Ukraine: Einladung zur NATO-Mitgliedschaft und Stand der Reformen
Eine Einladung an die Ukraine zur NATO-Mitgliedschaft sollte nicht bis „nach dem Krieg“ aufgeschoben werden, sondern beim Gipfel in Vilnius ausgesprochen werden. Marianna Fakhurdinova analysiert den Stand der für einen Beitritt nötigen Reformen.
Nach 18 Monaten des umfassenden Krieges hat die Ukraine bewiesen, dass sie über eine der stärksten Armeen in Europa verfügt. Dennoch sind nicht alle Mitgliedsländer bereit, dem Land die Türen zur NATO zu öffnen. Oft verweisen die Gegner einer Einladung darauf, die Ukraine sei noch nicht bereit, dem Bündnis beizutreten.
Am 5. Juli 2023 zitierte die Pressesprecherin des Weißen Hauses, Karine Jean-Pierre, Präsident Biden, der wiederholt gesagt hatte: „Bevor sie der NATO beitreten kann, müsste die Ukraine Reformen durchführen, um die gleichen Standards wie jedes andere NATO-Land zu erfüllen.“ Tatsächlich hatte Kyjiw jedoch bis 2022 bereits erhebliche Fortschritte bei der Umsetzung der Reformen gemacht und tut dies derzeit auch trotz des Krieges weiterhin.
Unterstützung durch EU und NATO
Beispiele für die erfolgreiche Umsetzung von Reformen aus dem EU-Katalog, die auch für die Integration der Ukraine in die NATO wichtig sind, sind der Aufbau einer Infrastruktur zur Korruptionsbekämpfung oder auch Fortschritte bei der Neugestaltung des Justizwesens. Auch im Verteidigungs- und Sicherheitssektor wurden mit Unterstützung der NATO-Partner Reformen durchgeführt: die Umstrukturierung des Generalstabs in eine für die NATO typische „J‑Struktur“ (klassische Stabsgliederung), die Reform des Unteroffizierskorps, die Angleichung der Verteidigungsplanung an die der NATO und die Einführung neuer militärischer Dienstgrade, die denen der NATO entsprechen.
Reform der Beschaffung von Verteidigungsgütern
Von Skeptikern werden oft Reformen kritisiert, die noch nicht vollständig umgesetzt sind, wie beispielsweise jene zur Beschaffung von Verteidigungsgütern oder zur demokratischen Kontrolle des Militärs und des Inlandsgeheimdienstes der Ukraine (SBU).
Nach einem Gesetz von 2020 sollte die Reform das Risiko der Korruption verringern, indem die Geheimhaltungsstufen herabgesetzt und das Modell des freien Marktes bei der Beschaffung von Verteidigungsgütern eingeführt werden sollte. Mit Beginn des Krieges gegen Russland stellte die ukrainische Regierung jedoch aus nachvollziehbaren Sicherheitsgründen die Beschaffung von Verteidigungsgütern vollständig unter Geheimhaltung, und das Verteidigungsministerium begann, ohne Ausschreibungen direkt Verträge mit Lieferanten abzuschließen. Zu Beginn der Invasion sollte diese Geheimhaltung dazu beitragen, die Lager mit Verteidigungsgütern und das Militärpersonal vor russischen Angriffen zu schützen.
Öffentliche Ausschreibungen für Rüstungsprodukte
Doch nach dem ersten Jahr der intensiven Kriegshandlungen verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das das Verteidigungsministerium verpflichtet, Beschaffungsaufträge auf der ukrainischen Ausschreibungsplattform Prozorro zu veröffentlichen. Eine solche teilweise Aufhebung der Geheimhaltung bei der Beschaffung von nichtletalen Waffen soll dazu beitragen, die Korruptionsrisiken zu verringern, da zumindest im Nachhinein die Ausschreibung öffentlich gemacht wird. Bis Mai 2023 wurden auf der Plattform 10.000 solcher Berichte veröffentlicht.
Gemeinsame Arbeitsgruppe der NATO und der Ukraine zur Reform des Verteidigungssektors
Darüber hinaus wurde 2023 eine spezialisierte Behörde für die Beschaffung von Verteidigungsgütern nach bewährten Verfahren der NATO eingerichtet. Zuvor hatte in der Ukraine hauptsächlich das Verteidigungsministerium diese Aufgabe wahrgenommen. Im Jahr 2023 nahm Kyjiw auch bei der Reform der Beschaffung von Verteidigungsgütern die Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich, Norwegen und der NATO auf: in der Gemeinsamen Arbeitsgruppe der NATO und der Ukraine zur Reform des Verteidigungssektors und in der NATO-Agentur für Unterstützung und Beschaffung. Diese Schritte zeigen, dass die Ukraine selbst inmitten des Krieges Maßnahmen ergreift, um sich an den Best Practices der NATO zu orientieren und mit dem Bündnis zu kooperieren.
Demokratische Kontrolle des Militärs
Die NATO-Norm sieht vor, dass jedes Mitgliedsland ein ziviles Verteidigungsministerium haben sollte, das von einem zivilen Minister geführt wird. 2018 wurde diese Norm in die ukrainische Gesetzgebung aufgenommen,und die Ukraine hält sich daran: Der amtierende Minister Oleksij Resnikow hat keinen militärischen Hintergrund.
Im Frühjahr 2023 wurden mögliche Umbesetzungen im ukrainischen Verteidigungsministerium und die Rückkehr zu einem Verteidigungsminister mit Militärerfahrung – was während eines Krieges vernünftig erscheinen mag – diskutiert. Der aktive Widerstand der ukrainischen Zivilgesellschaft führte jedoch dazu, dass die Idee einer Gesetzesänderung vom Parlament nicht umgesetzt wurde. Das kann als Erfolg gewertet werden.
Auch als im Frühjahr 2023 unter dem Dach des Ministeriums der Öffentliche Antikorruptionsrat und das Büro zur Unterstützung des Wandels eingerichtet wurden, zeigte sich das Verteidigungsministerium offen für den Dialog mit der Zivilgesellschaft. Diese Gremien beziehen namhafte ukrainische Aktivisten und Expertinnen mit ein und sollen das Verteidigungsministerium bei seinen internen Reformprozessen unterstützen.
Reform des Geheimdienstes der Ukraine
Eine weitere Reform ist vorgesehen, die dem Inlandsgeheimdienst der Ukraine (SBU) atypische Funktionen entziehen (beispielsweise Ermittlungsverfahren und wirtschaftliche Spionageabwehr) und stattdessen seine Spionageabwehrfunktionen stärken soll (einschließlich der Terrorismusbekämpfung und der Wahrung von Staatsgeheimnissen). Der von der NATO, der EU und den USA unterstützte Gesetzentwurf war Anfang 2022 beinahe reif für die zweite Lesung. Aufgrund der russischen Invasion fand diese jedoch nicht statt.
Zwar ist der Text des Gesetzentwurfs ausgearbeitet, der Krieg hat jedoch Fragen zur Durchführbarkeit der Geheimdienstreform aufgeworfen, da Unklarheiten hinsichtlich der Delegation von Aufgaben bestehen bleiben. Heute spielt der SBU eine wichtige Rolle bei der Rückeroberung der ukrainischen Gebiete und bei der Untersuchung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die nationale Sicherheit. Im Vergleich zu 2021 ist die Zahl der Verbrechen, mit denen sich der SBU befasst, um das 400-fache gestiegen.
Das Staatliche Ermittlungsbüro, das ursprünglich die Ermittlerfunktion des SBU übernehmen sollte, verfügt derzeit nicht über ausreichende Kapazitäten bzw. Ermittler, um eine solch hohe Anzahl von Straftaten zu bearbeiten. Nach Ende des Krieges wird die Ukraine unter Aufsicht der Zivilgesellschaft und der internationalen Partner sicherlich die Reform des SBU abschließen. Die derzeitige vorübergehende Pause sollte also nicht als Hindernis für die Einladung der Ukraine in die NATO betrachtet werden.
Einladung der Ukraine in die NATO in Vilnius
Trotz der Invasion ist der ukrainische Staat nicht nur voll funktionsfähig, sondern macht auch Fortschritte bei der Reform des Verteidigungs- und Sicherheitssektors, der Bekämpfung der Korruption und der Verbesserung der Zusammenarbeit mit der NATO.
Die Einladung der Ukraine in die NATO zieht nicht sofort den Bündnisfall nach Artikel 5 des NATO-Vertrages nach sich – der Ukraine jedoch als Anstoß und Ansporn für die Durchführung weiterer Reformen dienen.
Eine Einladung an die Ukraine in Bezug auf die NATO-Mitgliedschaft sollte somit nicht bis „nach dem Krieg“ aufgeschoben werden. Der Prozess sollte so schnell wie möglich beginnen.
Dieser Artikel stützt sich auf die Ergebnisse des Berichts „No Longer a Mésalliance: How Well Prepared Are NATO and Ukraine for Each Other?“, der ursprünglich vom Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien (SCEEUS) veröffentlicht wurde.
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