Nataliya Gumenyuk – Die verlorene Insel 1.1
Im Frühjahr brachte die Journalistin Nataliya Gumenyuk das Buch Zahublenyi Ostriv (Die verlorene Insel) heraus, in dem sie Geschichten von Menschen auf der Krim niedergeschrieben hat. Nun wird das Buch ins Deutsche übersetzt. Wir dürfen vorab das erste Kapitel in drei Teilen veröffentlichen. Darin gibt Nataliya Gumenyuk ihre Eindrücke von einer Reise auf die Krim wieder, die sie im März 2014 unternommen und die sie nach Bachtschyssaraj – Balaklawa – Sewastopol – Jalta – Simferopol geführt hat.
Die Übersetzung ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit von Simon Muschick, Dario Planert und Johann Zajaczkowski. Das Buch hat die Autorin im November 2020 bei uns vorgestellt sowie veröffentlichten wir eine Rezension zum Werk.
1. Vorwärts in die Vergangenheit
Selbsternannte „Kosaken“ kontrollieren die Ausweise der Passagiere, die auf die Krim reisen. Dschankoj ist der erste Halt auf der Halbinsel. Ich liege auf der oberen Pritsche eines Schlafabteils und täusche völlige Müdigkeit vor. Fast unmerklich hebt sich mein Kopf vom Kissen, während ich meinen Pass hervorziehe. Mein Smartphone ist „sauber“ – kein einziges Foto vom Maidan ist darauf zu finden.
Ein Mann lugt in unser Abteil. Meinen Pass würdigt er kaum eines Blickes, und damit ist meine Einreise auf die Krim geglückt. Wir schreiben den 16. März 2014. Heute soll ein sogenanntes Referendum über den Status der Krim stattfinden. Der Zug fährt bis nach Sewastopol, ich steige in Bachtschyssaraj aus.
In der wichtigsten Stadt der Krimtataren gibt es weitaus weniger Anhänger des „Russischen Frühlings“ [1] als dessen ausgesprochene Gegner. Der Zug hat eine Verspätung von etwa 25 Minuten. Es stellt sich heraus, dass Kosaken pünktlich am Bahnhof waren, dann aber, ohne die Ankunft des Zuges abzuwarten, wieder abgezogen sind.
Faktisch wurde die Krim bereits erobert und besetzt. Die schlimmste Befürchtung ist bereits eingetroffen. Diejenigen, die versuchten, Widerstand gegen die Okkupation zu leisten, Aktivisten, die alles dransetzten, um die „kleinen grünen Männchen“ – sprich: russische Soldaten [2] – zu entlarven, wurden verprügelt und weggesperrt.
Nach Lage der Dinge kontrolliert die Armee der Russischen Föderation bereits das Territorium der Halbinsel. Und obwohl über manchen ukrainischen Militärbasen noch die ukrainische Flagge weht: der Widerstand ist gebrochen.
Doch am Tag der sogenannten „Abstimmung über die Unabhängigkeit der Krim“ weigern wir uns noch, diese neue Realität zu akzeptieren, und hoffen darauf, die Zeit zurückdrehen zu können.
Über dem bekanntesten krimtatarischen Café Musafir weht die Flagge der Krimtataren. Das Lokal liegt ein Stückchen oberhalb des Weges. Mit dem Smartphone filme ich ein vorbeifahrendes Militärfahrzeug. Ein russisches. Ich möchte daran glauben, dass die Aufnahme als Beweis für die Anwesenheit ausländischer Truppen taugt.
Im Musafir arbeiten einige Journalisten aus verschiedenen Ländern an ihren Laptops. Ich habe eine Tarnidentität. Wahlweise gebe ich vor, eine lokale Übersetzerin oder die Freundin eines estnischen Journalisten zu sein. Mein „Freund“ war einst der jüngste Abgeordnete des estnischen Parlaments. Er war der einzige EU-Politiker, der während der Orangenen Revolution im Zeltlager auf dem Maidan lebte. Jetzt ist er einfach freiberuflicher Journalist. Ich werde Geschichten für den Internet-Fernsehsender Hromadske aufschreiben, ich habe Kontakte zu den Helden, und solange wir zusammenarbeiten, hält er Augen und Ohren offen und schreibt Texte für estnische Medien.
Der Maidan ist gerade zu Ende gegangen und die Arbeit von Hromadske schlägt hohe Wellen. Das Bild eines Kollegen wird auf den Kundgebungen der Separatisten gezeigt. Als Zielscheibe. Jetzt ist nicht die Zeit für Livestreams von der Krim; besser, keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und den Standort einer ukrainischen Journalistin zu verraten.
Meine Aufgabe besteht also weniger darin, Aufmerksamkeit zu erzeugen, als vielmehr darin, herauszufinden, was wirklich vor sich geht.
Mein Kollege ist einige Tage früher angekommen und hat es geschafft, gemeinsam mit einem estnischen Fernsehteam (das nicht länger auf der Krim erwünscht ist) einige Aufnahmen in den Kasten zu bekommen. Er hat auch Perewalne besucht, wo er eine Aufnahme von russischen Soldaten ohne Hoheitsabzeichen gemacht und das Material an uns weitergereicht hat. Die bewaffneten Männer mit vermummten Gesichtern schwiegen einfach, und den Einheimischen mit ihren schwarz-orange gestreiften Georgsbändchen [3] stand auch nicht der Sinn nach einer Unterredung mit EU-Bürgern. Besagter Kollege hat auch die letzte große pro-ukrainische Kundgebung am Tag vor dem sogenannten „Referendum“ am Taras-Schewtschenko-Denkmal [4] in Sewastopol verfolgt. Der gesamte Platz sei in ein Meer aus blau-gelben Flaggen getaucht gewesen.
Noch bevor ich herausfinde, wie ich zum Wahllokal gelange, erfahre ich, dass der berüchtigte prorussische Aktivist
Johan Bäckman zur Unterstützung der Annexion aus Finnland auf die Krim gereist ist. Bäckman bestreitet vehement die Existenz eines unabhängigen Estlands, wurde dort zur Persona non grata erklärt und darf schon lange nicht mehr an finnischen Universitäten unterrichten. Ab Juli 2014 wird sich Bäckman selbst als offizieller Repräsentant der „DNR“ in Finnland bezeichnen. Damals waren solche Vertreter der „Russischen Welt“ [5] noch Neuland für uns.
„Um die Mittagsstunde hatten bereits 461 Person abgestimmt. Alle sind sehr aktiv! Viel junges Volk. Ich bin nicht zum ersten Mal Mitglied einer Wahlkommission. Alle sagen immer, dass die Jugend unpolitisch sei, aber die ersten, die ihre Stimme abgaben, waren fünf junge Leute“, berichtet eine Frau, Mitglied einer sogenannten Wahlkommission im Stadtzentrum von Bachtschyssaraj. Das baufällige, einstöckige Gebäude ist größtenteils verrammelt und wurde eigens für die Wahlen auf Vordermann gebracht.
Die Frau rechtfertigt die großen Lücken im Wählerverzeichnis damit, dass zur Vorbereitung der Abstimmung nur wenig Zeit geblieben war. Daher dürfen auch jene, die nicht auf der Liste stehen, „abstimmen“.
Wir beobachten den Ablauf.
„Hier ist der Antrag von Nadija Wolodymyrowna Ionowa auf Aufnahme in die Liste.“ Es wird abgestimmt: Antrag angenommen.
„Nun kommen Sie her, nehmen Sie einen Stimmzettel und wählen Sie“, fordert die Organisatorin die Frau auf.
Wenige Stunden später treffen wir im selben Wahllokal eine befreundete Journalistin mit russischem Pass. Sie erzählt uns, dass sie soeben bereits in einem anderen Wahllokal in Bachtschyssaraj ihre Stimme abgegeben hat.
„Finden Sie, dass Russland eher ein Vorbild ist als Europa?“, fragt mein estnischer Kollege eine junge Familie, die zum Wahllokal gekommen ist.
„Natürlich, in Russland steht alles zum Besten, dort herrscht Stabilität. Die EU ist definitiv kein Vorbild, und Lettland schon gar nicht.“
„Wir sind aus Estland.“
„Estland? Taugt auch nicht zum Vorbild. Was gibt´s da schon Gutes? Die Leute dort leben schlechter. Wir waren in Serbien, die Leute dort machen sich scharenweise aus dem Staub.“
„Serbien? Aber Serbien ist nicht in der EU.“
„Das nicht, aber sie haben ein Integrationsabkommen unterschrieben, deshalb geht das Land mit jedem Jahr mehr vor die Hunde. Und meine Freunde in Riga sind auch nicht sehr begeistert: die Lebenshaltungskosten steigen, das Rentenalter ebenfalls, die Gehälter sinken. Die treiben die Menschen in den Ruin.“
Die Wahlleiterin versichert, dass auch Krimtataren kämen.
Der Medschlis des Krimtatarischen Volkes [6] hat den Boykott des „Referendums“ beschlossen.
Dies bestätigt auch Achtem Tshijhos, der stellvertretende Vorsitzende des Medschlis – und zu diesem Zeitpunkt auch Abgeordneter des Bezirksrats von Bachtschyssaraj. Sein winziges Büro ist nur einen Steinwurf vom vermeintlichen Wahllokal entfernt und öffnet am Nachmittag. Da berichten die russischen Medien bereits über die erfolgreiche Abstimmung. Tshijhos spricht im Brustton der Überzeugung: „Das ist eine Provokation, eine Farce, damit wollen wir nichts zu tun haben. Hier, im Bezirk Bachtschyssaraj und einigen unserer kleineren Wohnsiedlungen haben sich die Krimtataren nicht an der Bildung von Wahlkommissionen beteiligt. Wir sind seit vielen Jahren eine feste Größe bei der Wahldurchführung auf der Krim. Zur Wahlbeteiligung muss ich nicht viele Worte verlieren – die ist natürlich gering. Den Informationen zufolge, die wir aus unserer Region erhalten haben, nahm nur ein Bruchteil der über 25.000 hier lebenden Krimtataren an den Wahlen teil. Wir sind uns darin einig, dass unsere Heimat in Gefahr ist. Dieses Gefühl lastet jedem auf der Brust – sowohl denen, die die Deportation durchlitten haben, als auch jedem Kind, wenn es sich schlafen legt. Morgen werden wir aufwachen und den Kampf um unsere Rechte fortsetzen. Die Form des Kampfes wird von der Problemlage abhängen. Doch wir, die Krimtataren, sind Bürger der Ukraine.“
Wir stehen vor einem der größten Wahllokale im Dorf Turheniwka. Ein Mann mittleren Alters mit Schiebermütze und Lederjacke stellt sich lächelnd als „Onkel Tolja“ vor. „Aber sicher doch“ habe er abgestimmt.
„Und wofür haben Sie gestimmt?“
„Ja keine Ahnung, wie das alles gelaufen ist.“
„Wofür nun? Für die Vereinigung mit Russland?“
„Und wohin geht dieses Video?“
„Nach Kyjiw.“
„Oh, nein! Dann nicht. Das zeigt ihr sowieso nicht!“
„Doch, na klar, warum denn nicht?“
„Ich sage nichts. Ich war zwar wählen, aber jetzt weiß ich nicht, ich geh´ so meiner Wege und frage mich, wozu das Ganze gut sein soll.“ Er zuckt mit den Schultern.
„Und was wird morgen geschehen?“
„Morgen wird ein schwerer Tag, aber die Leute werden erfahren, dass alle auf der Krim nach Russland wollen.“
Onkel Tolja zeigt sich überzeugt, dass die Krimtataren das Referendum boykottiert haben. Er führt aus:
„Ihr Tschubarow [7] will es nicht, er hat es verboten. Und nun hocken sie in ihren Hütten, keine Spur von ihnen in ganz Bachtschyssaraj. Ist so. Hast du hier etwa einen einzigen Tataren gesehen? Fehlanzeige. Die wollen nicht nach Russland. Die Tataren haben Angst, vielleicht zu Recht. Russland wird ihnen die Daumenschrauben anlegen. Die Ukraine fürchten sie nicht, da herrscht Chaos, und sie sitzen auf dem Basar herum, schachern, arbeiten in die eigene Tasche, geben nichts an den Staat, aber streichen ihre Rente ein. Und die kommt aus Donezk, wo die Fabriken stehen. Russland wird ihnen schon verklickern, dass man schuften muss, anstatt die Zeit auf dem Basar totzuschlagen.“ Mehr an sich selbst gewandt, sinniert er weiter darüber, was ihn an der Ukraine stört:
„Wir wollen ein ganz normales Leben. Aber die pressen uns hier aus. Das Geld von den Touristen fließt nach Kyjiw, und wir sehen keine müde Kopeke. Wenn bei euch in Kyjiw der Mindestlohn bei 2.500 Hrywnja liegt, sind es hier 1.000. [8] Damit kommst du nicht weit. Im Fernsehen zeigen sie, dass man in Kyjiw 8.000, ja sogar 10.000 Hrywnja kriegen kann. Klar sind die dort für die Ukraine! Würden die nur mal bei uns leben. Nun, wir haben Janukowytsch gewählt, diesen Dreckskerl. Ja, wir haben für ihn gestimmt, für wen auch sonst. Hätten wir denn wissen sollen, was das für ein Typ ist? Die eigenen Taschen hat er sich vollgestopft.“
„Glauben Sie etwa, dass es in Russland keine Korruption gibt?“
„Keine Ahnung, zumindest setzt Putin jede Woche einen dieser korrupten, betrügerischen Gouverneure aus allen möglichen Oblasten vor die Tür. Unter Juliya Timoschenko hatten wir zwei Stunden täglich Strom, es gab kein Benzin, Busse fuhren nicht. Und die soll jetzt eine Heldin sein? Habt ihr die dreistöckigen Hütten gesehen, die die sich gebaut haben? Wir sind hier weit ab vom Schuss, wir haben in der Scheiße gelebt und wir werden weiter in der Scheiße leben.“
In Kyjiw herrscht der Eindruck vor, dass die Krim hinter Janukowytsch stand. Schließlich war es jene Hochburg der „Partei der Regionen“, die mit dem NATO-Beitritt kokettierte und aus der Sprachenfrage Kapital schlug. Wir haben den Eindruck, dass die Menschen auf der Krim nicht das gesamte Ausmaß der Korruption des Ex-Präsidenten, der durch den Maidan aus dem Amt gejagt wurde, begriffen haben. Es scheint, als wären wir einige Jahre zu spät.
Die russische Message auf der Krim lautet: Alle ukrainischen Politiker sind wie Janukowytsch. Einzig Putin ist anders.
Ein lokaler Aktivist pflichtet bei: „Weißt du, die Leute glauben, dass der korrupte Donezker Clan sich die Krim unter den Nagel gerissen hat und dass Russland so etwas nicht dulden werde.“
Ich möchte von Onkel Tolja wissen, ob er darauf hoffe, dass Moskau Gelder überweisen werde, ohne daran Bedingungen zu knüpfen. Dieser gerät ins Schwärmen über die Zeiten in der Sowjetunion, als es im Dorf noch drei Traktoristen-Brigaden gab. Onkel Tolja glaubt, dass Krieg vermieden werden kann und dass alle in Frieden leben werden.
„Wir – die Ukraine und die Krim – sind eine Familie. Aber es ist besser, wenn jeder seinen eigenen Weg geht. Schlimmer kann´s nicht werden.“
„Wovor wir Angst haben? Es kursieren Gerüchte über ‚ethnische Säuberungen‘, das heißt die Vertreibung der ursprünglichen Bevölkerung der Krim; man will Bedingungen schaffen, die uns dazu zwingen, unsere Heimatstätten zu verlassen.“ In diesem krimtatarischen Haus herrscht eine völlig andere Stimmung. Eine Gruppe von Lehrern hat sich hier versammelt. Die Altersspanne reicht vom Referendar bis zum Beamten im Ruhestand. Alle Augen sind auf den Fernseher gerichtet, über den Bilder des krimtatarischen Senders ATR flimmern. Schewket [9] erläutert, dass selbst das Wissen um die Funktionsweise von Propaganda nicht vor Verblendung schütze: „Manchmal fängst du an, an der Richtigkeit deiner eigenen Gedanken zu zweifeln. Angenommen, du weißt, dass die Mitglieder der Berkut [10] auf dem Maidan Leute verprügelt haben. Im Fernsehen aber wird der Eindruck vermittelt, die Krimtataren wären das gewesen. Sowas schaukelt sich immer weiter hoch. Vor dem Zweiten Weltkrieg war das deutsche Volk von Hitler geblendet und unterstützte ihn auf der Welle des Nationalismus, die sich bis in den Chauvinismus steigerte. Und das führte schließlich zum Weltkrieg. Die Gehirnwäsche des russischen Volkes durch die Massenmedien ist ebenso eine Bedrohung für die gesamte Welt.“
An diesem Tag haben sich die Frauen zum gemeinsamen Gebet versammelt: „Allah schenkte uns eine Heimat, auf dass wir mit anderen Völkern in Freundschaft und Harmonie leben. Wir sind froh, dass man in der Westukraine hinter uns steht. Wir unterstützen den Maidan. Wenn wir Worte der Fürsorge und der Solidarität vernehmen, kommen wir zur Ruhe. Wir haben Allah um seinen Segen gebeten, weiterhin in unserer Heimat und in Einigkeit mit der Ukraine leben zu können. Wir baten ihn auch, dass er Putin ein wenig Güte und Weisheit schenken möge, auf dass er seine Truppen und Soldaten, die hierhergekommen sind, abziehe, sie lebendig und gesund zu ihren Familien, Müttern und Frauen zurückkehren und hier Friede einkehre wie vor ihrer Ankunft.“
Der Betreiber des Café Musafir, Lenur Osmanow findet deutlichere Worte. Er sähe es gerne, würden die Machthaber in Kyjiw die Strom- und Wasserversorgung unterbrechen, um den Krimbewohnern ihre Abhängigkeit vom Festland vor Augen zu führen. „Mir ist bewusst, dass man in Kyjiw vor einem Dilemma steht: wie setzt man solche Druckmittel ein, ohne den Menschen zu schaden? Doch wir Krimtataren haben die Deportation überlebt. Wir kennen weitaus schlimmere Verhältnisse – dagegen sind Strom und Wasser ein Witz. Jede Familie hat geliebte Menschen verloren. Daher kann man wohl behaupten, dass wir einiges aushalten. Die Ukraine sollte sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, dass sie ihre eigenen Leute in diese Lage gebracht hat. Die Krim ist ein Teil der ukrainischen Wirtschaft und Gesellschaft. Wir überstehen das.“
Switlana ist Lehrerin für ukrainische Sprache und Literatur aus Sewastopol. Bei unserem Treffen ist ihr Tonfall eindringlich: „Nataliya, sag mir, wie ist das möglich? Im Radio behaupten sie, dass achtzig Prozent der Krimtataren beim Referendum abgestimmt haben. Ich glaube das nicht. Halb so viele vielleicht, aber doch nicht achtzig?“ Ich brüte über der Frage, wie Propaganda funktioniert. Ein Mensch ist in der Lage zu glauben, dass diese oder jene Zahl etwas geschönt oder gefälscht ist, aber dass man so dreist lügen kann, das er kann sich nicht vorstellen.
Switlana ist mir damals buchstäblich vor die laufende Kamera gelaufen. Ich streamte gerade live von der Institutska-Straße, als die Menschen in den ersten Tagen nach der Tragödie dort zu Ehren der Getöteten der Himmlischen Hundertschaft [11] Blumen niederlegten. Ihre ukrainische Aussprache ist ungemein korrekt, fast schon theatralisch. Mit Tränen in den Augen klagte sie darüber, dass niemand auf der Krim die Wahrheit über den Maidan kenne, und man hinfahren und darüber berichten müsse, bevor es zu spät sei.
Denn die Bewohner der Halbinsel – so ihre Warnung – würden gegen die Ukraine aufgewiegelt.
Switlanas Mann ist Chorleiter bei den ukrainischen Streitkräften. In ihrem Bekanntenkreis gebe es viele Ehefrauen von Soldaten. Mehrere Wochen lang hielten wir vom Sender den Kontakt zu ihnen aufrecht, brachten Stories über die Blockade von Stützpunkten sowie Aufrufe zur Hilfe. Doch nach dem „Referendum“ verweigerte eine Ehefrau nach der anderen den Austausch mit Journalisten: Am Montag ein Live-Interview, am Dienstag ein Treffen, am Mittwoch selbst ein Telefonat. Alles hat seinen Sinn verloren. Die Einschränkung der Freiheit auf der Krim, in diesen Tagen wird sie mit jeder Stunde spürbarer.
Am Stadtrand von Sewastopol, wo Switlana lebt, gibt es fast keine Cafés, und mir wird klar, dass Vertreter ihrer Generation (zumal mit ihrem Gehalt) es nicht gewohnt sind, sich auf einen Kaffee zu verabreden. Sie bittet um ein Treffen im Zentrum, unweit des Markts. Es scheint mir nicht sehr sicher, mit einem Videointerview unter freiem Himmel Aufmerksamkeit zu erregen. In einer Pizzeria im Einkaufszentrum finden wir noch eine freie Ecke. Switlana hat ihre Tochter mitgebracht, die noch zur Schule geht. Das Mädchen ist erschöpft. Wir haben Mühe, uns auf das Gespräch einzustellen, zumal ich es aufzeichne.
Die Unterhaltung kommt gerade in Gang, da setzt sich eine Gruppe massiger Bartträger an einen großen reservierten Tisch neben uns. Sie sprechen irgendeine slawische Sprache. Ich kann nur schwer verstehen, was genau sie hier auf der Krim treiben. Stehen sie an den Straßensperren Wache? Hat sie die Sensationslust hierhergetrieben? Oder sind sie als Erfüllungsgehilfen der Annexion hier? Ich nehme meinen Mut zusammen und frage sie nach ihrer Herkunft. Sie schlagen ein Selfie vor und antworten, dass sie aus Novi Sad kämen.
Gelegentlich tauchen in den Newsfeeds zur Krim auch Berichte über Tschetniks auf – serbische Nationalisten, die Russland unterstützen.
Höchste Zeit, unser Gespräch an einem anderen Ort fortzusetzen. Durch die Verzögerung bin ich für das nächste Interview bereits spät dran.
„Jurij, ich brauche Ihre Hilfe. Wir schaffen es nicht rechtzeitig zu Ihnen und ich habe eine Bitte. Wir wollen noch mit einer anderen Person reden, doch ihr Kind ist müde, und wir haben keinen guten Ort für unser Gespräch gefunden. Können wir vielleicht zu Ihnen kommen?“, frage ich den mir im Grunde unbekannten jungen Mann, den mir ein Bekannter vermittelt hat. Jurij ist in der IT-Branche tätig. Von ihm will ich wissen, wie die unpolitische Jugend und die Unternehmer zu den Ereignissen auf der Krim stehen. Ich will möglichst unterschiedliche Menschen treffen, um zu verstehen, was die Menschen auf der Krim wirklich beschäftigt.
Nach einer Stunde Fahrtzeit stehen wir endlich vor dem modernen Büro. Wir sind in Eile und müssen nun zwei Gespräche, die unterschiedlicher nicht sein könnten, irgendwie unter einen Hut bringen. In diesem Moment scheint es, als wären zwei gegensätzlichere Charaktere kaum vorstellbar: Hier die leidenschaftliche Lehrerin für ukrainische Sprache und Literatur, die stundenlang über ihren Stolz auf ihre Schüler und deren Erfolge bei den Schewtschenko-Spracholympiaden sprechen kann; dort der russischsprachige IT-Spezialist, ruhig und sachlich; bemüht, sich aus der Politik herauszuhalten.
„Am meisten beunruhigt mich die Polarisierung der Meinungen. Meine Freunde und ich streiten uns bis zur Heiserkeit. Bisher ist es gelungen, die persönliche Ebene bei den Auseinandersetzungen außen vor zu lassen, aber das gestaltet sich immer schwieriger“, erzählt Jurij. „Einige meiner Freunde haben die Milizen an den Straßensperren mit allem Lebensnotwendigen versorgt. Die haben das damit begründet, dass diejenigen, die uns angeblich verteidigen, doch Zigaretten und warme Kleidung bräuchten. Ich halte dann immer dagegen: ‚und vor wem beschützen die uns? Ich sehe keine Gefahr.‘ Ich sehe nur Propaganda, die uns weismachen will, dass die Benderiwtsi [12] im Anmarsch seien. Das ist lächerlich. Und diese Straßensperren, das sind Kriegsspielchen erwachsener Männer. Mir scheint, dass für manche die steigenden Spannungen nur ein Vorwand sind, um endlich die Waffen sprechen zu lassen. Ich habe aber auch Freunde, die zu den ukrainischen Stützpunkten gefahren sind und Lebensmittel durch den Zaun gereicht haben.“
„Wenn ich jetzt auf Russisch sprechen und Mütterchen Russland als Heimat anerkennen würde, ich würde nirgendwo anecken und in der Masse aufgehen“, so Switlana, während sie in druckreifes Russisch wechselt. „Doch wenn ich meine Pflichten so gewissenhaft erfülle wie zuvor, oder sogar noch gewissenhafter, aber dabei Ukrainisch spreche, bringe ich mich und meine Familie in Gefahr.
Wie kann man nur wegen der Sprache einen Krieg zwischen zwei Brüdervölkern lostreten?
In den Familien hat dieser Krieg bereits begonnen, sie brechen auseinander. Heute im Bus gratulierten sich die Leute gegenseitig zum Feiertag. Ich ließ es darauf ankommen und fragte: ‚zu welchem Feiertag denn?‘ ‚Ja wie, wir sind doch seit heute Unabhängig!‘ Ich entgegnete: ‚Welche Unabhängigkeit?‘ – ‚Na, heute haben wir uns Russland angeschlossen.‘ Dabei zeigt ein Blick ins Wörterbuch, dass die Begriffe ‚Unabhängigkeit‘ und ‚Anschluss‘ unterschiedliche Bedeutungen haben. Doch du hast nicht das Recht, diesen „Feiertag“ zu verweigern. Und wenn wir für das Recht einstehen, dass Sewastopol ukrainisch bleibt, bringen sie uns einfach um…“ Sie ringt um die richtigen Worte. „…die schlachten uns einfach ab!“
„Sie haben gerade das Wort ‚abschlachten‘ verwendet…“
„Weil es genauso gesagt wurde! ‚Ihr Benderowtsi gehört abgeschlachtet! Ihr Faschisten!‘ Was geht nur vor in den Köpfen der Leute? Es zerreißt dir das Herz, wenn du solche Dinge hörst. Wir leben hier wie Geiseln, ohne zu wissen, wie wir uns verhalten sollen: reden oder schweigen. Viele haben ihre Gesinnung bereits gewechselt, manche sind geflohen, andere untergetaucht, wieder andere sind verstummt. Die Fernsehsender in Sewastopol, auf der Krim – wohin man auch schaut, überall verzerrte Informationen. Die Menschen fürchten sich davor, aufs Festland zu reisen. ‚In der Ukraine werdet ihr getötet, Faschisten haben dort die Macht ergriffen – bleibt besser auf der Krim!‘ Sowas wird ihnen eingetrichtert. Aber ich war dort, vom Faschismus keine Spur.“
Ich kann Switlanas Empörung nachvollziehen. Sie sucht das Gespräch mit Kollegen, um Andersdenkende umzustimmen. Doch sie befürchtet, dass sie nichts ausrichten kann. Jurij hält sich bedeckt, daher will ich wissen, ob er keine Angst habe. „Wovor sollte ich Angst haben? Ich gebe nur wieder, was ohnehin alle reden. Wir schlagen uns mit gesperrten Bankkonten herum. Schon vor dem Referendum konnte man kein Geld mehr abheben. Ich fürchte, dass diejenigen, die hier an die Macht gekommen sind, die Krim einfach zur Plünderung freigeben. Sie werden sich wie kleine Fürsten aufführen und den Kurs von Janukowytsch fortsetzen. Sie schnappen sich seine Villen und bauen sich noch ein paar neue dazu.“
Weiter zum zweiten Teil.
- Begriff aus den russischen Staatsmedien zur ideologischen Überformung der Ereignisse von 2014 auf der Krim und im Donbass (Anm. d. Übers.).
- Euphemistische Bezeichnung für die russischen Spezialeinheiten mit Uniformen, aber ohne Hoheitsabzeichen, die für die Besetzung der Krim eingesetzt worden sind. Bisweilen auch zynisch als „höfliche Menschen“ gelesen, da die Spezialeinheiten auf eine direkte Gewaltanwendung bei der Besetzung und auf jegliche Kommunikation verzichteten (Anm. d. Übers.).
- Während des Zweiten Weltkriegs Verdienstorden für sowjetische Soldaten; seit 2014 Symbol der Unterstützung der Aktivitäten der russischen Regierung auf der Krim und im Donbass (Anm. d. Übers.).
- Taras Schewtschenko ist ein Klassiker der ukrainischen Literatur des 19. Jahrhunderts (Anm. d. Autorin).
- Bezeichnung der russischen Regierung für eine diffuse geopolitische und kulturelle Einflusssphäre, die den Großteil der Nachfolgerstaaten der Sowjetunion umfasst (Anm. d. Übers.).
- Exekutiv-repräsentatives Organ des Krimtatarischen Volkes; seit 2016 durch die Besatzungsbehörden auf der Krim verboten (Anm. d. Übers.).
- Von 1995 bis 1998 stellvertretender Vorsitzender des Obersten Sowjets der Autonomen Republik Krim. Seit November 2013 Vorsitzender des Medschlis des Krimtatarischen Volkes (Anm. d. Autorin).
- Im März 2014 entsprachen 1.000 Hrywnja dem Wert von 120 US-Dollar (Anm. d. Autorin).
- Name aus Sicherheitsgründen geändert. Im Folgenden habe ich die Namen meiner Gesprächspartner geändert oder auf eine Angabe verzichtet. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die nach wie vor auf der besetzten Krim leben, und in Fällen, in denen solche Personen identifiziert werden und ihre Aussagen sie in Gefahr bringen könnten. Personen des öffentlichen Lebens sowie derjenigen, die auf eigenen Wunsch ihre Geschichte erzählen möchten (beispielsweise die Verwandten von politischen Häftlingen), werden hingegen namentlich im Buch genannt (Anm. d. Autorin).
- Dt. „Steinadler“; mittlerweile aufgelöste, auf Janukowytsch eingeschworene paramilitärische Spezialeinheit der ukrainischen Sicherheitskräfte; maßgeblich verantwortlich für die Mehrzahl der zivilen Todesopfer auf dem Maidan (Anm. d. Übers.).
- Populäre Bezeichnung in der Ukraine für die mehr als 100 Todesopfer der proeuropäischen Proteste auf dem Maidan (Anm. d. Übers.).
- Ich bemerke, dass auf der Krim wie auch in russischen Fernsehsendern das Wort „Banderiwtsi“ wie „Benderiwtsi“ ausgesprochen wird. Es geht hier schon lange nicht mehr um Bandera – der Wortschatz der Propaganda ist ein Thema für sich. (Anm. d. Übersetzer: „Banderiwtsi“ ist eine abwertende Bezeichnung für Ukrainer im Allgemeinen oder Menschen aus der Westukraine im Speziellen und spielt auf den ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera (1909–1959) an).
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um einen Auszug aus Nataliya Gumenyuk: Die verlorene Insel. Reportagen von der besetzten Krim, ibidem-Verlag, Stuttgart: 2020. Erhältlich ab Herbst 2020 unter ISBN978–3‑8382–1499‑3 im Buchhandel.
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