nicht um Fuß­ball­teams, sondern um vier ein­zelne Autoren. Und es ist keine Fußball-Euro­pa­meis­ter­schaft, sondern eine inter­na­tio­nale Buch­messe. Die Teil­neh­mer für the­ma­ti­sche Semi­nare werden von den Ver­an­stal­tern aus Schwe­den nicht aus­ge­lost, sondern aus­ge­sucht, nach Kri­te­rien und Über­le­gun­gen, die sich mir nicht erschlie­ßen. So fällt die Ent­schei­dung, dass ich als Ver­tre­ter der Ukraine, eine por­tu­gie­si­sche Publi­zis­tin, ein rumä­ni­scher Dichter und ein öster­rei­chi­scher Linker zusam­men ein 45-minü­ti­ges Seminar bestrei­ten sollen. Das Thema des Semi­nars lautet: Neue Defi­ni­tio­nen des Begriffs Freiheit.

Um über neue Defi­ni­tio­nen zu spre­chen, muss man wissen, wie die alten lauten 

Wider­wil­lig suche ich wochen- gar mona­te­lang nach meinem Sujet. Worüber kann es handeln? Um über die neuen Defi­ni­tio­nen zu spre­chen, muss man wissen, wie die alten lauten. Es fällt mir nichts ein außer dem alt­tes­ta­ment­li­chen Frei­heit als bewusste Not­wen­dig­keit und dem Aus­druck Sprung in das Reich der Frei­heit. Unver­gess­lich ist auch: Frei­heit ist frei, sich zu befreien. Auch mein eigenes Zitat kommt mir in den Sinn: Die Frei­heit scheint eine Illu­sion zu sein.

Frei­heit ist unsere Religion

Und dann erlebe ich wenige Tage vor der Abfahrt zur Buch­messe einen Geis­tes­blitz. Die Idee kommt zu mir auf dem Kyjiwer Maidan Neza­lez­nosti [Platz der Unab­hän­gig­keit], an einem Ort, der dafür eigent­lich prä­de­sti­niert ist. Am späten Abend sind wir dort auf der Suche nach einem Abend­essen. Wir haben gerade die Aeneis im Natio­na­len Kunst­mu­seum in der Hru­schew­ski­straße gespielt. Das Museum liegt ein Stück bergauf, hinter dem Denkmal für Loba­now­skyj und hinter den Rücken der Spe­zi­al­ein­heit Berkut, die Molotow-Cock­tails haben sie dort nicht mehr erreicht.

 

© Chris­tiaan Triebert

Die Hru­schew­ski­straße während der Maidan-Proteste.

Wir stehen auf dem Maidan, ich schaue auf das ehe­ma­lige Gewerk­schafts­haus, das Gebäude ist ver­hüllt, viel­leicht ist das ein Stoff oder ein anderes Mate­rial. Es scheint, ein neuer Christo war hier am Werk. Auf der Hülle lese ich einen rie­si­gen Slogan in Schreib­schrift: FREEDOM IS OUR RELIGION.

Das ist es doch, denke ich. Eine neue Defi­ni­tion habe ich schon.

Frei­heit ist unsere Reli­gion. Mit diesem Gepäck kann man sich schon auf den Weg machen, auch wenn man nach Schwe­den fährt, ein durch und durch athe­is­ti­sches Land. Danke für den recht­zei­ti­gen Einfall, Kyjiw.

Danach wird all­mäh­lich der ganze Kontext sicht­bar. Das Gewerk­schafts­haus als head­quar­ters of pro­tes­ters. Als Orga­ni­sa­ti­ons­zen­trum. Als ein impro­vi­sier­tes Feld­spi­tal. Als eine Sam­mel­stelle für Medi­ka­mente, Lebens­mit­tel und warme Klei­dung. Unzäh­lige andere Funk­tio­nen, die ver­bor­gen bleiben. Von der Seite der Macht: stän­dige Ver­su­che es ein­zu­neh­men. Zum Bei­spiel in der Nacht vom 10. auf den 11. Dezem­ber, als man sie auf­ge­hal­ten und gestoppt hatte. Oder in der Nacht vom 18. auf den 19. Februar, als sie sich auf das Dach ein­ge­schli­chen haben und es ange­zün­det hatten.

Teufel auch, dort sind doch Men­schen umge­kom­men! Wir ver­ges­sen all­mäh­lich, dass es das gab, dass dort die Men­schen ver­brannt sind. Die ganze Welt weiss über die Men­schen, die in einem anderen Gewerk­schafts­haus umge­kom­men sind, in Odesa am 2. Mai 2014. Von Per­so­nen, die in Kyjiw umge­kom­men sind, sagt man, sie wären „ver­schol­len“. Unauf­ge­klärte Opfer­fälle im Kampf für die Frei­heit. Weil die Frei­heit unsere Reli­gion ist. FREEDOM IS OUR RELIGION.

© Andrej Makucha

Das Haus der Gewerk­schaf­ten am Maidan diente den Demons­tran­ten als Haupt­quar­tier, bis es am 9. Februar 2014, mut­maß­lich von der Polizei, in Brand gesteckt wurde und ausbrannte. 

Wie ver­tra­gen sich Frei­heit und Religion?

Doch die Frage ist doch (wohl eine phi­lo­so­phi­sche Frage): welche Reli­gion sich wie und in welchem Ausmaß mit Frei­heit ver­trägt? Bis wohin wider­spre­chen sich Reli­gion (jede belie­bige) und Frei­heit nicht?

Mir gefiel der Slogan, der in rie­sen­gro­ßen Lettern auf der Hülle des Memo­ri­al­ge­bäu­des stand auch deshalb, weil er in unserem ziem­lich reli­giö­sen (auch wenn das eine ober­fläch­li­che Reli­gio­si­tät ist) Land wenn nicht gegen den Strom, so doch auf jeden Fall gegen den Strich ist. Er klingt mutig-frech, fast athe­is­tisch, auf jeden Fall häre­tisch. Achten Sie darauf: nicht Die Reli­gion ist unsere Frei­heit. Und nicht das Chris­ten­tum ist unsere Reli­gion. Sondern die Frei­heit ist unsere Reli­gion. Das heisst, wenn die Frei­heit absolut ist (wie kann es anders sein, wenn die Buch­sta­ben so groß sind), dann ist damit auch die Frei­heit von der Reli­gion gemeint. Das heisst, die Frei­heit ist bei uns tat­säch­lich ein Ersatz für Reli­gion. Unge­fähr so.

Denken führt als Minimum zum Pro­tes­tan­tis­mus. Und als Maximum – zum Atheismus 

In diesem Zusam­men­hang kam mir der Gedanke, dass diese ober­fläch­li­che Reli­gio­si­tät (wie bei uns) para­do­xer­weise auch die tiefste Reli­gio­si­tät schlecht­hin zu sein scheint. Wenn ein reli­giö­ser Mensch in die Tiefe gehen möchte, wenn er nach eigenen Ant­wor­ten sucht, da beginnt er selbst­stän­dig zu denken. Und dieses Denken kann die Grund­la­gen der Reli­gio­si­tät, auf jeden Fall unserer byzan­ti­ni­schen, infrage stellen. Dieses Denken führt als Minimum zum Pro­tes­tan­tis­mus. Und als Maximum – zum Athe­is­mus. Wie in Schwe­den, zum Beispiel.

Moder­ni­tät als neue Religion

Ich erin­nere mich an ein Treffen mit schwe­di­schen Jour­na­lis­ten vor unge­fähr sieben Jahren in Lwiw. Sie haben mich zur Kir­chen­si­tua­tion befragt. Ich bin kein Experte, so habe ich nur all­ge­meine Sachen erzählt. Am Ende beschloss ich, zu einer milden Revan­che zu greifen und fragte die Gäste, was sie, die Schwe­den, denn nun für ihre Reli­gion halten. Ehrlich gesagt, erwar­tete ich als Antwort zum Bei­spiel Umwelt­schutz zu hören. Doch sind sie nach kurzem Über­le­gen und Blick­kon­takt zu einer brei­te­ren gemein­sa­men Antwort gekom­men: die Gegen­wart. Im Sinne der Moder­ni­tät, weil sie sagten moder­nity. Moder­nity ist their religion.

Heute scheint mir, dass daraus ein gutes ukrai­nisch-euro­päi­sches Projekt von fusio­nier­ten Reli­gio­nen ent­ste­hen könnte. Das heisst, eine Kreu­zung ihrer Moder­ni­tät mit unserer Frei­heit. Ist das über­haupt möglich? Und wenn ja, wie werden sie sich vertragen?


Aus dem Ukrai­ni­schen von Sofiya Onufriv.

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