Die verdeckte russische Invasion, der Minsker Prozess und die entstehende ukrainische politische Nation
Was hat der Krieg im Osten der Ukraine mit der stockenden Dezentralisierungsreform zu tun? Und unter welchen Umständen ließen sich die fortwährenden Kämpfe im Donbas beenden? Von Andreas Umland
Nach mehr als drei Jahren Krieg in der Ostukraine und vielen erfolglosen Lösungsansätzen wird eine dauerhafte Zementierung der derzeitigen Situation im Donezbecken (Donbas) immer wahrscheinlicher. Weder die Genfer Deklaration vom Frühjahr 2014 noch die beiden Minsker Vereinbarungen oder der ukrainische Vorschlag einer großen UN-Friedensmission für den Donbas haben es vermocht, Moskau zum Einlenken zu bewegen. Putins kürzlicher Vorschlag für eine UN-Mission mit einem eng begrenzten Mandat zum Schutz der OSZE-Beobachter war entweder ein taktischer Zug oder ein Propagandatrick.
Die Ukraine in der machtpolitischen Kalkulation des Kremls
Sollte die russische Führung weiterhin annehmen, dass die ökonomischen Verluste, das heißt die Okkupationsausgaben und Sanktionseffekte, unter den politischen Kosten einer Aufgabe der besetzten Gebiete und Einstellung der Kampfhandlungen liegen, wird der heutige Zustand womöglich über Jahre anhalten. Der Kreml gewinnt vor allem innenpolitisch durch seine Low-Intensity-Warfare im Osten der Ukraine insofern, als er damit die ukrainische Europäisierung als potenzielles postsowjetisches Gegenmodell zum Putinsystem erschwert und so mittelbar die Stabilität der russischen Kleptokratie sichert. Dieser Gewinn mag den zynischen Machtmenschen in Moskau auch in Zukunft hoch genug erscheinen, ihr derzeitiges Spiel im Donezbecken ohne Rücksicht auf ukrainische und eigene Verluste weiterzutreiben.
Die Ergebnisse der internationalen Verhandlungen glichen bislang einem Trauerspiel
Die Ergebnisse der internationalen Verhandlungen glichen daher bislang einem Trauerspiel. Bis heute wurde noch kein einziger Punkt der Minsker Vereinbarungen von 2014 und 2015 erfüllt. Ob und wann die ständig laufenden Verhandlungen in Minsk signifikante Fortschritte bringen, hängt wesentlich von der Resolutheit und Geschlossenheit der EU bei der Fortführung des Sanktionsregimes ab. Die Einheit des Westens im Umgang mit Russland sowie die allgemeine weltpolitische Kräftekonstellation wird die Interessenlage im Kreml und seine Bereitschaft bestimmen, nach einer nachhaltigen Lösung des Konflikts im Donezbecken zu suchen.
Selbst eine Einstellung der Kampfhandlungen und ein Einfrieren des Konfliktes, wie bei ähnlichen postsowjetischen Auseinandersetzungen in Georgien (Abchasien/Südossetien) oder Moldau (Transnistrien) geschehen, ist derzeit nicht abzusehen. Hauptgrund dafür ist, dass eine Beruhigung des Donbas-Konflikts eine vom Kreml ungewünschte Stabilisierung des ukrainischen Staates nach sich ziehen würde. Die inneren Spannungen in der Ukraine würden zurückgehen, Auslandsinvestoren würden in die Ostukraine kommen, die Menschen um die jetzigen Kampfgebiete herum würden Hoffnung schöpfen usw. Die ukrainische Gesellschaft und Wirtschaft würden sich freier, konzentrierter und dynamischer entwickeln können. All das ist nicht im Interesse der russischen Kleptokraten, da in diesem Fall viele Russen auf die Idee kommen könnten, dem ukrainischen Beispiel einer Demokratisierung und Annäherung an die EU zu folgen.
Die Dezentralisierungsreform als Kollateralschaden des Donbaskonflikts
Freilich werden die Minsker Abkommen, insbesondere deren politische Teile, auch von ukrainischer Seite nur unter westlichem Druck, stockend und partiell umgesetzt. Beispielsweise hat die Ukraine die lokale Sonderautonomie „bestimmter Regionen der Gebiete Luhansk und Donezk“ – also der derzeit faktisch von Russland okkupierten Territorien in der Luhansker und Donezker Oblast – noch nicht in den Verfassungsrang erhoben und die entsprechende Grundgesetzreform zur Dezentralisierung nicht umgesetzt. Dies hat triftige Gründe.
Die Ukraine unterschrieb die Minsker Vereinbarungen quasi mit dem Revolver an der Schläfe, nämlich vor dem Hintergrund blutiger Schlachten mit regulären russischen Truppen bei Ilowajsk (September 2014) und Debalzewe (Februar 2015). Es drohte eine Ausweitung der von Moskau kontrollierten Gebiete im Donezbecken, wenn nicht sogar ein Versuch des Kremls, noch tiefer ins Landesinnere vorzudringen. Nur vor diesem Hintergrund sind auch die eigentlich absurden Vereinbarungen zu verstehen, bedeutet doch der in den Dokumenten festgehaltene „Sonderstatus“ für die militärisch okkupierten Territorien eine offizielle Belohnung russischer Aggression. Die verfassungsmäßige Umsetzung des Sonderstatus’ wird daher nur in dem Falle realistisch werden, wenn er lediglich de jure, nicht jedoch de facto spezielle Rechte für die derzeit von Russland und seinen ostukrainischen Kollaborateuren besetzten Gebiete einräumt.
Die Verfassungsreform zur Dezentralisierung ist ein – das wird oft im Westen verkannt – sowohl von den Minsker Vereinbarungen als auch dem Assoziierungsabkommen mit der EU unabhängiges Projekt. Bedauerlicherweise wurde diese Reform jedoch 2015 mit dem notorischen Sonderstatus in einer umfassenden Verfassungsänderungsnovelle gebündelt. Dies war eine unglückliche, auf westlichen Druck bzw. russische „reflexive Kontrolle“ zustande gekommene Kombination. Da der Sonderstatus im Angesicht fortgesetzter russischer Kampfhandlungen in der Ukraine politisch nicht durchsetzbar ist, wird damit nun auch die ukrainische Dezentralisierung sabotiert – ganz im Sinne des Kremls.
Der Kreml, die sog. Separatisten und der ukrainische Nationalstaat
Die konsequente Weigerung der ukrainischen Regierung, mit den prorussischen Separatisten direkt zu verhandeln, wird im Westen häufig als Hindernis für eine mögliche Konfliktlösung gesehen. Tatsächlich ist Kyjiw jedoch an einer Beilegung der Konfrontation interessiert. Der Kreml hingegen möchte – und das ist für postsowjetische Politikbeobachter leicht durchschaubar – in der Ukraine wiederholen, was er schon zu Sowjetzeiten in annektierten Gebieten oder auch im postsowjetischen Tschetschenien betrieb: Er will die Diskussion um die Lösung des jeweiligen Konflikts in die Nation der von ihm de facto kontrollierten Territorien hineinverlegen und als angeblich unbeteiligter Dritter am Rande stehen. Diese „Tschetschenisierung“ der Konfliktlösung – so benannt nach Anwendung dieser Methode in Tschetschenien – ist für das Putinsystem nicht zuletzt aus innenpolitischen Gründen wichtig. Auf diese Weise kann der Kreml die Mär vom „Bürgerkrieg“ in den Konfliktgebieten aufrechterhalten und eine innerrussische Diskussion nationaler Verantwortung für das eigene Handeln und das seiner Handlanger in der Ukraine unterdrücken.
Ein nachhaltiger Kompromiss zwischen den Konfliktparteien wird daher weniger von der Beziehung Kiews zu den Separatisten abhängen, als davon, ob und wann der Kreml Interesse an einer wirklichen Lösung des Donbasproblems entwickelt. Dieses Interesse wiederum wird in Moskau nur dann entstehen, wenn die Kosten einer fortwährenden Okkupation den politischen Gewinn ihrer Fortsetzung für Putin & Co. übersteigen. Sobald dieser Zustand erreicht wird, dürfte es eine schnelle Übereinkunft geben. Am wahrscheinlichsten scheint derzeit eine Kombination aus provisorischer internationaler Administration und schwerbewaffneten UNO-Friedenstruppen (womöglich in Zusammenarbeit mit der OSZE und/oder EU) in den besetzten Gebieten. Das könnte eine Demilitarisierung und Stabilisierung der Region sowie Kommunalwahlen ermöglichen. Nach einer Übergangszeit würde dann der ukrainische Staat mit all seinen Institutionen in die derzeit besetzten Gebiete zurückkehren.
Dies wird freilich nicht problemlos verlaufen. Die heute stattfindende Nationalstaatsbildung der Ukraine wird durch den Krieg Putins gegen die Ukrainer zwar in vieler Hinsicht beschleunigt. Leider fördert dieser Krieg aber auch zunehmend pathologische Entwicklungen, etwa in der ukrainischen Bildungs‑, Sprachen- und Erinnerungspolitik. Hier müssen die EU, der Europarat, die OSZE und der Westen insgesamt ihren Einfluss geltend machen. Einige unglückliche Schritte Kiews hatten es dem Kreml 2014 erleichtert, die Krimannexion und die verdeckte Invasion im Donezbecken gegenüber dem heimischen Publikum zu rechtfertigen. Der Propagandadiskurs der Kremlmedien hat erreicht, dass bei einem Großteil der russischen Gesellschaft und einigen westlichen Beobachtern die hybride russische Aggression gegen die Ukraine als ein „Bruderkrieg“ erscheint, der auf angeblich existentielle innerukrainische Spannungen zurückgehe.
Es gibt nicht wenige ethnisch russische Ukrainer auf Kyijwer Seite, die für eine ukrainische politische Nation kämpfen
Die Tragikomik dieser Terminologie besteht darin, dass dies ein weit „brüderlicherer“ Krieg ist, als sich das viele in Russland vorstellen. Die Verkehrssprache eines Großteils der ukrainischen Truppen, einschließlich einiger Freiwilligenverbände, ist Russisch. Es gibt nicht wenige ethnisch russische Ukrainer auf Kyjiwer Seite, die für eine ukrainische politische Nation kämpfen – und nicht für einen „ukrainischen Faschismus“, wie es in der russischen Propaganda kolportiert wird. In dem Maße, wie in Russland bekannt wird, dass viele der ukrainischen Kämpfer und Opfer russischer Kriegsführung Russischsprecher bzw. sogar Russen sind, dürfte auch in der russischen Bevölkerung der Zuspruch für – die auch offiziell vom Kreml bestätigte – russische „Hilfe“ für die Separatisten sinken. Mit wachsender Informiertheit, Reue und Scham der Russen über die ukrainischen Abenteuer ihrer Führung und deren Folgen werden sich Möglichkeiten einer schrittweisen Versöhnung Russlands mit der Ukraine eröffnen.
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