Auf der Suche nach neuen Definitionen
Die Ukraine ist ein Land auf der Suche nach Identität – und nach Freiheit. Ist die Freiheit sogar daran, zur neuen Religion des Landes zu werden? Von Juri Andruchowytsch
Eine portugiesische Publizistin, ein rumänischer Dichter, ein österreichischer Schriftsteller mit „antikapitalistischer Haltung“. Und ich, einer aus der Ukraine. Warum ausgerechnet diese vier? Warum ausgerechnet in dieser Zusammensetzung und nicht in einer anderen? Als ob es um eine Qualifikationsgruppe bei der Fußball-Europameisterschaft nach der Auslosung ginge: Portugal, Rumänien, Österreich, Ukraine. Klar ist, dass Portugal den ersten Platz belegt, der Kampf um den zweiten Platz findet zwischen den drei anderen Teams statt.
Doch handelt es sich hier nicht um Fußballteams, sondern um vier einzelne Autoren. Und es ist keine Fußball-Europameisterschaft, sondern eine internationale Buchmesse. Die Teilnehmer für thematische Seminare werden von den Veranstaltern aus Schweden nicht ausgelost, sondern ausgesucht, nach Kriterien und Überlegungen, die sich mir nicht erschließen. So fällt die Entscheidung, dass ich als Vertreter der Ukraine, eine portugiesische Publizistin, ein rumänischer Dichter und ein österreichischer Linker zusammen ein 45-minütiges Seminar bestreiten sollen. Das Thema des Seminars lautet: Neue Definitionen des Begriffs Freiheit.
Um über neue Definitionen zu sprechen, muss man wissen, wie die alten lauten
Widerwillig suche ich wochen- gar monatelang nach meinem Sujet. Worüber kann es handeln? Um über die neuen Definitionen zu sprechen, muss man wissen, wie die alten lauten. Es fällt mir nichts ein außer dem alttestamentlichen Freiheit als bewusste Notwendigkeit und dem Ausdruck Sprung in das Reich der Freiheit. Unvergesslich ist auch: Freiheit ist frei, sich zu befreien. Auch mein eigenes Zitat kommt mir in den Sinn: Die Freiheit scheint eine Illusion zu sein.
Freiheit ist unsere Religion
Und dann erlebe ich wenige Tage vor der Abfahrt zur Buchmesse einen Geistesblitz. Die Idee kommt zu mir auf dem Kyjiwer Maidan Nezaleznosti [Platz der Unabhängigkeit], an einem Ort, der dafür eigentlich prädestiniert ist. Am späten Abend sind wir dort auf der Suche nach einem Abendessen. Wir haben gerade die Aeneis im Nationalen Kunstmuseum in der Hruschewskistraße gespielt. Das Museum liegt ein Stück bergauf, hinter dem Denkmal für Lobanowskyj und hinter den Rücken der Spezialeinheit Berkut, die Molotow-Cocktails haben sie dort nicht mehr erreicht.
Die Hruschewskistraße während der Maidan-Proteste.
Wir stehen auf dem Maidan, ich schaue auf das ehemalige Gewerkschaftshaus, das Gebäude ist verhüllt, vielleicht ist das ein Stoff oder ein anderes Material. Es scheint, ein neuer Christo war hier am Werk. Auf der Hülle lese ich einen riesigen Slogan in Schreibschrift: FREEDOM IS OUR RELIGION.
Das ist es doch, denke ich. Eine neue Definition habe ich schon.
Freiheit ist unsere Religion. Mit diesem Gepäck kann man sich schon auf den Weg machen, auch wenn man nach Schweden fährt, ein durch und durch atheistisches Land. Danke für den rechtzeitigen Einfall, Kyjiw.
Danach wird allmählich der ganze Kontext sichtbar. Das Gewerkschaftshaus als headquarters of protesters. Als Organisationszentrum. Als ein improvisiertes Feldspital. Als eine Sammelstelle für Medikamente, Lebensmittel und warme Kleidung. Unzählige andere Funktionen, die verborgen bleiben. Von der Seite der Macht: ständige Versuche es einzunehmen. Zum Beispiel in der Nacht vom 10. auf den 11. Dezember, als man sie aufgehalten und gestoppt hatte. Oder in der Nacht vom 18. auf den 19. Februar, als sie sich auf das Dach eingeschlichen haben und es angezündet hatten.
Teufel auch, dort sind doch Menschen umgekommen! Wir vergessen allmählich, dass es das gab, dass dort die Menschen verbrannt sind. Die ganze Welt weiss über die Menschen, die in einem anderen Gewerkschaftshaus umgekommen sind, in Odesa am 2. Mai 2014. Von Personen, die in Kyjiw umgekommen sind, sagt man, sie wären „verschollen“. Unaufgeklärte Opferfälle im Kampf für die Freiheit. Weil die Freiheit unsere Religion ist. FREEDOM IS OUR RELIGION.
Das Haus der Gewerkschaften am Maidan diente den Demonstranten als Hauptquartier, bis es am 9. Februar 2014, mutmaßlich von der Polizei, in Brand gesteckt wurde und ausbrannte.
Wie vertragen sich Freiheit und Religion?
Doch die Frage ist doch (wohl eine philosophische Frage): welche Religion sich wie und in welchem Ausmaß mit Freiheit verträgt? Bis wohin widersprechen sich Religion (jede beliebige) und Freiheit nicht?
Mir gefiel der Slogan, der in riesengroßen Lettern auf der Hülle des Memorialgebäudes stand auch deshalb, weil er in unserem ziemlich religiösen (auch wenn das eine oberflächliche Religiosität ist) Land wenn nicht gegen den Strom, so doch auf jeden Fall gegen den Strich ist. Er klingt mutig-frech, fast atheistisch, auf jeden Fall häretisch. Achten Sie darauf: nicht Die Religion ist unsere Freiheit. Und nicht das Christentum ist unsere Religion. Sondern die Freiheit ist unsere Religion. Das heisst, wenn die Freiheit absolut ist (wie kann es anders sein, wenn die Buchstaben so groß sind), dann ist damit auch die Freiheit von der Religion gemeint. Das heisst, die Freiheit ist bei uns tatsächlich ein Ersatz für Religion. Ungefähr so.
Denken führt als Minimum zum Protestantismus. Und als Maximum – zum Atheismus
In diesem Zusammenhang kam mir der Gedanke, dass diese oberflächliche Religiosität (wie bei uns) paradoxerweise auch die tiefste Religiosität schlechthin zu sein scheint. Wenn ein religiöser Mensch in die Tiefe gehen möchte, wenn er nach eigenen Antworten sucht, da beginnt er selbstständig zu denken. Und dieses Denken kann die Grundlagen der Religiosität, auf jeden Fall unserer byzantinischen, infrage stellen. Dieses Denken führt als Minimum zum Protestantismus. Und als Maximum – zum Atheismus. Wie in Schweden, zum Beispiel.
Modernität als neue Religion
Ich erinnere mich an ein Treffen mit schwedischen Journalisten vor ungefähr sieben Jahren in Lwiw. Sie haben mich zur Kirchensituation befragt. Ich bin kein Experte, so habe ich nur allgemeine Sachen erzählt. Am Ende beschloss ich, zu einer milden Revanche zu greifen und fragte die Gäste, was sie, die Schweden, denn nun für ihre Religion halten. Ehrlich gesagt, erwartete ich als Antwort zum Beispiel Umweltschutz zu hören. Doch sind sie nach kurzem Überlegen und Blickkontakt zu einer breiteren gemeinsamen Antwort gekommen: die Gegenwart. Im Sinne der Modernität, weil sie sagten modernity. Modernity ist their religion.
Heute scheint mir, dass daraus ein gutes ukrainisch-europäisches Projekt von fusionierten Religionen entstehen könnte. Das heisst, eine Kreuzung ihrer Modernität mit unserer Freiheit. Ist das überhaupt möglich? Und wenn ja, wie werden sie sich vertragen?
Aus dem Ukrainischen von Sofiya Onufriv.
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