Einige Stimmen zum Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion
Heute vor 80 Jahren überfiel die Wehrmacht die Sowjetunion. Ukraine verstehen hat aus diesem Anlass einige Ukrainerinnen und Ukrainer befragt, welche Bedeutung dieses Datum für sie hat.
Der Großvater von Gelinada Grinchenko, der ukrainischen Historikerin und Forscherin, musste am 22. Juni 1941 die Dienstreise nach Moskau abbrechen und seine Familie in Charkiw zurücklassen: er zog in den Krieg gegen Nazi-Deutschland. Für seine Mitbürger in der Westukraine waren der Krieg und Gewaltherrschaft durch die Sowjetunion zu diesem Zeitpunkt bereits zur Realität geworden. Nach 5 Jahren als Kriegsgefangener und Ostarbeiter in Deutschland kam er endlich zurück, ohne danach ein Wort über seine Erlebnisse zu verlieren.
In den ukrainischen Bloodlands, wie sie Timothy Snyder bezeichnet hat, zog die Front erst von Westen nach Osten, dann zurück von Osten nach Westen. So gut wie jede ukrainische Familie wurde von zwei totalitären Großmächten überrollt, jede Familiengeschichte ist davon geprägt worden. Für die Ukraine begann der Krieg im März 1939, als ungarische Verbündete der deutschen Wehrmacht die Karpatenukraine besetzten. Im September 1939 wurden weitere ukrainische Territorien in den Krieg einbezogen, als Hitler und Stalin gleichzeitig Polen und die baltischen Staaten angegriffen haben. Am 22. Juni 1941 begann der Krieg, der das gesamte Gebiet der heutigen Ukraine umfasste. Über 10 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer, darunter ungefähr 1,5 Millionen Juden, verloren ihr Leben.
Ukraine verstehen hat sechs prominente Ukrainerinnen und Ukrainer befragt, was für sie der 22. Juni bedeutet, wie der Krieg das Schicksal ganzer Generationen und Völker beeinflusst hat und was zu tun ist, damit sich diese Geschichte nie wieder wiederholt.
Zur Aktualität der Erinnerungen
Das Datum des 22. Juni 1941 verlor nach und nach die Bedeutung, die ihm in Sowjetzeiten beigemessen wurde. Uns wurde gesagt, dass dies der „Beginn des Krieges“ sei. Für die Ukraine begann jedoch der Zweite Weltkrieg am 1. September 1939 – mit den ersten Bomben der Wehrmacht auf die Städte der Westukraine und mit der anschließenden Umsetzung des Molotov-Ribbentrop-Paktes durch die beiden Aggressorstaaten.
Am 22. Juni 1941 begann nur eine neue Etappe des Zweiten Weltkriegs, als die einstigen Verbündeten, die 1939/40 mit der Teilung Europas unzufrieden waren, aufeinanderprallten.
Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Nazi-Deutschland und die Sowjetunion in der ersten Phase des Zweiten Weltkriegs Verbündete waren und gemeinsam das Territorium souveräner Staaten in Osteuropa besetzten. Dies ist besonders wichtig im Zusammenhang mit Putins aktuellen Versuchen, sich dem heutigen Russland außergewöhnliche Verdienste bei der Bekämpfung des Nationalsozialismus anzueignen.
Dr. Olexandr Suschko, Doktor der Geschichte, Exekutivdirektor der International Renaissance Foundation
Die einen kämpften, die anderen wurden aus ihren Häusern vertrieben
Die ambivalente Haltung zu den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs rührt bei mir noch aus der Schulzeit: Im Geschichtsunterricht und am Tag vor dem 9. Mai wurde uns vom Ruhm der sowjetischen politischen Führung und dem Sieg der Soldaten über die Faschisten erzählt; zu Hause hingegen und am 18. Mai auf einer Kundgebung zu Ehren der Opfer des Genozids am krimtatarischen Volk hörte ich das Wort „Sürgün“ – Exil. So bezeichnen die Krimtataren den Völkermord im Jahre 1944, infolgedessen fast die Hälfte des Volkes starb. Nahezu jede krimtatarische Familie kann eine Geschichte über die Deportation erzählen, ebenso wie eine Geschichte über getrennte Familien, denn während der eine Teil der Familie in den Reihen der sowjetischen Armee kämpfte, um ihr Land von den Nazis zu befreien, wurde der andere Teil von NKDW-Kadern aus seinen Häusern vertrieben. Infolgedessen starb aufgrund von frei erfundenen Anschuldigungen des Sowjetregimes gegenüber einem ganzen Volk fast die Hälfte der Krimtataren. Ich selbst wurde im Exil geboren – in Usbekistan, wohin alle meine Großväter und ‑mütter aus Bachtschyssaraj und Umgebung in Güterwaggons deportiert worden, während ihre Eltern im Krieg kämpften. Erst 45 Jahre später wurde den Krimtataren wieder erlaubt, auf die Krim zurückzukehren, doch in dieser Zeit ging ein großer Teil der Kultur, Traditionen und der Identität verloren.
Wenn sich zwei totalitäre Staatsysteme in eine militärische Auseinandersetzung begeben, spielen der Wert von Menschenleben und ihre Schicksale keine Rolle. Deshalb ist ein solcher Krieg, der vor 80 Jahren begann, kein Kampf zwischen Gut und Böse, sondern ein Kampf zwischen Böse und Böse: Nationalsozialismus und Kommunismus.
Für kleine Völker wie die Krimtataren bedeutet das einen tragischen Ausgang: Durch den Verlust der Heimat und durch Repressionen kann ein Volk ausbluten und zerstört werden. Daher besteht eine der Aufgaben des krimtatarischen Volkes heute darin, eine Erinnerungskultur rund um die eigene Geschichte aufzubauen, die keine Opferrolle einnimmt, sondern im Gegenteil Impulse setzt, um nach vorne zu blicken und einen Subjektstatus in der Welt zu erlangen. So haben wir zum Beispiel vor einigen Jahren ein Online-Museum über den Völkermord an den Krimtataren ins Leben gerufen (Tamirlar), bei dem der Schwerpunkt auf einer Kampagne zur Zusammenstellung von Oral Histories der Opfer der Deportationen liegt, die heute mitten unter uns leben. Einer der Leitsätze des Projekts lautet „Erinnere dich an deine Wurzeln, und du kümmerst dich um die Zukunft deiner Kinder“. Er weist auf die Generationenfolge hin und fordert dazu auf, kein passiver Beobachter sein, sondern ein aktiver Gestalter gesellschaftspolitischer und kultureller Prozesse, um eine Wiederholung der Ereignisse vom Juni 1941 zu verhindern.
Alim Alijew, Journalist, Menschenrechtsaktivist, stellvertretender Generaldirektor des Ukrainian Institutes
Demokratie gegen Tyrannei
Zuallererst erinnerte ich mich an die fernen 60er Jahre des letzten Jahrhunderts. Damals wurde in der UdSSR das erste Buch über den 22. Juni 1941 veröffentlicht, von Alexander Nekrich. Aus diesem Buch erfuhren Hunderttausende Sowjetbürger zum ersten Mal einen Teil der Wahrheit über diesen Krieg.
Danach erschienen viele andere Bücher, aber selbst heute, 80 Jahre nach Beginn dieses schrecklichen Krieges, kennen wir nicht die ganze Wahrheit darüber. Zwei totalitäre Regime, Stalins und Hitlers, die in vielen Ländern Dutzende Millionen Menschenleben kosteten, machten ihr Recht auf Weltherrschaft geltend. Stalin gewann, aber es rettete nur Westeuropa. Osteuropa und ein großer Teil Asiens gerieten unter kommunistische Herrschaft, was zu weiteren zig Millionen Toten führte.
Der 22. Juni ist das Datum, an dem sich der Krieg in einen Weltkrieg zu verwandeln begann.
Nach diesem Krieg hat die Menschheit noch nicht verstanden, aber sie hat gespürt, dass der nächste Weltkrieg die gesamte Menschheit zerstören könnte.
Es wurde geglaubt, dass dies der letzte Krieg sein würde, es war so schrecklich und blutig. Es ist aber nicht passiert, und wir werden jedes Jahr Zeugen und sogar Teilnehmer an neuen und neuen regionalen Kriegen.
Im siebten Jahr in Folge leiden wir in der Ukraine unter der Aggression Russlands, das trotz der enormen Verluste in diesem Krieg nichts gelernt hat. Deutschland dagegen nutzte nach 1945 die Chance zu Katharsis und Wiedergeburt auf demokratischer Grundlage.
Die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs zeigt uns einmal mehr, dass die kriminellen Handlungen der Tyrannen nur verhindert werden können, indem die gesamte demokratische Welt vereint ist.
Wir in der Ukraine warten auf eine solche Vereinigung der zivilisierten Welt, um Russland zu Frieden und Demokratie zu zwingen.
Josef Zissels, Menschenrechtsaktivist, Vorsitzender der Vereinigung jüdischer Organisationen in der Ukraine und Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses
Schrecken und Hoffnung
Für mich ist dieses Datum ein Teil meiner Familiengeschichte. Mein Großvater Oleksandr feierte in der Nacht auf den 22. Juni in Kyjiw das Ende seiner Schulzeit. Am nächsten Morgen kam der Krieg in seine Stadt. Heute kann ich mir nur schwer vorstellen, welche Gedanken den Schülern in Kyjiw damals durch den Kopf gegangen sind. Mit Sicherheit empfanden sie eine starke Anspannung, der Krieg war zu diesem Zeitpunkt schon Realität geworden – obschon für ihn noch nicht in unmittelbarer Nähe, nicht in seiner Heimatstadt. Doch jener Morgen war entscheidend für sein weiteres Leben – er meldete sich zunächst als Freiwilliger bei der Luftwaffe, und später, nach einer schweren Verwundung, bei der Infanterie. Ein junger und gutaussehender 18-jähriger Kapitan (Hauptmann), der durch den Krieg jäh erwachsen wurde. Bei Kriegsende war er 22 Jahre alt. Er erlebte den ganzen Krieg mit, heiratete an der Front und hielt im Februar 1945, noch vor Kriegsende, seinen Erstgeborenen – den Bruder meiner Mutter – in seinen Armen.
Ich weiß nicht, wie sein Schicksal ausgesehen hätte, wäre der Krieg nicht gewesen. Doch ich bin unsicher, ob er es einfach gehabt hätte – er war der Sohn eines Unterdrückten/Opfers von Repressionen [він був сином репресованого], daher ließen sie ihn nach dem Krieg nicht in seine Heimatstadt Kyjiw zurückkehren. Ich kann mich noch an seine Erinnerungen entsinnen – sein ganzes Leben lang träumte er davon, in seine Heimatstadt zurückzukehren. Doch dies blieb ihm nicht vergönnt. In den 1960ern erhielt seine Familie einen formellen Brief, darin hieß es, dass sein Vater in einem Lager in Sibirien gestorben sei. Später, als ich bereits als Historikerin tätig war, hatte ich Gelegenheit, die Archivakten zu seinem Fall zu lesen – so erfuhr ich, dass man meinen Urgroßvater bereits 1937 ermordet hatte. Die Familie hatte davon jedoch nichts gewusst. Ich gehörte zur ersten Generation in unserer Familie, die ganze 60 Jahre nach der Erschießung erfahren hatte, was wirklich geschehen war.
Auch meine Großmutter Halyna kommt in dieser Geschichte vor. Ihre Historie ist nicht weniger vielsagend. Sie stammt aus dem Kuban-Gebiet. Mit 16 Jahren ging sie – ebenfalls freiwillig – an die Front. Zuhause war das Leben schließlich auch nicht einfach. Ihre Mutter starb in ihren Dreißigern. Der grausame Vater, der beim NKDW tätig war, heiratete erneut und gab die beiden Töchter aus erster Ehe in die Obhut der Tante. Die beiden Schwestern wollten sich nicht von ihren Verwandten aushalten lassen und gingen beide als Freiwillige an die Front. Meine Großmutter diente bei der Fernmeldetruppe. Die ältere Schwester fiel in der Tschechoslowakei. Meine Großmutter erlebte und überlebte den Krieg, meinen Großvater lernte sie an der Front kennen. Für sie endete der Krieg mit der Geburt ihres Sohnes im Februar 1945 an einem für die sowjetische Armee nicht weniger symbolischen Datum – dem 23. Februar.
Doch dies sind keine persönlichen Anekdoten. Es ist das Leben von Generationen, die mit innerstaatlichen Repressionen und wachsenden internationalen Spannungen fertig werden mussten, die im Zweiten Weltkrieg mündeten. Dieser ist ein gewichtiger Bestandteil ihres Lebens, ein Unheil, das ihr ganzes vorheriges Leben zerstört hat, und zugleich die Aussicht auf einen Neubeginn in sich barg; Umstände, die die Tochter eines NKDW-Kaders mit dem Sohn eines Opfers von Repressionen innerhalb einer Familie aussöhnen konnten.
Prof. Oksana Mikheieva, Doktor der Geschichte, Professorin für Soziologie, derzeit Gastprofessorin an der Europa Universität Viadrina
Ukraine und Europa
Im Zweiten Weltkrieg befand sich die Ukraine zwischen zwei Totalitarismen. Die „Wahl“ zwischen Hitler und Stalin war keine Wahl: Es gab kein „kleineres“ Übel, denn beide waren schrecklich und forderten Millionen von Opfern. Die Ukrainer kämpften entweder an zwei Fronten oder an der Seite eines dieser schrecklichen Monster.
Gleichzeitig waren sowohl der Beitrag der Ukraine zum Sieg über den Nationalsozialismus als auch die Zahl der menschlichen Opfer, die das ukrainische Land erlitten hatte, enorm. Die Ukraine verlor ein Viertel ihrer Bevölkerung (von 42 auf 32 Millionen Menschen). Etwa 3 Millionen Ukrainer starben in der Roten Armee, mehr als 700 Städte wurden zerstört.
Die Geschichte der Ukraine im Zweiten Weltkrieg zwingt uns zu tiefem Nachdenken – auch über die Geschichte Europas.
Dr. Volodymyr Yermolenko, Philisoph, Essayist, Chefredakteur der Onlineplattform UkraineWorld
Das Schweigen brechen
Der 22. Juni ist für mich ein Anlass, meines Großvaters Jakow Iwanowitsch Puzikow zu gedenken, welchen der Krieg in Charkiw heimsuchte, von wo aus er am 23. Juni nach Moskau reisen sollte. Mein Großvater sollte aus dienstlichen Gründen dorthin, sie wollten zu dritt fahren, mit meiner Großmutter und meiner Mutter, die damals noch sehr klein war. Der Krieg trennte sie für fünf lange Jahre, mein Großvater zog sofort in den Krieg, und meine Großmutter wurde mit meiner Mutter in das ferne Ufa evakuiert.
Was weiß ich über den Krieg meines Großvaters? Sehr wenig, denn er wurde gefangen genommen, nach Deutschland in ein Kriegsgefangenenlager gebracht und wäre bestimmt gestorben, wäre nicht eine Reihe von günstigen Umständen zusammengekommen. Ein deutscher „Bauer“ nahm ihn zur Arbeit auf seinem riesigen Bauerngut bei sich auf. So wurde mein Großvater von einem Kriegsgefangenen zu einem Ostarbeiter, einem Arbeiter „aus dem Osten“, der den gesamten Krieg über sehr hart schuftete, nach Kriegsende noch in der Sowjetarmee diente und erst 1946 nach Hause zurückkehrte. Meine Mutter kann sich bis heute nicht ohne Tränen an seine Rückkehr erinnern, sie war die erste, die ihn durch das Fenster sah und natürlich nicht erkannte, sie rief der Großmutter zu, dass da ein schauriger und zotteliger Opa im Mantel im Hof stehe und ihnen in die Fenster schaue…
Mein Großvater starb, als ich neun Jahre alt war, und ich kann mich kaum noch an ihn erinnern. Er hat mir nie von seinem Krieg erzählt, aber ich weiß noch genau, wie ich einmal von meiner Mutter wissen wollte, warum unser Großvater nicht zum „Unterricht für Courage“ in die Schule eingeladen wird, um vor den Schülern zu sprechen – er war doch schließlich im Krieg! Damals, zu Sowjetzeiten, besuchten immer am 9. Mai Veteranen die Schulen und erzählten von kriegerischen Begebenheiten, von ihren Schlachten, ihren Auszeichnungen. Ich erhielt keine Antwort, und meine kindliche Fantasie stellte sich eine geheime Mission vor, mit der mein Großvater während des Krieges betraut gewesen war und von der man niemandem erzählen könne.
Heute bin ich mir sicher, dass meine Faszination für das Thema Zwangsarbeit als Kriegsphänomen sowie für Oral History als Forschungsmethode darin, in den unerzählten Geschichten meines Großvaters, seinen Ursprung hat. Der Krieg hat ihm nicht nur viele Freunde genommen und an seiner Gesundheit gezehrt, über den Krieg konnte weder gesprochen noch an ihn erinnert werden. Mit meiner Forschung versuche ich, ihm eine Stimme zu geben…
Prof. Dr. Gelinada Grinchenko, Doktor der Geschichte, Professorin für Ukrainistik an der Karazin-Universität, Charkiw
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