Exper­ten Q&A: Die Stein­meier-Formel als Lösung des Krieges?

© Shut­ter­stock

Am 01. Oktober gab Prä­si­dent Selen­skyj bei einer kurz­fris­tig ein­be­ru­fe­nen Pres­se­kon­fe­renz bekannt, dass die Ukraine sich zur Umset­zung des Minsker Abkom­men mit Hilfe der soge­nann­ten Stein­meier-Formel bekannt habe. Was bedeu­tet das für die Ukraine und könnte das der erste Schritt zur fried­li­chen Bei­le­gung des Donbas-Krieges sein?

Wir haben fol­gende Exper­ten um ihre Ein­schät­zun­gen gebeten:

Nata­liya Gume­nyuk, Chef­re­dak­teu­rin bei Hro­madske International

Das könnte tat­säch­lich ein Moment des Durch­bruchs sein. Was ist anders? Die ukrai­ni­sche Regie­rung erklärte offen ihre maxi­male Bereit­schaft, über die Kon­flikt­lö­sun­gen zu ver­han­deln. Das bedeu­tet nicht, dass die Russen dazu bereit wären, aber das ist trotz­dem eine ziem­li­che Bewe­gung. Schon früh hat das ukrai­ni­sche Außen­mi­nis­te­rium im Inter­view mit uns [Hro­madske] gesagt, warum und worauf sollten wir warten? Es gab 4 Jahre des Wartens. Trotz des großen Miss­trau­ens gegen­über dem Kreml ist es eine gute Gele­gen­heit, ihnen zu zeigen, dass die alte Regie­rung unter Poro­schenko nicht voll gewillt war einen Frieden herbeizuführen.

Selen­skyj appel­liert an die Bevöl­ke­rung im Donbas: Was auch immer pas­siert – er ist der­je­nige, der sich von Anfang an um sie küm­merte. Wenn er wartet, kann er genau daran gehin­dert werden. Ich weiß, dass die meisten Men­schen super vor­sich­tig sind und dass der Donbas für die Ukrai­ner gefähr­lich sein könnte.

Was ist mit der Reak­tion der demo­kra­ti­schen Par­teien in der Ukraine? Poro­schenko äußert sich ver­ach­tend über Minsk und tut so, als ob die Stein­meier-Formel ein Verrat wäre. Was für eine Schande für eine Person, die vier Jahre lang in den Prozess invol­viert war und um die Schwie­rig­kei­ten in dem Prozess weiß. Neue Partys wie Golos sind sehr laut über die „roten Linien“. Es stimmt, dass viele Aspekte unge­klärt sind und wir vor­sich­tig sein müssen, aber es muss sach­lich dis­ku­tiert werden. Sonst ist kein Vor­an­kom­men möglich.

Olexiy Haran,  For­schungs­di­rek­tor der Demo­cra­tic Initia­ti­ves Foundation

Die Stein­meier Formel erklärt, wie Kom­mu­nal­wah­len in nicht staat­lich kon­trol­lier­ten Gebie­ten der Donbas zum Inkraft­tre­ten des Geset­zes über den so genann­ten „Son­der­sta­tus“ dieser Gebiete führen. Kyjiw ver­tritt die Auf­fas­sung, dass dies nicht ohne 1) Wahl­si­cher­heit, ein­schließ­lich des Rück­zugs der rus­si­schen Truppen, und 2) wirk­lich FREIE Wahlen gesche­hen kann, was bedeu­tet, dass es vor den Wahlen eine recht lange Über­gangs­zeit geben würde. Viel­leicht hofft Kyjiw, dies zu demons­trie­ren, indem es die Bereit­schaft der Ukraine zur Stein­meier-Formel und die man­gelnde Bereit­schaft Russ­lands, zum Frieden zu gelan­gen, akzep­tiert. Aber was kann beim nächs­ten Gipfel in der Nor­man­die pas­sie­ren? Der gemein­same rus­si­sche und west­li­che Druck auf Prä­si­dent Selen­skyj, der viel in seine Frie­dens­rhe­to­rik inves­tiert hat, kann zu gefähr­li­chen Zuge­ständ­nis­sen der Ukraine führen. Eine Gefahr wurde bereits geschaf­fen: Durch den Trup­pen­ab­zug nimmt die Grau­zone, in der die ukrai­ni­schen Bürger nicht gesi­chert sind, bereits zu.

Orysia Luts­evych, Rese­arch Fellow & Manager, Ukraine Forum, Russia and Eurasia Pro­gramme Chatham House

Prä­si­dent Selen­skyjs großes Wahl­kampf­ver­spre­chen war der Ukraine endlich Frieden zu bringen. Wie ein mög­li­cher Frieden aus­se­hen könnte und umge­setzt würde, hat er selten aus­ge­führt. Seit gestern haben wir zumin­dest eine Teil­ant­wort von Selen­skyj. Mit der Zustim­mung zur Stein­meier-Formel machte Selen­skyj den ersten Schritt auf dem Weg, den sein Vor­gän­ger Poro­schenko ablehnte. Aber der Teufel steckt im Detail. Welche Moda­li­tä­ten gibt es für Kom­mu­nal­wah­len? Wie sieht der Fahr­plan für die Vor­be­rei­tung von Wahlen aus? Wie und wer sorgt für Sicher­heit? Wird die OSZE Zugang zur Über­wa­chung der ukrai­nisch-rus­si­schen Grenze im Osten erhalten?

Derzeit lehnt die Mehr­heit der Ukrai­ner die Idee ab, den Donbas einen beson­de­ren Status zu geben und diesen in der Ver­fas­sung zu ver­an­kern. Zudem gibt es häufig wider­sprüch­li­che Bot­schaf­ten von Seiten der Selen­skyj-Admi­nis­tra­tion. Gestern erhiel­ten die Ukrai­ner zunächst aus den rus­si­schen Medien die Nach­richt von der Zustim­mung Kyjiws zur „Stein­meier-Formel“. Dies trägt nur dazu bei, Span­nun­gen zu ver­stär­ken und weckt den Ver­dacht, dass die ukrai­ni­schen natio­na­len Inter­es­sen vom Prä­si­den­ten nicht voll­kom­men gewahrt werden.

Andreas Umland, Senior Non­re­si­dent Fellow am Zentrum für Euro­päi­sche Sicher­heit des Insti­tuts für Inter­na­tio­nale Bezie­hun­gen Prag

Während viele Diplo­ma­ten und Poli­ti­ker im Westen mit Erleich­te­rung und Hoff­nung auf diese Nach­rich­ten reagie­ren mögen, ist die ver­ein­barte Agenda recht kom­pli­ziert und sogar riskant. Die so genannte Stein­meier-Formel ist in der Ukraine bei einem großen Teil der Exper­ten­ge­meinde aus­ge­spro­chen unbe­liebt. Kri­ti­ker befürch­ten, dass die Umset­zung der Stein­meier-Formel letzt­end­lich zu einer inter­na­tio­na­len Lega­li­sie­rung der fak­ti­schen rus­si­schen Kon­trolle über die derzeit besetz­ten Gebiete im Donez­be­cken führen wird, wenn nicht sogar über ein grö­ße­res Gebiet, welches das gesamte Areal der Bezirke Luhansk und Donezk umfasst. Viele ukrai­ni­sche Ana­ly­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker betrach­ten diesen Kom­pro­miss daher als eine ver­deckte Kapi­tu­la­tion Kyjiws gegen­über Moskau. Im schlimms­ten Fall könnte die tiefe Abnei­gung, die wesent­li­che Teile der poli­ti­schen Klasse und Zivil­ge­sell­schaft der Ukraine gegen­über der Stein­meier-Formel haben, zu einem – nunmehr echten – Bür­ger­krieg in der Ukraine führen. Das wäre natür­lich genau das, was der Kreml bereits seit über fünf Jahren anstrebt.

Timothy Ash, Ökonom, Haupt­fo­kus auf die Ukraine, Russia und Türkei

Selen­skyj war etwas vage. Sein Problem ist die in der Ukraine sehr unbe­liebte Stein­meier-Formel und er ris­kiert einen Rück­schlag, wenn er diese zu enthu­si­as­tisch unter­stützt. Natio­na­lis­ten werden auf der Straße pro­tes­tie­ren. Viele Leute sehen es als einen Aus­ver­kauf an Moskau, was es auch wirk­lich ist. Der sprin­gende Punkt des Pro­blems wie bei Minsk ist die Defi­ni­tion, welche Art von Auto­no­mie DPR und LPR haben werden. Russ­land will eine föde­rale Ukraine, in der DPR und LPR ein Veto gegen die stra­te­gi­sche Aus­rich­tung der Ukraine haben. Das ist für viele in der Ukraine voll­kom­men unakzeptabel.

Ich mache mir auch Sorgen, welche Hin­ter­zim­mer­deals abge­schlos­sen wurden. Als Gegen­leis­tung für Selen­skyjs Unter­stüt­zung der Stein­meier-Formel? Ist es mög­li­cher­weise die Erlaub­nis, Kolo­mo­js­kyj die Pri­vat­bank zurück­zu­ge­ben? Kolo­mo­js­kyj und Awakow kon­trol­lie­ren einige Milizen in der Ukraine. Die Hoff­nung ist, dass der Westen zu einem solchen Zuge­ständ­nis nicht bereit ist.

Ian Bateson, Free­lance Jour­na­list in Kyjiw

Wie bei den meisten von Selen­skyjs Kom­mu­ni­ka­tion mit den Medien war auch die Pres­se­kon­fe­renz ein Chaos (und die Tat­sa­che, dass sie weniger als 12 Minuten dauerte, macht es nicht besser). Stunden zuvor hatten rus­si­sche Medien berich­tet, dass die Ukraine die soge­nannte Stein­meier-Formel unter­zeich­net habe. Obwohl Selen­skyj die aller­erste Pres­se­kon­fe­renz seiner Prä­si­dent­schaft aus hei­te­rem Himmel ein­be­rief, nahm er genau dazu keine ein­deu­tige Stellung.

Zudem machte er deut­lich, dass er die Formel in den all­ge­meins­ten Begrif­fen unter­stützte (zum großen Teil, weil nicht bekannt war, was er unter der Formel ver­steht). Gleich­zei­tig wurde klar, dass er sich ein Treffen im Nor­man­die-Format wünscht. Selbst diese relativ beschei­de­nen Ankün­di­gun­gen reich­ten aus, um Demons­tran­ten auf die Straßen von Kyjiw und vor die Prä­si­di­al­ver­wal­tung zu bringen. Selen­skyj hat deut­lich gemacht, dass er den Frie­dens­pro­zess wie­der­be­le­ben will, aber bisher scheint er nicht zu ver­ste­hen, wie kom­pli­ziert ein poli­ti­scher Balan­ce­akt wirk­lich ist.

Sebas­tian Christ, Jour­na­list beim Tagesspiegel

Es wäre nach fünf Jahren der rus­si­schen Aggres­sion in der Ukraine sicher wün­schens­wert, wenn ein echter Ent­span­nungs­pro­zess in Gang käme. Doch es bleiben Zweifel, ob die aktu­el­len Ent­wick­lun­gen wirk­lich einen Durch­bruch bedeu­ten. Die Äuße­run­gen Wolo­dymyr Selen­skyjs bei dem kurz­fris­tig ein­be­ru­fe­nen Medien-Brie­fing lassen darauf schlie­ßen, dass es dem ukrai­ni­schen Prä­si­den­ten um mehr geht als die bloße Umset­zung der Stein­meier-Formel. Unter anderem for­derte Selen­skyj, dass die Ukraine schon vor einer mög­li­chen Wahl im Donbas die Kon­trolle über die Ost­grenze zurück­ge­winnt. Das ist legitim. Aber es wäre auch das fak­ti­sche Ende der so genann­ten „Volks­re­pu­bli­ken“ im Osten des Landes. Sowohl die mafiö­sen Regime in Donzek und Luhansk als auch der Krieg in der Ost­ukraine werden nämlich über die offene Grenze zu Russ­land am Leben gehal­ten. Es ist bislang unge­wiss, ob Putin dabei mit­spielt. Bei frü­he­ren Gesprä­chen hatte Russ­land genau diese For­de­rung immer wieder abgelehnt.

Beate Apelt, Projekt Lei­te­rin Ukraine und Belarus, Fried­rich-Naumann-Stif­tung für die Freiheit

Es ist begrü­ßens­wert, dass mit Prä­si­dent Selen­skyj Bewe­gung in den Min­sk­pro­zess kommt. Ein Ende des Beschus­ses und eine Ver­bes­se­rung der huma­ni­tä­ren Lage vor Ort rücken endlich ein Stück näher. Von einem Durch­bruch zu spre­chen, erscheint mir aber west­li­ches Wunsch­den­ken zu sein. Über die kon­krete Umset­zung der Stein­meier-Formel besteht Dissens bei den Kon­flikt­par­teien. Selen­skyj fordert den Abzug des Kriegs­ge­räts und der aus­län­di­schen Kämpfer vor der Ein­lei­tung von Lokal­wah­len, die rus­si­sche Seite sieht dies umge­kehrt. Hier muss er jetzt hart und klug ver­han­deln. Denn genau davon hängt ab, ob freie und faire Wahlen unter Auf­bre­chen der flä­chen­de­cken­den rus­si­schen Pro­pa­ganda und unter Ein­be­zie­hung ukrai­ni­scher Kan­di­da­ten möglich sind – eine Vor­be­din­gung für wirk­li­che Reinte­gra­tion. Lässt sich Selen­skyj auf einen Frieden um jeden Preis ein, wird das ihn und die Ukraine teuer zu stehen kommen.

Denis Tru­bets­koy, Freier Jour­na­list in Kyiw

Es ist keine unwich­tige Eini­gung und die Ukraine hat hier aus meiner Sicht keine der roten Linien über­schrit­ten. Sie öffnet den Weg zum neuen Nor­man­die-Gipfel, das letzte Treffen der Staats­chefs fand noch 2016 statt. Viel­leicht sorgt das Treffen für neue Impulse, wobei ich selbst daran nicht glaube. Nun, das poten­zi­elle Problem für die Ukraine ist nicht die Stein­meier-Formel an sich, die in der ver­ab­schie­de­ten Form relativ harmlos ist. Für Kyjiw ist es wichtig, die Aus­tra­gung der Wahlen unter der Kon­trolle der Sepa­ra­tis­ten und die fak­ti­sche Ertei­lung des Son­der­sta­tus an die Sepa­ra­tis­ten zu ver­hin­dern. Das sind die roten Linien und die wich­tigs­ten Fragen, die von der Stein­meier-Formel über­haupt nicht ange­spro­chen werden. Des­we­gen ist sie natür­lich kein Durch­bruch. Für einen Durch­bruch sollen vorerst die Sicher­heits­fra­gen gründ­lich geklärt werden. Und aus­ge­rech­net hier liegt eine Menge von roten Linien für Prä­si­dent Selen­skyj und seine Regierung.

Textende

Ver­wandte Themen

News­let­ter bestellen

Tragen Sie sich in unseren News­let­ter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mun­gen erklä­ren Sie sich einverstanden.