„Gebt uns Eisen, wir geben unsere Leben“
Roman Schwarzman mit Marieluise Beck bei der Grundsteinlegung des Monumentes zum Gedenken der getöteten Juden und Jüdinnen in Odesa, 2021
Warum der Holocaust-Überlebende Roman Schwarzman seit einem Monat nicht mehr in den Keller flüchtet, wenn Flugalarm über Odesa dröhnt und was ihm Kraft gibt, täglich ins Büro zu fahren, um von dort aus Ghetto- und KZ-Überlebenden sowie Angehörigen der jüdischen Gemeinde von Odesa zu helfen – darüber sprach mit ihm Ira Peter.
Über 20.000 jüdische Menschen lebten seit 1941 im Ghetto Berschad auf dem heutigen Gebiet der Südukraine. Als die sowjetische Armee es drei Jahre später befreite, waren mehr als die Hälfte von ihnen verhungert oder erschossen worden. Roman Schwarzman jedoch hatte überlebt. Achtzig Jahre später bedroht ein anderer Diktator sein Leben und das von über 40 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern.
Roman Markowitsch, Sie sind zu Hause in Ihrer Wohnung in Odesa. Im Hintergrund höre ich Ihre Frau. Wie geht es Ihnen heute?
Mehr oder weniger gut. Wir arbeiten und folgen dem Plan, den wir in der Organisation für die aktuelle Situation entworfen haben. Ich bereite mich außerdem darauf vor, am 21. Oktober in Berlin an einer Konferenz teilzunehmen. Danach lädt man mich in den Bundestag ein.
Sie scheinen noch genauso aktiv zu sein wie vor einem Jahr, als wir uns in Ihrem Büro getroffen hatten. Dabei muss der Krieg auch Ihr Leben sehr verändert haben. Wie haben Sie den 24. Februar 2022 erlebt?
Der Angriffskrieg war nicht vorhersehbar gewesen. Obwohl es Drohungen von Seiten der Russländischen Föderation gab und seit 2014 auch einen Krieg im Osten unseres Landes. Doch dass man die Ukraine erneut auf tückische Weise überfällt, wie es Adolf Hitler im Juni 1941 getan hat – das war unerwartet und bis heute schwer zu begreifen. Niemand hätte gedacht, dass im 21. Jahrhundert ein solches faschistisches Monster wie das aus dem heutigen Russland auftaucht.
Wie hat der Krieg Ihren Alltag verändert?
Vor allem in den ersten Monaten war es ein regelrechter Alptraum. Es gab Raketenbeschuss, Luftalarm. Meine Frau und ich rannten jedes Mal in den Keller. Wir hatten immer eine kleine Notfalltasche griffbereit. Dort lagen Dokumente drin, Wasser, etwas Brot. Wir wohnen im zehnten Stock. Den Aufzug darf man bei Alarm nicht benutzen. Der Keller war im Frühjahr noch sehr kalt und ist auch so nicht als Schutzraum geeignet. Dort saßen dann auch Kinder und Schwangere mit uns oft stundenlang herum.
Das Leben ist nicht mehr so sorgenfrei wie früher. Heute wache ich immer mit dem Gedanken auf: Wird es heute Flugalarm geben? Werde ich im Büro ankommen? Im Grunde besteht das Leben nur noch aus Alarm. Das ist natürlich grauenvoll. Doch ich muss Ihnen sagen, vor einem Monat habe ich die Entscheidung getroffen, nicht mehr in den Keller zu rennen, wenn der Alarm losgeht. Wir haben die Jahre 1941 bis 1944 überlebt, als die deutschen Faschisten uns vernichteten. Wir verstecken uns nicht mehr. Deshalb gehe ich jetzt wieder jeden Tag zur Arbeit. Der Alarm schellt durch die Straßen und wir sitzen im Auto und fahren zum Büro. Denn auch bei Luftalarm kommen Menschen zu uns, vor allem unsere Alten. Es gibt immer etwas zu tun. Wir unterbrechen unsere Arbeit nicht für einen einzigen Tag.
Wie sieht Ihre Arbeit für den Verband der Ghetto- und KZ-Überlebenden und die jüdische Gemeinde in Odesa derzeit aus?
Wir arbeiten daran, Menschen auf das Schlimmste, Gott möge uns davor bewahren, vorzubereiten, so dass sie einen Vorrat an Nahrungsmitteln, Wasser und Medikamenten haben. Dabei unterstützen und das Zentrum Liberale Moderne und jüdische Organisationen weltweit. Viele aus unserem Verband sind mit von uns organisierten Bussen ins Ausland gefahren, nach Deutschland, Israel, Rumänien oder auch Österreich. Auf diese Weise sind bereits 5000 Menschen aus der Ukraine ausgereist. Es sind ja sehr alte Menschen, einige sitzen im Rollstuhl, manche mussten liegend transportiert werden und befinden sich im Ausland in Krankenhäusern. Aus Odesa ist jedoch kaum einer weg, da es hier relativ ungefährlich war. Wir halten engen Kontakt zu allen, die hier geblieben sind, und schicken ihnen nach Hause Pakete mit Nahrungsmitteln.
Vor einem Jahr haben Sie bei der Grundsteinlegung für das bisher größte Holocaust Mahnmal in Odesa eine Rede gehalten. Sie hatten sich stark dafür eingesetzt, dass an dem Ort des Massakers an über 20.000 jüdischen Menschen im Jahr 1941 ein Erinnerungsort entsteht. Wie ist der aktuelle Stand?
Es ist ein Projekt, das die Stadt gemeinsam mit dem Zentrum Liberale Moderne realisieren wollte. In der Zwischenzeit wurde aus verschiedenen Bewerbungen der beste Entwurf für das Memorial ausgewählt. Alles war darauf ausgerichtet, es im neuen Jahr einzuweihen. Doch das faschistische Russland hat nicht nur die Pläne von Tausenden Menschen durchkreuzt, sondern auch unser Projekt und so viele andere, die der Erinnerung an Opfer des Faschismus dienen sollten. Natürlich ist jetzt die Aufgabe der hiesigen Verwaltung, alle Ressourcen dafür aufzuwenden, um die Stadt zu verteidigen. Auch das Zentrum Liberale Moderne setzt aktuell seine Mittel und personellen Kräfte dafür ein, uns bei einem möglichst raschen Sieg zu unterstützen.
Welche Parallelen sehen Sie im aktuellen Krieg und dem Zweiten Weltkrieg?
Ich kann sagen, dass Putin ein verdienter Schüler Hitlers ist. Denn er hat als ehemaliger KGB-Mitarbeiter sehr gut die Theorie und Praxis gelernt, wie man einen Vernichtungskrieg führt, vor allem auch, wie man die zivile Bevölkerung vernichtet. Er will praktisch unsere gesamte Bevölkerung vernichten, auch unsere Infrastruktur, sogar Krankenhäuser und Schulen. Hitler und Putin sind Zwillingsbrüder. Deshalb wächst der Hass in der Ukraine gegenüber allem Russischen. Der Hass bei den Menschen in Russland gegenüber der Ukraine ist hingegen anerzogen. Ihn habe ich in Form von Witzen gegenüber ukrainischen Delegationen erlebt, wenn wir früher zum Beispiel in Moskau an Konferenzen teilnahmen.
Putins Begriff der „Denazifizierung“ ist reine Übertragung aus dem 20. ins das 21. Jahrhundert. Während im 20. Jahrhundert eine „Endlösung für die Judenfrage“ gesucht wurde, benutzt Putin den Begriff heute, um die Ukraine völlig zu zerstören. Er behauptet, es gab die Ukraine nicht, es sei ein Land, das erfunden worden ist. Der eine hat sechs Millionen Juden vernichtet. Der andere will 40 Millionen Ukrainer vernichten. Der kollektive Putin, er und all seine Unterstützer, sind Terroristen, weil sie Zivilisten ermorden.
Wie beurteilen Sie die Unterstützung der Ukraine durch die westlichen Länder?
Dass dieser Krieg so viele Opfer fordert, ist auch die Schuld des Westens. Ich bin kein Politologe, doch ein Kohl oder de Gaulle hätte nie gesagt: Wir müssen Putins Gesichts wahren. Ihr im Westen geht zu mild mit der Russländischen Föderation um und möchtet das Gesicht von jemandem wahren, der einen terroristischen Staat führt, was ihr aber nicht offen sagt. Als der Krieg begann, meinten die westlichen Politiker: Wir sind beunruhigt. Richtiger wäre zu sagen: Wir tun alles, um den Krieg schnell zu beenden. Natürlich kam seitdem viel Hilfe aus dem Westen und dafür bin ich sehr dankbar.
Macht Deutschland zu wenig?
Deutschland nutzt seine Möglichkeiten zu langsam. Ihr in Deutschland seid nur in Sicherheit, weil hier Tausende von Menschen ihr Leben opfern. Ihr versteht nicht, dass Russland die Ukraine nicht angreift, um allein die Ukraine zu vernichten, sondern um die gesamte demokratische Welt auszulöschen. Nur mit viel Kraft bringen wir den Westen dazu, irgendwelche Sanktionen zu erheben. Ich müsst aber alles dafür tun, um uns so schnell wie möglich mehr Waffen zu liefern. Gebt uns Eisen, wir geben unsere Leben! Ihr habt noch nicht verstanden, welche Gefahr Russland für die Welt bedeutet. Seit acht Monaten geht schon dieser Krieg. Wacht endlich auf! Ich sage schon gar nicht, rettet die Ukraine. Wir werden das schon irgendwie schaffen. Doch rettet die Welt, eure Leben und das eurer Kinder!
Was gibt Ihnen Kraft, ein zweites Mal in Ihrem Leben einen Krieg auszuhalten?
Während des Zweiten Weltkriegs war ich ein Kind. Ich war acht, als wir 1944 befreit wurden. Wir hatten Angst, wir waren hungrig, wir waren schmutzig, an uns hingen kiloweise Läuse und Wanzen. Aber wir spielten auch Krieg. Und Sorgen machte ich mir in erster Linie um mich. Doch jetzt habe ich selbst Kinder, wir haben Enkel, Urenkel. Wir machen uns Sorgen um sie. Unsere Leben haben wir bereits gelebt, auch wenn uns Putin nicht einfach sterben lässt. Er will, dass unsere toten Körper aus irgendwelchen Ruinen geborgen werden. Oder dass unsere Körper zerstückelt nach Folterungen gefunden werden, wie man sie in wieder befreiten Gebieten findet. Ich habe kaum Kraft, all das auszudrücken, was mich seit acht Monaten bewegt und wütend macht.
Lieber Roman Markowitsch, ich danke Ihnen für das Gespräch und vor allem Ihr unermüdliches Engagement.
Werden wir uns in Berlin wiedersehen?
Leider nein, aber ich besuche Sie bald in Odesa.
Dann kommen Sie bald nach Odesa!
Ira Peter hatte Roman Schwarzman 2021 während ihrer Zeit als Stadtschreiberin von Odesa mehrfach persönlich getroffen. Hier geht es zu Ihrem Interview von 2021.
Gefördert durch
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.