10 Jahre „Revo­lu­tion der Würde“ – das Recht, über seine Zukunft selbst zu entscheiden

Die Orange Revo­lu­tion von 2004 lehrte die Men­schen in der Ukraine, dass sich Protest lohnt. Die „Revo­lu­tion der Würde“ 2013 hatte dagegen einen sehr hohen Preis. Aber ohne sie wäre die Ukraine heute viel­leicht immer noch Teil der „Rus­si­schen Welt“.

Vor zehn Jahren, als sich die ukrai­ni­sche Regie­rung öffent­lich wei­gerte, das Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­men mit der Euro­päi­schen Union zu unter­zeich­nen, gingen meine Freunde und ich auf den Maidan demons­trie­ren. Für uns war es bereits die zweite Revo­lu­tion. Die erste – die Orange Revo­lu­tion – fand 2004 statt, als der pro­rus­si­sche Kan­di­dat Wiktor Janu­ko­witsch auf­grund zahl­rei­cher Wahl­fäl­schun­gen die Prä­si­dent­schafts­wah­len gewann. Nach seinem Sieg wussten wir zunächst nicht, was wir tun sollten. Dann spra­chen Oppo­si­ti­ons­po­li­ti­ker auf einer Bühne auf dem Maidan Nesa­le­sch­nosti, dem Platz der Unab­hän­gig­keit im Zentrum von Kyjiw, und die Men­schen began­nen, sich um sie zu scharen.

Es ist sehr schwie­rig, die Gefühle der Pro­tes­tie­ren­den zu beschrei­ben: eine Mischung aus tiefer Ver­zweif­lung und gleich­zei­tig eupho­ri­scher Soli­da­ri­tät unter­ein­an­der. Wenn Men­schen glauben, dass ihnen das Wich­tigste genom­men wird – das Recht zu wählen und damit das Recht auf eine Zukunft – sind sie zu unglaub­li­chen Leis­tun­gen fähig. Plötz­lich haben sie wie aus dem Nichts die Kraft, den Mut und die Ent­schlos­sen­heit, bis zum Schluss durch­zu­hal­ten. Im Jahr 2004 brauch­ten wir nicht bis zum bit­te­ren Ende zu kämpfen. Die Regie­rung gab unter dem Druck der Demons­tran­ten schnell nach und führte Neu­wah­len durch. Die Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner wählten Wiktor Juscht­schenko, und der wurde schließ­lich Präsident.

Das Recht, selbst zu ent­schei­den, wie wir leben wollen

Als die Regie­rung uns, dem Volk, 2013 erneut das Wahl­recht entzog, erschien die Idee, erneut auf dem Maidan zu demons­trie­ren, logisch und sogar nahe­lie­gend. Was war der Zweck? Es ging nicht nur darum, dass sich die pro­rus­si­sche Regie­rung von der euro­päi­schen Zukunft des Landes abge­wandt hatte. Der wahre Grund war ein anderer: Uns war das Recht genom­men worden, selbst zu ent­schei­den, wie wir leben wollen. Dieses Recht ist einer der großen Fort­schritte, die wir mit der Erlan­gung der Unab­hän­gig­keit errun­gen haben. Für Men­schen, die in der Sowjet­union geboren wurden, ist das keine Selbst­ver­ständ­lich­keit. Viele erin­nern sich an die Zeiten, in denen alle Ent­schei­dun­gen von oben getrof­fen wurden.

Das Recht, über seine Zukunft selbst zu ent­schei­den, ist ein großes Pri­vi­leg, das wir im Jahr 2013 bereits sehr zu schät­zen wussten. Ich erin­nere mich gut an ein altes rotes Auto, das auf dem Maidan parkte und auf dessen Wind­schutz­scheibe geschrie­ben stand: „Wir ver­bie­ten euch, uns zu ver­bie­ten.“ Schon damals schien mir das die Quint­essenz unserer Bestre­bun­gen zu sein. Diese Worte gewan­nen später noch mehr an Bedeu­tung, als die Behör­den ver­bo­ten, sich in Gruppen zu ver­ab­re­den, Gegen­den auf­zu­su­chen, an denen Amts­trä­ger lebten, oder Sturm­hau­ben zu tragen, um uner­kannt zu bleiben.

Die Revo­lu­tion hatte einen hohen Preis

In den letzten Novem­ber­ta­gen des Jahres 2013 schien uns noch, dass die Revo­lu­tion unblu­tig ver­lau­fen könnte. Wir erin­ner­ten uns an die frü­he­ren Erfah­run­gen, wir wussten, dass Amts­trä­ger zurück­tre­ten und ihre eigenen Fehler kor­ri­gie­ren können. Hätten wir uns auf dem Maidan ver­sam­melt, wenn wir gewusst hätten, dass einige Monate später die Leichen unserer Mit­kämp­fer dort liegen würden? Dass die Polizei bis zum Äußers­ten gehen und auf Demons­tran­ten schie­ßen würde? Das ist eine schwie­rige Frage. Diese Revo­lu­tion hatte einen hohen Preis für das Land: Dut­zende von Men­schen wurden getötet, Hun­derte wurden ver­letzt, und Putin nutzte diese Ereig­nisse, um 2014 die Krim zu annek­tie­ren und einen umfas­sen­den Krieg zu beginnen.

Die „Revo­lu­tion der Würde“ zeigt, was die Ukrai­ner wirk­lich ausmacht

Es gibt immer noch Men­schen in der Ukraine, die behaup­ten, dass die Demons­tra­tio­nen auf dem Maidan die rus­si­sche Aggres­sion ver­ur­sacht hätten. Aber das stimmt nicht. Der Euro­mai­dan war keine spon­tane Kund­ge­bung, er zeigt, was die Ukrai­ner wirk­lich aus­macht. Es war unmög­lich, nicht zu pro­tes­tie­ren. „Wir ver­bie­ten euch, uns zu ver­bie­ten“ – genau nach diesem Motto gingen wir auf die Straße. Wären wir nicht auf die Straße gegan­gen, wäre die Ukraine ein anderes Land – ähnlich wie Russ­land oder Belarus. Wahr­schein­lich hätte es dann keinen Krieg gegeben. Denn Russ­land hätte ein solches Land nicht erobern müssen, weil es ohnehin ein Teil der „Rus­si­schen Welt“ gewesen wäre.

Ohne Schutz und Waffen den Scharf­schüt­zen ausgeliefert

In meiner Erin­ne­rung spule ich oft die Ereig­nisse dieser Revo­lu­tion zurück. Ich erin­nere mich, wie inspi­riert wir im Novem­ber auf den Maidan zogen. Wie wir im Dezem­ber ver­stan­den, dass diese Revo­lu­tion nicht einfach sein würde. Und wie wir im Februar die Leichen von jungen Men­schen sahen, die von Regie­rungs­kräf­ten direkt auf dem Platz der Unab­hän­gig­keit erschos­sen wurden.

Am Tag der Mas­sen­er­schie­ßun­gen war ich nicht weit von der Stelle ent­fernt, an der die meisten Men­schen starben. Jugend­li­che und junge Erwach­sene liefen an mir vorbei, sie gingen ohne Schutz, ohne Waffen und Schutz­wes­ten dorthin, wo Men­schen von Scharf­schüt­zen getötet wurden. Ich warnte sie: „Wohin geht ihr? Sie werden auch euch töten. Geht nicht, ihr habt keine Chance.“ Und sie ant­wor­te­ten, dass sie schlicht keine andere Mög­lich­keit sähen. Denn die­je­ni­gen, mit denen sie bereits all die Monate auf dem Maidan ver­bracht hatten, wurden dort jetzt beschos­sen. Und auch wenn sie sie nicht schüt­zen konnten, so wollten sie zumin­dest neben ihnen stehen, ihnen beistehen.

Die Men­schen starben für ihre Überzeugungen

Ich ver­stehe, warum dieser Protest die „Revo­lu­tion der Würde“ genannt wird: Die Men­schen starben für ihre Über­zeu­gun­gen, für die Frei­heit, für das Recht, ihre Nächs­ten zu unter­stüt­zen. Würde ist kein schön­geis­ti­ges oder phi­lo­so­phi­sches Konzept. Würde bedeu­tet, Bücher zu lesen, die man selbst aus­ge­wählt hat und nicht jemand anderes für einen. Es bedeu­tet, die Dinge laut aus­spre­chen zu können, an die man glaubt, und nicht die Dinge, die man sagen soll. Es bedeu­tet, keine Angst davor zu haben, für andere Men­schen ein­zu­tre­ten, die unter­drückt werden.

Das sind ein paar ver­meint­lich selbst­ver­ständ­li­che Dinge, die vielen Men­schen in die Wiege gelegt wurden. Auch die Men­schen, die in der unab­hän­gi­gen Ukraine geboren wurden, haben ein Recht auf diese Dinge. Aber sie müssen immer wieder bewei­sen, dass sie dieses Recht haben. Vor allem Russ­land müssen sie das bewei­sen, einem Land, in dem die Würde schon lange in Ver­ges­sen­heit geraten ist. Wenn man mich bitten würde, Russ­land das Leit­mo­tiv unserer Revo­lu­tio­nen zu erklä­ren, dann würde ich sagen: „Wir ver­bie­ten, uns zu ver­bie­ten.“ Ich denke, mitt­ler­weile hat die Welt ver­stan­den, dass es uns ernst damit ist.

 

Portrait Kobernyk

Kateryna Kober­nyk ist Chef­re­dak­teu­rin des Online-Maga­zins Babel. 

 

 

 

 

 

 

 

 

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