Stimmen aus dem besetzten Donbas: wie kann man die Entfremdung stoppen?
Kurz vor dem Jahreswechsel hat der DRA e.V., eine unabhängige Nichtregierungsorganisation aus Berlin, die Publikation „Braucht die Ukraine uns?“ herausgebracht, die Ansichten von Frauen, Männern und Jugendlichen wiedergibt und einordnet, die die selbsternannten „Republiken“ in der Ostukraine ihr Zuhause nennen. Die „Republiken“ (Teile der Territorien der Regionen Donezk und Luhansk) entstanden im Jahr 2014, als Russland dort bewaffnete Unruhen provozierte und diese militärisch unterstützte.
Die Wiederherstellung der territorialen Integrität und die Rückkehr der besetzten Gebiete ist seit sechs Jahren die Priorität der Ukraine. Es geht aber nicht nur um das Territorium, sondern auch um die Menschen, die dort leben. Was bräuchte es, um die Ukrainer wieder in Frieden zusammenfinden zu lassen, nachdem immerhin mehrere Millionen Menschen seit sechs Jahren in ungeklärten Verhältnissen der selbsternannten „Republiken“ gelebt haben? Ein Gastbeitrag von Iryna Yakovlieva, DRA e.V.
Die ukrainische Gesellschaft gibt sich indes hin und her gerissen, was sie von ihren eigentlichen Mitbürgern halten soll, die in den besetzten Gebieten geblieben sind. Handelt es sich um Separatisten und Verräter oder doch eher um Opfer und Geiseln? Tatsächlich gibt es nur wenige Informationen über das Leben hinter der Kontaktlinie. Der DRA wollte mit seiner Umfrage den mangelhaften öffentlichen Meinungsaustausch fördern und jenen Menschen das Wort erteilen, deren Stimme selten gehört wird.
Alle Höflichkeiten beiseite
Was die Bewohner der abtrünnigen Gebiete über die Ukraine, den anhaltenden Krieg und die Zukunft zu sagen hatten, war alles andere als schmeichelhaft. Zweierlei ist aber zu bedenken. Erstens hat die Gruppe der Befragten mit 35 Personen keinen großen Umfang gehabt. Zweitens wäre es wohl vollkommen nachvollziehbar, wenn manche sich angesichts zahlreicher Verhaftungen mit fadenscheinigen Anklagen wie „Spionage“ oder „Staatsverrat“ nicht ehrlich äußern möchten.
Nichtsdestoweniger „spiegelt“, so die ukrainische Journalistin Alisa Sopova, die in Donezk geboren und aufgewachsen ist und derzeit im Fach Anthropologie an der Princeton University promoviert, „die Umfrage auf ziemlich korrekte Weise die dominierenden Stimmungen in den ‚Republiken‘ wider, wie ich sie sehe“.
Feindseligkeit aufgrund eines Traumas
Die traumatischsten Erinnerungen rühren aus den Jahren 2014 und 2015 her – den Jahren mit der höchsten Zahl an Toten im Konflikt. Viele Umfrageteilnehmer gaben den ukrainischen Streitkräften und freiwilligen Bataillonen die Schuld für ihre persönlichen Verluste.
„2014 habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie das Haus in der Nachbarstraße nach dem Beschuss aus der Richtung von Schdanowka, wo das ukrainische Bataillon „Donbas“ stationiert war, niedergebrannt ist […]“, Valeria, 30**.
„[…] Mein Gedächtnis hält noch alle Ereignisse des Jahres 2014 fest. Vielleicht waren sie das stärkste Argument, um zu erkennen: Die Ukraine braucht die Menschen in Donbas nicht […]“, Aleksandra, 29.
In bewaffneten Konflikten sei es ganz natürlich, die andere Seite zu beschuldigen, sagt die Konfliktexpertin und Mediatorin Inna Tereshchenko.
Familien fallen auseinander
Für viele Befragte führte der bewaffnete Konflikt zum „Zusammenbruch des ganzen Lebens“. Das gilt nicht nur für die Menschen, die ihre Geliebten und ihre Häuser verloren haben, sondern auch für diejenigen, deren Freundschaften und Familien durch wachsende mentale Distanz, Stereotype und Groll ruiniert worden sind.
„[…] Meine Großfamilie […] hat ganz aufgehört, mit uns zu reden, weil wir für sie Separatisten, Verräter sind und es sowieso alles unsere Schuld ist […]“, sagte Karina, 27.
Andere Familien im nicht von der Regierung kontrollierten Gebiet von Donbas fallen auseinander, weil die Arbeitslosigkeit viele Männer gezwungen hat, in der Russischen Föderation zu arbeiten. Die meisten Arbeitsplätze in der Region bestanden vormals in Kohlebergwerken und anderen Industriezweigen. Sechs Jahre später sind nur noch wenige Minen und Fabriken in den besetzten Gebieten funktionsfähig und sicher.
Radikale Ansichten
Die jüngsten Befragten im Alter von 16 bis 17 Jahren waren am radikalsten in ihren Ansichten, wie die Umfragen aus dem Jahr 2018 und von Anfang 2019 ergeben. Vitaly, 16, sagte sogar: „… wir müssen die faschistische Regierung in Kiew loswerden…“. Dieses kurze Zitat kann sicherlich Empörung, Unverständnis und Wut auslösen. Gleichzeitig, meinen die Autoren der Publikation, ist dies durchaus symptomatisch für die Situation. Die heutigen Teenager waren zehn bis zwölf Jahre alt, als die Feindseligkeiten begannen. Sie waren Zeugen schwerer Kämpfe, verbrachten Nächte in Kellern, verloren Freunde und Familienmitglieder. Diese schicksalhaften Erfahrungen, in deren beständiger Auffrischung russische Medien und ein als militaristisch ausgerichtet zu bezeichnender Schulunterricht dankbar ihre Aufgabe sehen, prägten die radikalen Ansichten unter den jüngeren Menschen.
In ihrer Analyse der in der Umfrage geäußerten Meinungen fordert Alisa Sopova die anderen Ukrainer auf, solche Aussagen nicht als eine Art moralische Erniedrigung oder politische Minderwertigkeit zu interpretieren. Sie stellt jedoch fest, dass genau solche Interpretationen im ukrainischen Informationsraum immer noch weit verbreitet sind.
„Selbst wenn die Menschen in den abtrünnigen Gebieten etwas sagen oder tun, was uns nicht gefällt, müssen wir verstehen, dass es sich um Menschen handelt, die ein psychisches Trauma erlitten haben und deren Glaube an Gerechtigkeit untergraben wurde. Die Anflüge von Zynismus und Bitterkeit sowie die Radikalität der Aussagen sollten aus dieser Perspektive bewertet werden“, erläuterte sie.
Polarisierung stoppen
Die Umfrage macht deutlich, dass die Menschen, die in den letzten Jahren über die Frontlinie hinweg Kontakte zu ihren Verwandten und Freunden gepflegt haben, aufgeschlossener dafür sind, mit Menschen von der anderen Seite in einen Dialog zu treten.
„Die Leute sind bereits mit Propaganda gesättigt und das Schauen von Nachrichten oder anderen Fernsehsendungen von drüben sorgt für „fünf Minuten Hass“. Was könnte uns näherbringen? Objektive Informationen“, Galina, 40.
Letztendlich träumen viele Menschen in den „Republiken“ von Frieden und Stabilität.
Natürlich ist es schwierig, in einer nicht anerkannten Republik zu leben, und viele Menschen sehnen sich nach dem stabileren Leben in der Ukraine, aber wir alle verstehen, dass der Donbas selbst dann nie wieder derselbe sein wird, wenn er zurückkehrt.“ Aleksandra 29.
Die Stimmungen der Menschen, die in den besetzten Gebieten leben, spiegeln häufig die vorherrschende Angst vor einer wahllosen Bestrafung, vor Demütigung und Nichtakzeptanz. Deshalb sollte die Achtung der Menschenwürde unabhängig von den politischen Ansichten im Mittelpunkt jeder Dialoginitiative, Regierungspolitik oder Medienkampagne stehen.
Die DRA-Veröffentlichung enthält Empfehlungen zur Fortsetzung des Dialogs über die Kontaktlinie hinweg. Gleichzeitig wird klargestellt, dass Dialoginitiativen nicht allein genügen, um fest verwurzelte Widersprüche aufzulösen. Staatliche Maßnahmen sind erforderlich. „Der (ukrainische) Staat ist verpflichtet, die Sicherheit und Rechte dieser Menschen zu gewährleisten – nicht aus Mitleid oder weil sie „politisch zuverlässig“ sind, sondern weil sie Bürger (der Ukraine) sind“, sagt Sopova. Alle Bürger der Ukraine, wo auch immer sie in der Ukraine leben, sollten gleiche Rechte und gleichen Zugang zu allen Dienstleistungen haben.