Jermak ersetzt Bohdan. Was bedeutet das politische Erdbeben im Präsidialamt?
Seit Monaten wurde über den Rücktritt des mächtigen Chefs des ukrainischen Präsidialamtes Andrij Bohdan spekuliert. Nun wurde er vom Präsidenten Selenskyj durch seinen Vertrauten Andrij Jermak ersetzt. Eine leichte Verbesserung der Russland-Beziehungen und eine zurückhaltende Innenpolitik sind zu erwarten.
Schon seit Ende 2019 berichteten ukrainische Medien übereinstimmend über Konflikte in der Umgebung des erst im Mai 2019 angetretenen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Konkret ging es um Konflikte zwischen dem mächtigen Chef des Präsidialamtes Andrij Bohdan, der oft als “Schattenpräsident” und wichtiges Mitglied der Einflussgruppe des Oligarchen Ihor Kolomojskyj abgestempelt wurde, und dem Berater Andrij Jermak, der sich vor allem um die Außenpolitik kümmerte und in dieser oft mehr Gewicht hatte als der eigentliche Außenminister Wadym Prystajko.
Am späten Montagabend meldeten mehrere anonyme Kanäle im Messenger-Dienst Telegram, dass Bohdans Kabinett im Präsidialamtes in der Kyjiwer Bankowa-Straße geräumt wird. Weil es nicht die ersten Gerüchte über den Rücktritt des gelernten Anwalts waren, wurden die Meldungen zuerst mit Vorsicht betrachtet. Doch am Dienstagmorgen wurde es tatsächlich offiziell. Andrij Bohdan ist nicht mehr Chef des Präsidialamtes, der neue Leiter heißt wirklich Andrij Jermak.
Wer ist Andrij Jermak?
Wie Bohdan kommt der 48-jährige Jermak ursprünglich ebenfalls aus dem Rechtsbereich. Seine Kanzlei arbeitet schon lange für die Produktionsfirma Kwartal 95 des Präsidenten Selenskyj. Allerdings hat Jermak auch weitere Verbindungen zum Filmgeschäft. So besitzt er eine eigene Firma, die sich mit der Produktion und dem Vertrieb von Filmen beschäftigt. Außerdem fungierte Jermak höchstpersönlich als Produzent von zwei Filmen. Der aus der Hauptstadt Kyjiw stammende Jurist und Produzent war seit dem Amtsantritt Selenskyjs ehrenamtlich als Berater tätig und hat dabei den Präsidenten auf fast allen Auslandsreisen begleitet.
Die Ursprünge des Konflikts zwischen Bohdan und Jermak liegen wohl in der gestiegenen Bedeutung des Letzteren auch bei innenpolitischen Fragen. Während am Anfang der neue Chef des Präsidialamtes mit diesen Fragen wenig bis gar nichts zu tun hatte, hat sein politisches Gewicht auch in diesem Bereich zugenommen. Denn er hat vor allem in Sachen Russland-Beziehungen viel geleistet. Der Gefangenenaustausch zwischen Kyjiw und Moskau wird in der Umgebung von Selenskyj als Jermaks Verdienst bezeichnet, ebenfalls der weitere Gefangenenaustausch zwischen der Ukraine und den „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk am Jahresende sowie die Verlängerung des Gastransit-Vertrages zwischen dem ukrainischen Energiekonzern Naftohas und dem russischen Giganten Gazprom.
Veränderungen auch in Russlands Präsidialverwaltung
Für diese Leistungen bekam Jermak sogar Lob aus Russland, nämlich von dem damaligen Vizepremier Dmitrij Kosak, der nach den neuesten Veränderungen im russischen Machtsystem zum stellvertretenden Chef der Präsidialverwaltung von Wladimir Putin ernannt wurde – in Russland gilt dieser Wechsel als Aufstieg. Ebenfalls am Dienstag, als Jermak zum Chef des Präsidialamtes ernannt wurde, bestätigte Kremlsprecher Dmitrij Peskow die Gerüchte, Kosak würde die russische Ukraine-Politik von dem früheren Putin-Berater Wladislaw Surkow übernehmen. Surkow gilt als Hardliner und Mastermind des Donbas-Krieges, Kosak gehört dagegen zum wirtschaftsliberalen Kreis, der etwa wegen der Sanktionen skeptisch auf die Fortsetzung des Ostukraine-Krieges blickt.
Nun, man wird mit der Zeit sehen, ob die Beförderung Kosaks wirklich zu neuen Kompromisse im Donbas führen wird und nicht etwa nur dem Zweck dient, durch eine öffentlich „weichere Linie“ die für Russland wichtigen Fragen zu lösen, wie zum Beispiel Wasserlieferungen aus der Ukraine auf die annektierte Krim. Schließlich heißt die Person, die die russische Ukraine-Strategie bestimmt, Wladimir Putin – und nicht Dmitrij Kosak. Doch Jermaks durchaus kluge Initiative, mit dem skeptischen wirtschaftsliberalen Flügel in Russland Kontakte zu pflegen, ist von Selenskyj offenbar nicht unbemerkt geblieben, zudem Jermak – übrigens anders als Bohdan – ursprünglich zum inneren Kreis des Präsidenten gehörte. Die beiden kennen sich bereits aus den 2000er Jahren.
Umso logischer ist es, dass Jermaks Rolle auch in der Innenpolitik gewachsen ist. So wird im politischen Kyjiw gerne die Geschichte erzählt, dass ausgerechnet Jermak Selenskyj überreden konnte, nicht wie geplant den Kyjiwer Bürgermeister Witali Klitschko zu entmachten. Sein Vorgänger Bohdan war klarer Befürworter dieses Projekts, Klitschko hätte durch den ehemaligen Chef des Senders 1+1 von Kolomojskyj und heutigen Parlamentsabgeordneten Olexander Tkatschenko ersetzt werden sollen. Diese riskante Idee wurde abgelehnt – und Jermak lobte den Ex-Boxweltmeister sogar öffentlich.
Die Schwächen des Bohdan
Ein wichtiger Punkt, warum Bohdan trotz seiner Wichtigkeit – etwa in der Kommunikation mit dem Parlament -, in Misskredit geriet, sind wohl seine schlechten Beziehungen mit fast allen wichtigen Akteuren in der heutigen ukrainischen Führung. Es geht nicht nur um persönliche Vertraute des Präsidenten wie eben Jermak oder den Chef des Sicherheitsdienstes Iwan Bakanow, sondern um andere wichtige Figuren wie den durchaus eigenständigen und umstrittenen Innenminister Awakow.
Und auch die Beziehungen zu dem Oligarchen Ihor Kolomojskyj waren offensichtlich nicht reibungslos, obwohl Bohdan sein persönlicher Anwalt war.
Nun übernimmt Jermak, was Selenskyjs Unabhängigkeit selbstverständlich stärken wird. Das bedeutet wahrscheinlich, dass mehr Verhandlungen geführt und mehr Kompromisse eingegangen werden als zuvor. Andrij Bohdan galt als kompromisslos, doch er hatte auch enorme Erfahrung mit fast in allen Lagern der ukrainischen Politik, was ihm im Umgang mit den unterschiedlichen Gruppen im Parlament enorm geholfen hat. Diese Erfahrung, solche Insiderkenntnisse, hat Jermak nicht. Doch insgesamt ist er ein Mann, von dem weniger skandalöse und polarisierende Äußerungen zu erwarten sind, sowohl in der Innen‑, als auch in der Außenpolitik.
Der Wechsel im Präsidialamt ist gleichzeitig ein Signal sowohl an den Westen als auch an Russland. Der Westen, der sich wegen der Rolle von Kolomojskyj immer wieder besorgt zeigte, dürfte mit der optischen Verringerung dessen Einflusses zufrieden sein. In Russland hat man zuletzt die Austragung eines neuen Normandie-Gipfels in Frage gestellt; die Lage an der Frontlinie hat sich in den vergangenen Tagen und Wochen ebenfalls etwas erschwert. Die Ernennung Jermaks und die klare Äußerung des Kremls zur Rolle von Kosak dürfen eine kleine Wende bedeuten.
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