Stalins Krieg gegen die Ukraine

Prof. Dr. Gerhard Simon rezen­siert Anne App­le­baums „Roter Hunger: Stalins Krieg gegen die Ukraine“, die erste große Mono­gra­phie zum Holo­do­mor, die jetzt in deut­scher Sprache vorliegt.

Dies Buch ist keine leichte Lektüre. Wenn man sich als Leser auf die vielen furcht­ba­ren Schick­sale von Men­schen ein­lässt, die hier erzählt werden, dann fragt man sich, ist dies noch Geschichte oder schon Apo­ka­lypse? Ande­rer­seits: Wie war es denn im Drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg, in den Schüt­zen­grä­ben des Ersten Welt­kriegs oder gar der Holo­caust? Eins ist gewiss: Die Kate­go­rien der poli­ti­schen oder der Sozi­al­ge­schichte reichen nicht aus, um ver­ste­hend nach­zu­voll­zie­hen, was hier erzählt wird, wenn zum Bei­spiel Mitleid zum Ver­bre­chen per­ver­tiert. Aber die Geschichte als Wis­sen­schaft ist ein Kom­mu­ni­ka­ti­ons­in­stru­ment und auch ein Schutz­man­tel gegen die Apokalypse.

For­schungs­stand

Das Buch von Anne App­le­baum ist die erste große Mono­gra­phie zum Holo­do­mor, die jetzt in deut­scher Sprache vor­liegt. Sie beruht auf der umfang­rei­chen ukrai­ni­schen und eng­lisch­spra­chi­gen For­schung der ver­gan­ge­nen drei Jahr­zehnte und macht deren Ergeb­nisse erst­mals einer breiten Leser­schaft zugäng­lich. Leider berück­sich­tigt diese Mono­gra­phie nicht die deutsch­spra­chige Ukrai­ne­for­schung. Die wich­tigste ein­schlä­gige Publi­ka­tion: Ver­nich­tung durch Hunger. Der Holo­do­mor in der Ukraine und der UdSSR. Hrsg. Manfred Sapper u. a. 2004 (= Ost­eu­ropa 54 ‚12/​2004) kommt in den wesent­li­chen Fragen zu ganz ähn­li­chen Ergeb­nis­sen, auch wenn die lebens­welt­li­che Viel­falt und Kon­kret­heit von Anne App­le­baum uner­reicht sind.

Der Begriff Holo­do­mor meint im Ukrai­ni­schen Tötung durch Hunger (holod=Hunger; moryty= umbringen). 

Seit dem Ende des Sowjet­kom­mu­nis­mus wird die große Hun­gers­not in der Ukraine 1932/​33 mit diesem Ter­mi­nus bezeich­net, der zuvor schon seit den 1970er Jahren in der ukrai­ni­schen Dia­spora ver­wen­det wurde. Bei diesem Ter­mi­nus schwingt mit, dass die große Hun­gers­not men­schen­ge­macht, also ver­meid­bar gewesen ist, dass das Stalin-Regime poli­tisch dafür ver­ant­wort­lich ist und dass dieses Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit vor allem, wenn auch kei­nes­wegs aus­schließ­lich gegen die Ukrai­ner gerich­tet war.

Im Zentrum der Erzäh­lung dieses Buches steht das Sterben und Über­le­ben im ukrai­ni­schen Dorf während des Holo­do­mor, der auf seinem Höhe­punkt im Früh­jahr 1933 die meisten Opfer for­derte, als alles Essbare in den Dörfern zwangs­kon­fis­ziert war und Mil­lio­nen Men­schen ver­hun­ger­ten. Die Zahl der Opfer beträgt nach der­zei­ti­gem Wis­sens­stand etwa 4 Mil­lio­nen in der Ukraine. Hinzu kommen weitere Mil­lio­nen in Kasach­stan, an der Wolga und im Nordkaukasus.

Mit großer Anschau­lich­keit schil­dert die Autorin Hun­derte von Ein­zel­schick­sa­len, die zumeist auf Augen­zeu­gen­be­rich­ten aus der Dia­spora seit dem Zweiten Welt­krieg oder auf Zeit­zeu­gen­be­rich­ten beruhen, die in post­so­wje­ti­scher Zeit gesam­melt wurden.

Denn es gehört zu den infamen Zügen des Holo­do­mor, dass er in der Sowjet­union nicht nur geleug­net wurde, jede öffent­li­che Erwäh­nung war unter Strafe ver­bo­ten. Der Holo­do­mor sollte aus dem Gedächt­nis gelöscht werden. 

Die Sowjets gingen von der zutref­fen­den Ein­schät­zung aus: Was nicht erin­nert wird, ist nicht gewesen. Dennoch über­lebte die Erin­ne­rung an die große Hun­gers­not in münd­li­chen Erzäh­lun­gen in den Fami­lien, in ver­steck­ten Auf­zeich­nun­gen und in der großen Dia­spora nach 1945.

Mit den Men­schen starb oft auch die Mensch­lich­keit, denn – das zeigen viele Berichte – wer hungert, wird böse und unbe­re­chen­bar, bevor er in Apathie ver­sinkt. Die erlern­ten mora­li­schen Bremsen ver­sa­gen. Manche ver­fal­len in Wahn­sinn. Manch­mal steht am Ende der Kan­ni­ba­lis­mus. Opfer der Hun­gers­not wurden auch die Volks­kul­tur, die Lie­der­sän­ger, die Fes­tags­bräu­che und die kirch­li­chen Bindungen.

Wie kam es zum Holodomor?

Wie kam es zu der Hun­gers­not, die nicht die unmit­tel­bare, sondern nur die indi­rekte Folge der Kol­lek­ti­vie­rung war, denn diese lag schon zwei bis drei Jahre zurück? Gab es aus Stalins Sicht eine Ratio dafür, Mil­lio­nen Men­schen ver­hun­gern zu lassen? Aus­ge­löst wurde das Mas­sen­ster­ben in den Dörfern durch uner­füll­bar hohe Ablie­fe­rungs­quo­ten für Getreide und andere land­wirt­schaft­li­che Pro­dukte und durch die Zwangs­re­qui­rie­rung aller Lebens­mit­tel bei den Bauern wegen Nicht­er­fül­lung dieses Ablieferungssolls.

Aber Stalin sah in der Nicht­er­fül­lung des Ablie­fe­rungs­solls poli­ti­schen Wider­stand sowohl der Bauern als auch der Kom­mu­nis­ten in der Ukraine. „Wir können die Ukraine ver­lie­ren“ war seine Obses­sion. Denn die Ukrai­ni­sie­rung im zurück­lie­gen­den Jahr­zehnt hatte Kultur und Selbst­be­wusst­sein der Ukrai­ner gestärkt, es gab eine Tendenz „weg von Moskau“; der Sowjet­fö­de­ra­lis­mus drohte zur Rea­li­tät zu werden.

Für Stalin war deshalb das Aus­hun­gern des ukrai­ni­schen Dorfes ein Instru­ment im Kampf gegen das ukrai­ni­sche Nationalbewusstsein. 

Der Hun­gers­not folgten unmit­tel­bar eine umfas­sende Säu­be­rung aller ukrai­ni­schen kul­tu­rel­len und wis­sen­schaft­li­chen Ein­rich­tun­gen sowie die Zer­schla­gung der ört­li­chen und regio­na­len Ver­wal­tungs­in­sti­tu­tio­nen. Aus Stalins Per­spek­tive stand der Hunger im Dienst des Kampfes für die Sowje­ti­sie­rung der Ukraine und gegen die Ukrainisierung.

Aufbau und Fragestellung

Der Aufbau der Mono­gra­phie von Anne App­le­baum folgt einer sorg­fäl­ti­gen Dra­ma­tur­gie. Am Anfang steht eine aus­führ­li­che Dar­stel­lung der Revo­lu­tion von 1917 und des fol­gen­den Bür­ger­kriegs, ein­schließ­lich der Bau­ern­auf­stände von 1919 und der ersten Hun­gers­not von 1921. Es folgen Kapitel über die Ukrai­ni­sie­rung und die Zwangs­kol­lek­ti­vie­rung. Nach den im Zentrum des Buches ste­hen­den Abschnit­ten über den Holo­do­mor geht die Autorin ein auf Ver­schwei­gen und Leug­nung der großen Hun­gers­not. Am Schluss stehen Abschnitte über die Wie­der­kehr der Toten und ihre Rolle in der neuen Ukraine nach 1991.

Eine lei­tende Fra­ge­stel­lung ist die nach der Kon­ti­nui­tät der bol­sche­wis­ti­schen Politik.

Es zeigt sich, dass wich­tige Repres­si­ons­in­stru­mente während des Holo­do­mor bereits in und nach der Revo­lu­ti­ons­zeit ent­wi­ckelt worden waren: die Kon­fis­zie­rung der Ernte oder das Auf­stel­len „schwar­zer Listen“ von Dörfern, die ihr Ablie­fe­rungs­soll nicht erfüllt hatten. 

Vor allem zeigt die Autorin durch­ge­hend die zen­trale Rolle der Gewalt in der Politik. Die von oben aus­ge­hende Gewalt hat nicht nur das Ver­hal­ten auch der Unter­ge­be­nen geprägt, sondern gene­rell der Gesell­schaft und den Men­schen ihren Stempel aufgedrückt.

Die Rolle der Geheimpolizei

Ein­drucks­voll wird in diesem Buch auch die zen­trale Rolle der Geheim­po­li­zei (OGPU, Ver­ei­nigte Staat­li­che Poli­ti­sche Ver­wal­tung) deut­lich, nicht nur als Exe­ku­tor, sondern auch als Quelle der Infor­ma­tion. Stalin per­sön­lich hat die Sowjet­union, weil er selber kaum reiste, weit­ge­hend so gesehen, wie die Geheim­po­li­zei sie ihm in ihren Berich­ten vor Augen stellte. Er glaubte deshalb nicht an die Hun­ger­to­ten in den Dörfern, er hatte sie ja nicht gesehen. Die vielen anderen Berichte, in denen das Gegen­teil stand, igno­rierte und ver­höhnte er. Dagegen glaubte er offen­bar an die nicht enden­den kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­ren Ver­schwö­run­gen der Ukrai­ner, die von der OGPU erfun­den wurden, um ihre Exis­tenz zu rechtfertigen.

In der post­so­wje­ti­schen Ukraine, ins­be­son­dere in den Jahren der Prä­si­dent­schaft Wiktor Juscht­schen­kos, wurde das Geden­ken an den Holo­do­mor zu einem Instru­ment der natio­na­len Identifikation. 

Dabei kam es auch zu unzu­läs­si­gen Über­trei­bun­gen, etwa zu über­höh­ten Opfer­zah­len und bei einigen ukrai­ni­schen Autoren zur Gleich­set­zung des Holo­do­mor mit dem Holo­caust. Dies ist nicht nur falsch, sondern gerade in Deutsch­land fatal. Bei uns wird der Holo­do­mor nur dann die ihm gebüh­rende größere Auf­merk­sam­keit finden, wenn für jeder­mann klar ist, diese beiden großen Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit stehen nicht in Opfer­kon­kur­renz zueinander.

„Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine“ erschien im April 2019 im Siedler Verlag. Anne App­le­baum stellte ihr Buch auf Ein­la­dung des Zentrum Libe­rale Moderne in Kooper­ar­tion mit der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zeitung am 13.05.2019 in Berlin vor.

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