Wie in der Ukraine des Völkermordes an den Roma gedacht wird
In der Sowjetunion wurde Roma der Opferstatus verwehrt. In der unabhängigen Ukraine können sie über die Repräsentation ihres historischen Gedächtnisses frei bestimmen. Von Michailo Tjahlyj
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sahen sich die neuentstandenen Staaten mit der Notwendigkeit konfrontiert, die Erfahrung des zweiten Weltkrieges neu zu bewerten, so etwa das Martyrologium der Besatzung. Es galt nun, das sowjetische Erbe abzustoßen, in dem bestimmten Gruppen wie Juden oder Roma der Opferstatus verwehrt wurde. Die künftige Anerkennung der Leiden dieser Gruppen hing davon ab, welche geschichtspolitischen Pfade das jeweilige Land einschlagen würde. Über die Problematik der Aufarbeitung des Holocausts und die kollektive Erinnerung der postsowjetischen Staaten, darunter die Ukraine, ist ausgiebig geschrieben worden. An dieser Stelle soll der Fokus daher auf die Erinnerung des Völkermordes an den Roma gerichtet werden, insbesondere darauf, wie diese Erinnerung in der ukrainischen Gesellschaft bewahrt wird.
Viele wichtige Fragen
Nach aktuellem Forschungsstand vollzog sich die Vernichtung der Roma auf dem Gebiet der heutigen Ukraine zu Zeiten der deutschen Besatzung an ungefähr 140 Orten.
An einigen dieser Orte wurden ausschließlich Roma ermordet, während sie an anderen Orten gemeinsam mit Juden, sowjetischen Aktivisten, Kriegsgefangenen, Partisanen und Patienten psychiatrischer Einrichtungen eine unter mehreren Opfergruppen darstellten.
Wie gehen die Opfer und ihre Nachkommen heutzutage mit jenen Ereignissen um, die mindestens 12.000 Roma das Leben kosteten? Wobei hier nur die Rede von den Teilen der Ukraine ist, die unter deutscher Besatzung standen, ohne aber die rumänische Besatzungszone zu berücksichtigen, in der mehr als 11.000, mehrheitlich von rumänischem Territorium deportierte, Roma ermordet wurden. Wie interpretiert die Roma-Gemeinschaft die Gründe, den Ablauf und die Folgen der Katastrophe? Wie wird das Thema in der Öffentlichkeit behandelt?
Eine andere Frage betrifft die gesellschaftspolitischen und kulturellen Bedingungen, unter denen die Roma heute leben. Wie wirken sich die Lebensumstände der Roma in der Ukraine auf ihre Möglichkeiten aus, auf den Völkermord aufmerksam zu machen? Fördert die Gesellschaft die Überwindung des Traumas? Ist sie in der Lage, eine historische Lektion aus dieser Tragödie zu ziehen, um ihre Wiederholung für die Roma oder eine andere Minderheit zu verhindern?
Mündliche Überlieferung gegen offizielle sowjetische Erinnerungspolitik
Zunächst ist zu klären, welche Rolle den Roma in der sowjetischen Erinnerungslandschaft zuteilwurde. Studien zeigen, dass von einer gänzlich fehlenden Erinnerung hinsichtlich des Schicksals der Roma in der sowjetischen Kultur nicht die Rede sein kann. Sie wurde vor allem in oraler Tradition innerhalb der Gemeinschaft bewahrt. Dieses Wissen kann entsprechend der Terminologie von Jan und Aleida Assmann dem „kommunikativen Gedächtnis“ zugeordnet werden, dessen Eigenheit darin besteht, dass es sich, erstens, verändert und überschneidet, und, zweitens, innerhalb von drei bis vier Generationen verblasst und schließlich verschwindet.
Die offizielle sowjetische Erinnerungspolitik zielte auf die Infiltration des Massenbewusstseins mit der falschen Vorstellung, das Hitler-Regime habe allen Völkern der Sowjetunion gleichermaßen Vernichtung gebracht. Dies sollte die Massen zur Unterstützung der Staatsmacht mobilisieren. Wenn auch selten, so traten die Roma doch in veröffentlichten Dokumenten, in der Populärliteratur, in Memoiren und Kunstwerken als Opfer der Vernichtungspolitik hervor. Jedoch erschienen sie darin zumeist als nomadische, für die sie umgebende Gesellschaft fremde Gruppe, wenngleich die Nazis in mehr als der Hälfte der bekannten Hinrichtungen sesshafte Roma ermordeten, die in ihre Umgebung integriert waren. Die Darstellung der Opfer als wanderndes Volk prägte die in der sowjetischen Kultur vorherrschende Assoziation der Roma mit dem Asozialen und dem Verbrechen. Von dort aus entwickelte sich eine Wahrnehmung der Opfer, wonach diese ihre Verfolgung selbst verschuldet hatten, und folglich kein Mitgefühl oder Gedenken verdienten. Diese Wahrnehmung hat bis heute starken Einfluss auf die Erinnerungskultur der Ukraine. Doch es gibt auch andere, nicht weniger schwerwiegende Ursachen, die auf den Erinnerungsprozess einwirken.
Bessere Möglichkeiten in der Ukraine dank des Engagements der Zivilgesellschaft
Die ukrainische Gesellschaft unmittelbar nach Erlangung der Unabhängigkeit im Jahre 1991 war kein Monolith. Proeuropäische, nationalistische und prosowjetische (bzw. prorussische) Strömungen ringen bis heute miteinander. Entsprechende unterschiedliche Wahrnehmungen der Vergangenheit haben sich mit der Zeit abgespalten. In dieser Situation der Erinnerungskonkurrenz ist für die Erfahrung der Roma wenig Platz geblieben. Sowohl das prosowjetische, als auch das nationalistische Modell streben nach seiner Verdrängung. Für Erstere sind die Roma keine eigenständige Gruppe, deren totale Vernichtung die Nazis anstrebten; sie sind entweder als ein aktiver Teil des „gesamtsowjetischen“ Widerstands gegen die „deutsch-faschistischen Invasoren“ oder als „sowjetische Zivilisten“ zu betrachten. Für Letztere stellt der Völkermord an den Roma ebenfalls kein Ereignis dar, dem besondere Aufmerksamkeit beizumessen ist, zumal die ukrainische Freiheitsbewegung auf die ethnische Homogenisierung ihres Raumes in sowohl physischer als auch symbolischer Hinsicht abzielte.
Dennoch findet eine Veränderung statt, die durch das aktive Engagement der Zivilgesellschaft und von Nicht-Regierungsorganisationen ermöglicht wird:
- durch die Verbreitung eines „vermenschlichten“ Bildes vom Krieg, d.h. durch vermehrte Aufmerksamkeit für die Leiden der „Durchschnittsmenschen“;
- durch die spürbare Rolle „regionaler“ Erinnerungsmuster und den großen Pluralismus in der Herausbildung von Sichtweisen auf den Krieg;
- durch proeuropäische Integrationsbestrebungen, die alle Regierungen in unterschiedlichem Maße vorantrieben (was, wenn auch sehr langsam, zur Transformation des Bildungssystems hinsichtlich Multikulturalismus, Toleranz und demokratischen Werten beigetragen hat).
Opfer rechtsradikaler Attacken
In der Folge bahnt sich ein Erinnerungsmodell seinen Weg, das als „inklusiv“ bezeichnet werden darf, weil es den verschiedenen Gesellschaftsgruppen das Recht auf eine Stimme im Martyrologium des Krieges einräumt. Zugleich hat der Pluralismus auch eine Kehrseite. Damit sind die rechtsradikalen Gruppierungen gemeint, die sich zu Aktionen gegen Roma zusammentun. Eine besonders brutale Welle solcher Attacken brach im Jahr 2018 los und führte sogar zu Todesopfern. Die lautstarke Austragung ihrer Ressentiments gegen die Roma findet Anklang in der Gesellschaft, was sich negativ auf die Erinnerungskultur in Bezug auf den Völkermord auswirkt.
Offizieller Beschluss der Werchowna Rada
Die Werchowna Rada verkündete 2004 einen Beschluss, den 2. August zum Tag des Gedenkens an die ermordeten Roma in der Ukraine zu erheben. Den in diesem Beschluss vorgeschlagenen Gedenktag bezeichnete man als „Internationalen Tag des Holocausts an den Roma“ (sic!). In der historischen Präambel hieß es: „Während des Zweiten Weltkrieges verschleppten die Hitlerfaschisten gemeinsam mit ihren Kollaborateuren 500 Tausend Roma aus den besetzten Ländern und vernichteten sie im Sinne einer Politik des Ethnozides in Konzentrationslagern“.
Der Genozid erlebt in dieser Erklärung eine „Externalisierung“. Von den tausenden Roma, die in der Peripherie ukrainischer Städte und Dörfer erschossen wurden, ist in dem Beschluss keine Rede. Nichtsdestotrotz sprach sich das Ministerkabinett zusammen mit der Regionalregierung dafür aus, „Maßnahmen auszuarbeiten, um die Dimension, die Anzahl der Opfer und die Orte des nationalsozialistischen Ethnozids an den Roma während des Zweiten Weltkrieges zu erforschen und ein Gedenken an die deportierten und ermordeten Vertreter dieser ethnischen Minderheit zu initiieren“.Ungeachtet dessen, dass der Beschluss bei Weitem nicht vollumfänglich umgesetzt wird, wie es in der Ukraine bei einer großen Menge an Normen der Fall ist, ist seine Bedeutung kaum zu überschätzen. Denn er schafft einen Legitimationsrahmen für Aktivismus und Einflussnahme auf staatliche Organe von Seiten der „Agenten der Erinnerung“, die auf eine Gedenkkultur hinarbeiten.
Über 140 Orte des Massenmordes
In der wissenschaftlichen Literatur ist viel darüber geschrieben worden, wie wichtig „Erinnerungsorte“ für die Bewahrung gesellschaftlicher Vorstellungen über historische Ereignisse sind. Das Konzept von der Bedeutsamkeit des „Erinnerungsortes“ ist beinahe zum Axiom geworden – nach der Definition des französischen Historikers Pierre Nora meint es „jede bedeutsame Einheit materiellen oder immateriellen Charakters, die als Folge des menschlichen Willens oder des Werkes der Zeit zu einem symbolischen Element innerhalb des Erbes einer Nation oder einer anderen Gemeinschaft im weitesten Sinne geworden ist“. Denkmäler für die Umgekommenen stellen den hauptsächlichen – aber bei Weitem nicht den einzigen – Handgriff in der Palette des Erinnerungsinstrumentariums dar.
Von über 140 Orten des Massenmordes sind nur 11 mit Denkmälern versehen, die die Roma als Opfer benennen, oder als Opfergruppe, falls es sich um einen Ort handelt, an dem Angehörige verschiedener Gruppen ermordet wurden. Die wichtigsten Agenten der Erinnerung sind Nichtregierungsorganisationen. Es ist zwischen drei Gruppen zu unterscheiden:
- Initiativen von Roma-NGOs, die entweder selbstständig oder in Zusammenarbeit mit anderen NGOs realisiert und dabei durch internationale und ausländische Stiftungen finanziell unterstützt werden. Die derzeit aktiven Roma-NGOs sind zweifellos die wichtigsten Agenten der Erinnerung, deren Arbeit das Gedenken an den Genozid fördert, die traumatische Erfahrung an breite Gesellschaftsschichten kommuniziert und dieses Wissen damit in ein ukrainisches historisches Narrativ überführt. Ihre Erinnerung kann nicht länger als „abgedämpft“ bezeichnet werden, wie dies früher der Fall war. Wie der Soziologe Slawomir Kapralski es bereits an der Roma-Gemeinschaft in Polen demonstriert hat, so werden auch die ukrainischen Roma heutzutage weitaus mehr an Gedenkakten und der „Erneuerung von Gedenktraditionen“ beteiligt.
- Forschungs- und Bildungsinitiativen, die nicht von Roma-Akteuren ausgehen. In diesem Fall gehen die Initiativen von regionalen und zentralen NGOs außerhalb der Roma-Gemeinde aus, die ihre Projekte mithilfe finanzieller Unterstützung internationaler und ausländischer Stiftungen realisieren. Vertreter der Roma-Gemeinde werden zu diesen Projekten gelegentlich hinzugezogen. So hat beispielsweise die NGO Ukrainisches Zentrum zur Erforschung der Geschichte des Holocausts (Kyjiw) über einen Zeitraum von dreizehn Jahren fünf Projekte umgesetzt, in denen der Völkermord an den Roma eine entweder zentrale oder zumindest gewichtige Komponente darstellte¹. In bestimmten Projektphasen waren Roma-Gemeinden aktiv beteiligt.
- Initiativen ausländischer Institute oder lokale Zentren internationaler Organisationen, zu deren Tagesordnung auch die Bildungsarbeit hinsichtlich des Völkermordes an den Roma gehört. Sie suchen sich ihre Partner bei der Projektumsetzung in der Ukraine in der lokalen Zivilgesellschaft. So betreibt beispielsweise die ukrainische Abteilung der International Renaissance Foundation in Kyjiw unter anderem ein „Roma-Programm“, das sich mit sozialen und rechtlichen Fragen beschäftigt, aber auch die humanitäre Sphäre berührt. Projekte, die der Aufklärung über den Völkermord an den Roma gewidmet sind, wurden in der Vergangenheit durch verschiedene deutsche Stiftungen unterstützt.
Initiativen für Denkmäler
Die existierenden Denkmäler können ebenfalls in drei Gruppen unterteilt werden, die sich mit den oben aufgeführten Agenten der Erinnerung decken und Resultate ihrer Initiativen sind.
Das Denkmal für die in Babyn Jar bei Kyjiw ermordeten Roma ist ein Paradebeispiel der ersten Gruppe. Babyn Jar ist ein Ort, an dem in den Jahren 1941–1943 hauptsächlich Juden ermordet wurden, aber auch Roma, sowjetische Kriegsgefangene, ukrainische Nationalisten, orthodoxe Priester, sowjetische und nationalistische Widerstandskämpfer, Patienten psychiatrischer Einrichtungen, Geiseln und all jene, die in den Augen der Besatzer „verdächtige und unerwünschte Elemente“ darstellten.
Die Arbeiten an dem Denkmal begannen bereits im Jahre 1995 in einer Zusammenarbeit zwischen der Kyjiwer städtischen Roma-Vereinigung „Romanipe“ und dem Architekten und Bildhauer Anatoliy Ihnaschtschenko. Man war bereits im Begriff das Denkmal auf den Sockel zu stellen, als dies plötzlich durch die städtische Administration verboten wurde. Einige Jahre später wurde das einen Planwagen („Kibitka“) darstellende Denkmal nach Kamjanez-Podilskyj überführt und dort in einem Vorstadtbezirk aufgerichtet. Im Jahr 2006 gründete man die Gedenkstätte „Babyn Jar“, doch wurden keine Anstrengungen zur Rückholung des Denkmals unternommen. Erst zum 75. Jahrestag des Massakers von Babyn Jar wurde das Denkmal „Roma-Kibitka“ mit Unterstützung des Kulturministeriums zurück nach Kyjiw gebracht und am 23. Februar 2016 feierlich eingeweiht.
Die zweite Gruppe bilden die Denkmäler, deren Aufstellung durch lokale Gemeinden oder einzelne Gruppen, beispielsweise durch Nachkommen anderer Opfergruppen, initiiert wurden. An keinem dieser Orte wurde ausschließlich Roma ermordet. In der Regel waren sie eine unter vielen Opfergruppen, die entsprechend der heutigen Norm bei den Massenbegräbnissen durch lokale Organisationen einzeln, anstelle einer Zusammenfassung unter dem Euphemismus „sowjetische Zivilisten“, aufgeführt wurden. Dazu zählt beispielsweise die Gedenkstätte im Pirogow-Lewada-Hain im Oblast Poltawa, wo zusammen mit einigen Dutzend ermordeter Roma auch sowjetische Aktivisten und Juden ruhen. All diese Gruppen werden auf den Stelen und Informationstafeln neben dem Zentralkorpus des Denkmals namentlich erwähnt.
Im Oblast Schytomyr entstanden 2019 in drei verschiedenen Siedlungen Denkmäler in der Nähe von Massengräbern ermordeter Roma. Diese Denkmäler bilden die dritte Gruppe, so sie sich doch von den vorausgegangenen nicht nur hinsichtlich der ihnen zugrunde liegenden Initiative unterscheiden, sondern auch durch ihre visuelle, architektonische, ästhetische und didaktische Konzeption. Initiator und Förderer dieser Denkmäler war eine ausländische staatliche Stiftung, namentlich die Berliner „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ (natürlich in Zusammenarbeit mit ukrainischen NGOs und der lokalen Gemeindevertretung). Darin liegt auch der Grund für die Vielfältigkeit der Perspektiven und die breite Rezeption dieser Initiative begründet. Sie vereint die historisch-forschungsorientierte Arbeit zu den Umständen dieser tragischen Ereignisse mit der Bildungsarbeit in lokalen Gemeinden zur Aufklärung über die Ermordung der Roma, die von einer umfangreichen Berichterstattung über die Eröffnungszeremonie über in- und ausländische Kanäle begleitet wurde.
Ungeachtet der Unterschiede zwischen den Denkmaltypen und den Begleitumständen ihrer Entstehung eint sie alle, dass kein einziges von ihnen durch staatliche Organe initiiert wurde, die für die Arbeit in der Kulturbranche und die Bewahrung der Erinnerung verantwortlich zeichnen. In der Ukraine wird des Völkermordes an den Roma auf eine spezifische Weise gedacht, was in erster Linie auf nichtformale Bildung und Gedenkveranstaltungen als ein Verdienst von NGOs zurückzuführen ist.
Gesellschaftlicher Pluralismus als Chance
Ukrainische Roma-NGOs demonstrieren heutzutage eine große Unabhängigkeit von staatlichen Strukturen, klare Prioritätensetzung und Entschlossenheit bei der Erreichung ihrer Ziele. Eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielt dabei auch die Unterstützung von staatlicher Seite, sowie aus ausländischen staatlichen und nichtstaatlichen Quellen. Gedenkinitiativen erfahren nicht in jedem Fall Unterstützung von staatlicher Seite. Dies gilt vor allem dann, wenn die verantwortlichen Organe durch rechte Parteien besetzt sind², obschon dies die Ausnahme und nicht die Regel ist. Die Versuche der Regierung in den Jahren 2014 – 2019, eine verstärkt homogene Perspektive auf die nationale Geschichte durchzusetzen, haben keinen allumfassenden Charakter erlangt³.
Der gesellschaftliche Pluralismus und die Erinnerungskultur haben den ukrainischen Roma die Möglichkeit gegeben, über die Repräsentation ihres historischen Gedächtnisses frei zu bestimmen. Das Kyjiwer akademische Roma-Theater „Romans“ fügte seinem Repertoire ein Stück über die Zerstörung eines Lagers hinzu, dass am Ort der Vernichtung aufgeführt wird. Im Zentrum der Erzählung steht die Frage nach moralischen Entscheidungen und humanistischen Werten. Die Roma-Jugendorganisation „Arka“ organisierte eine Ausstellung über das Schicksal von Roma-Kindern während der Besatzung. Der junge Regisseur und Rom Petro Rusanenko drehte 2017 einen Kurzfilm namens „Erinnern“ über den Versuch ukrainischer Dorfbewohnerinnen, eine junge Romni vor der Ermordung durch ein deutsches Kommando zu retten.
Diese und andere Initiativen regen zum Nachdenken über das Leid und das Schicksal an, das den durchschnittlichen Zivilisten, den Frauen und Kindern widerfuhr, welche im Fadenkreuz der Besatzer standen. Darüber hinaus erscheint die Spezifik des Völkermords an den Roma durch sie in einem Licht, das der historischen Wirklichkeit gerecht wird, wenngleich ihnen eine zur Verteidigung kollektiver, staatlicher und nationaler Vorstellungen anstachelnde Rhetorik fremd ist.
Vergleich mit den Nachbarländern Russland und Belarus
An dieser Stelle sollen noch einige knappe, vergleichende Beobachtungen über die Erinnerungskultur in den Nachbarländern stehen, die ebenfalls die deutsche Besatzung erlebten. Gemeint sind Belarus, wo derzeit drei Denkmäler an die Roma erinnern, und Russland, wo es nur ein einziges gibt.
Die Forschung verweist auf eine Gemeinsamkeit in allen drei Ländern, die darin liegt, dass die staatlichen Organe kein Interesse daran zeigen, an diese Tragödie zu erinnern. Sie verbleibt auf ihrem Platz am Rande des Bewusstseins der Gesellschaft. In Belarus und Russland stehen ihrer Integration in das gesellschaftliche Gedächtnis zudem die dominierenden nationalen Geschichtsmodelle, insbesondere der Kult des „Großen Vaterländischen Krieges“, entgegen. In der Folge überwiegen in Belarus und Russland die Heroisierung und die Entpersonalisierung traumatischer Erfahrungen, während in der Ukraine ein Prozess des Umdenkens und der Vermenschlichung eingesetzt hat.
¹ Das letzte und bedeutendste dieser Projekte war die Ausstellung „Der missachtete Völkermord. Das Schicksal der Roma in der deutschen Besatzungszone der Ukraine, 1941–44“, die mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ ins Leben gerufen wurde.
² Der Leiter der Bildungsabteilung in der Regionalregierung der Oblast Tscherkassy lehnte 2018 die Bitte lokaler Lehrkräfte ab, eine Ausstellung über den Völkermord an den Roma zu eröffnen. Er begründete diese Entscheidung damit, dass er zwar „das Recht der Roma auf Selbstbestimmung respektiere, jedoch die Aufklärung über den Völkermord an den Ukrainern, den Holodomor, für die Priorität“ halte. Doch dergleichen Vorkommnisse sind selten. Im Großen und Ganzen zeigt die Praxis, dass Vertreter der Staatsorgane, wenn sie auch nicht die Initiatoren solcher Veranstaltungen sind, Einladungen doch in aller Regel nachkommen und dabei die Wichtigkeit der Erinnerung an den Völkermord zum Ausdruck bringen. Was die Vertreter staatlicher Kultur- und Bildungsinstitutionen betrifft, so zeigen Museen, Bibliotheken und Lehrkräfte großes Interesse an dem Thema.
³ Das Ukrainische Institut für Nationale Erinnerung wurde beispielsweise für die Verbreitung eines „nationalistischen“ Narrativs kritisiert. Nichtsdestoweniger war das Institut 2016 ein Förderer und Mitorganisator der wichtigen Wissenschaftskonferenz „Der Völkermord an den Roma der Ukraine während des Zweiten Weltkriegs: Studium, Lehre, Gedenken“
Aus dem Ukrainischen von Dario Planert.
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