Sowjetische Architektur – eine schöne Utopie
Die in Charkiw lebende Architekturhistorikerin und Kuratorin Ievgeniia Gubkina (36) spricht im Interview mit Ukraine verstehen über den historischen Kontext der modernistischen Architekturbewegung, vorherrschende Stereotype und erklärt, warum Architektur eine Chance für die ukrainische Gesellschaft sein kann.
Ukraine verstehen: Sie haben sich über viele Jahre intensiv mit der Moderne in der Architektur beschäftigt, und vor zwei Jahren das Buch „Soviet Modernism. Brutalism. Post-Modernism” mit herausgebracht. Warum haben Sie beschlossen, für den Erhalt der Modernistischen Architektur in der Ukraine zu kämpfen?
Ievgeniia Gubkina: Ich weiß nicht, ob man sagen kann, dass ich einen effizienten Kampf führe. Mein Kollege Alex Bykov und ich haben ein Buch veröffentlicht, das besonders bei Ausländern beliebt ist, weil es schön und präsentabel ist, ein gutes Geschenk. Aber mindestens ein Drittel der Gebäude, die wir im Buch präsentieren, gibt es in dieser Form nicht mehr. Viele in der Generation meiner Eltern finden diese Gebäude hässlich, ich glaube das hat den Reiz für mich als junge Studentin ausgemacht. Im Studium war Modernismus für mich etwas Seltsames. Aber ich habe bald verstanden, dass er in Gefahr ist. Ich habe mich einfach gefragt: Warum wurden diese Gebäude gebaut, wenn sie anscheinend so hässlich sind?
Ukraine verstehen: Welche Antwort haben Sie darauf gefunden?
Ievgeniia Gubkina: Zum einen, weil die Ethik der Ästhetik vorgezogen wurde. Für mich geht es bei sowjetischen und sozialistischen Gebäuden um ihre Funktionen und weniger um ihre Optik. Es entstanden einige hybride oder sozial orientierte und experimentelle Funktionen – die Idee der Kommune zum Beispiel. Gebäude sollten zu Orten werden, an denen jeder glücklich sein und unter angenehmen Bedingungen leben sollte. Die sowjetische Architektur bewegte sich die ganze Zeit zwischen Utopie und Realität. Zwischen der Realität und einem schönen Traum. In den 20er Jahren, in der Zwischenkriegszeit, versuchten die Architekten, den Mythos und die Theorie der sowjetischen Architektur als Gegensatz zur kapitalistischen und westlichen Architektur zu konstruieren.
UV: Wie wurde die westliche Architektur dargestellt?
Gubkina: Als bourgeois und kapitalistisch, als eine Architektur, in der es immer nur um Geld gehe. Es wurde erzählt, dass im Westen Häuser nur gebaut wurden, um sie dann zu verkaufen. Eine Stadt, die damals besonders oft als negatives Beispiel herhalten musste, war London. London sei ein schrecklicher Ort für das Proletariat, wurde erzählt.
UV: Gerade auf Ausländer scheinen Bauwerke aus der Zeit der Sowjetunion heute eine besondere Faszination auszuüben. Warum das?
Gubkina: Ich erlebe, dass viele Kollegen in die Ukraine kommen und dann etwas sehen wollen, was sie in der Tschernobyl-TV-Show gesehen haben. Mikrorayons und hässliche, verlassene Plattenbauten. Sie kommen hierher, um eine Dystopie zu sehen, Schrott. Ich finde dieses Verhalten kolonial. Aus meiner persönlichen Sicht als Einheimischer fühle ich mich exotisiert. Vielleicht ist es das gleiche Gefühl, das Menschen haben, wenn sie sich für eine Safari in Afrika entscheiden. Vielleicht ist ihre Welt zu bequem. Natürlich ist es gut, wenn die Ukraine für Touristen interessant ist. Aber wenn diese mit solchen Stereotypen hierherkommen, bin ich mir nicht sicher, ob es gut für die Einheimischen ist, weil es entwürdigend ist. Es gibt viele Orte mit großen sozialen Problemen, über diese müssen wir sprechen.
UV: Wie viele Menschen leben heute noch in sowjetischen Gebäuden in der Ukraine?
Gubkina: Ich denke, es sind sehr viele, wahrscheinlich zwei Drittel. In der Nachkriegsarchitektur wurden die ersten Plattenbauten gebaut: Sie waren aus Beton und billig und sie versuchten nie den Anschein zu machen, schick zu sein. Bis in die 60er Jahre, als die meist fünfstöckige „Chruschtschowka“ populär wurde, lebten die Menschen in Baracken und unter sehr schlechten Bedingungen, ohne Heizung und Toiletten. Viele von ihnen wurden nach 1967 abgerissen. Das neue Ideal waren komfortable und grüne Wohnräume. Natürlich gibt es an vielen Stellen Probleme mit der Infrastruktur, der Strom- und Wasserversorgung, den Aufzügen und den Fenstern. Aber gerade während der Pandemie haben wir gesehen, dass einige dieser sowjetischen Wohnmodelle nicht schlecht sind: die Mikrorayons, zum Beispiel. Sie haben riesige Innenhöfe, es gibt Wind und Schatten und Balkons. In der Sowjetunion wurden gewisse Standardnormen eingeführt: Jedes Apartment sollte einen Balkon haben, auch wenn es nur einen Raum gab, sonst durfte das Gebäude nicht gebaut werden.
UV: In postsowjetischen Ländern wie der Ukraine besitzen die meisten Menschen oder zumindest Familien eine eigene Wohnung. Welche Auswirkungen hat dieser Umstand auf die Gesellschaft?
Gubkina: Ich denke, es war eine gute Idee, die Wohnungen nach dem Ende der Sowjetunion [kostenlos*] zu privatisieren, denn die Menschen hatten das in den ersten Jahren der 90er Jahre wirklich nötig. Ich erinnere mich noch daran, dass die Leute in meinem Umfeld begeistert waren vom Zusammenbruch der Sowjetunion. Der Besitz von Häusern und Grund und Boden war für die Menschen damals sehr wichtig. Mehr als 70 Jahre lang konnten die Menschen nicht so bauen, wie sie wollten. Sie hatten kein Mitspracherecht, wie die Dinge aussehen. Und ich habe das Gefühl, dass die Menschen jetzt versuchen, das aufzuholen und sie wollen dafür nicht um Erlaubnis zu fragen, schon gar nicht die Behörden. Die Leute wollen ihre Wohnungen nun selbst umbauen und nach ihren Vorstellungen umgestalten, was im Widerspruch zu den architektonischen Interessen steht. Einige sowjetische Mosaike wurden dabei einfach überdeckt oder zerstört.
UV: Wie sieht der gesellschaftliche Diskurs innerhalb der Ukrainischen Gesellschaft aus, wenn es um dieses sowjetische Erbe geht?
Gubkina: Die Diskussion über das sowjetische Erbe findet eher auf der immateriellen Ebene statt. Denn physisch gesehen habe wir noch immer eine starke Verbindung mit der Sowjetunion. Wir leben und arbeiten in den Gebäuden aus dieser Zeit. Und ich fände es wichtig, wenn wir genau deshalb eine tiefergehende Diskussion über diese schmerzvolle Vergangenheit führen würden. Wir haben so viele Themen noch immer nicht ausreichend beleuchtet – Holodomor zum Beispiel, Stalins Repressionen. Unsere Gesellschaft benötigt eine Therapie und Architektur kann dabei helfen über Geschichte und Traumata zu reden. Zum Beispiel wenn wir über die Gebäude des sowjetischen Ministeriums für Innere Angelegenheiten (NKWD) sprechen, in denen Menschen umgebracht wurden. Das ukrainische Innenministerium besitzt eines dieser Gebäude und draußen hängt nicht mal eine Gedenktafel.
UV: Inwiefern haben Sie das Gefühl, dass viele Menschen die Geschichte der Ukraine von ihrer eigenen Geschichte in der Sowjetunion trennen?
Gubkina: Als Historikerin sehe ich genau das: Wir haben verschiedene Wahrheiten kreiert. Ich glaube, dass viele Menschen deshalb indifferent sind, wenn es um den Erhalt von Mosaiken oder Gebäuden aus der Sowjetzeit geht. Viele wollen einfach weitermachen. Andererseits geht es bei der Demolierung von vielen Gebäuden auch einfach um Geld. Die Menschen, die diese Entscheidungen treffen, sind meistens Geschäftsmänner, die Bürger haben da meistens kein Mitspracherecht.
UV: Andererseits haben sich die Demonstranten, die gegen den Abriss des „Kvity Ukrainy“ in Kyjiw eingetreten sind, dieses „Mitspracherecht“ vor kurzem erst genommen.
Gubkina: Die Menschen, die für den Erhalt des „Kvity Ukrainy“ kämpfen, sind sehr jung. Diese „Generation Z“ hat viel Energie und die Hoffnung, etwas verändern können. Vielleicht sind sie auch naiver, sie sind ja in den Nullerjahren aufgewachsen im Gegensatz zu mir. Diese Generation, die in der unabhängigen Ukraine geboren sind, erinnern sich nicht mehr an die 90er.
UV: Das „Kvity Ukrainy“, das in den 80er und 90er Jahren einen Blumenladen und ein Gewächshaus beherbergte, wurde in den Sozialen Medien nicht nur zum Symbol im Kampf gegen Gentrifizierung. Was macht denn diesen Fall für Sie persönlich besonders?
Gubkina: Ich glaube dieser Fall zeigt die strukturellen Probleme, die wir in der Ukraine haben, die Schlupflöcher in der Gesetzgebung. Dass unser System so aufgebaut ist, dass es immer um die Interessen von denen geht, die Geld und Einfluss haben, nicht um die Interessen der Bürger. Kvity Ukrainy hatte eine soziale Funktion, bis es von einem privaten Käufer übernommen wurde. Es ist nicht in Ordnung, dass ein Geschäftsmann mit unserem gemeinschaftlichen Erbe machen kann, was er will. Diese Gebäude gehört uns allen. Was diesen Protest noch anders macht: Der Aspekt der Hausbesetzung.
UV: Warum?
Gubkina: In westlichen Ländern sehen wir diese Form des Protestes oft. In postsowjetischen Ländern ist das anders. Uns wurde beigebracht, dass Bürger ruhig und brav sein sollen. Ich denke die Protestbewegung Kvity Ukrainy zeigt, dass sich die jungen Ukrainer sicherer fühlen, auch vor der Exekutive. Die Polizei hat nicht eingegriffen und Leute verhaftet. In Russland wäre das niemals möglich. Andererseits sind wir noch immer weit von den Standards in den EU-Ländern entfernt. Radikal sein zu können ist ein Privileg und ich hoffe, dass diese neue Generation dieses Privileg hat. Ich jedenfalls habe schon lange davon geträumt, meinen internationalen Kollegen ein positives Beispiel aus der Ukraine präsentieren zu können. Ich bin so müde davon, immer nur die mit den Negativbeispielen zu sein, die über Gebäude erzählt, die zerstört werden.
UV: Nun arbeiten Sie an einem neuen Projekt: einer Enzyklopädie der ukrainischen Architektur. Gleich am Anfang stellen Sie die Frage: Was ist ukrainische Architektur heute? Haben Sie eine Antwort darauf gefunden?
Gubkina: Diese Frage war ein Grund, warum wir dieses Projekt gestartet haben. Unsere Mission war zu zeigen, dass die Menschen die Architektur sind. Und dass wir uns in der Architektur spiegeln. Ich glaube noch immer, dass Architektur eine Chance für uns als Gesellschaft ist, die den Zusammenhalt stärken kann. Aber leider geht es heute oft nur um noch um das Geld. Als ich vor mehr als 15 Jahren Architektur studiert habe, damals noch mit sehr sowjetisch geprägten Lehrern und Inhalten, war die wichtigste Mitteilung an uns angehende Architekten: „Unser Klient ist die Gesellschaft. Vergesst das nie.“ Und ich glaube, dass es bei den neuen Architekten nicht mehr so ist, sondern dass die für den Staat und die Interessen von Geschäftsleuten arbeiten. Das widerspricht leider meistens den Interessen der Gesellschaft.
Das Interview führte Daniela Prugger.
* Anmerkung der Redaktion: Das Gros der Wohnungen in der Ukraine und Russland wurde nach 1991 vom Staat den Bewohnern überschrieben, dabei fielen lediglich Bearbeitungsgebühren an.
Ievgeniia Gubkina ist Architektin, Architekturhistorikerin, Kuratorin von Architektur- und Kunstprojekten, Bildungsaktivitäten. Sie ist Mitbegründerin der NGO Urban Forms Center und der avantgardistischen Frauenbewegung „Modernistki“. Seit 2012 ist sie als Beraterin bei den Ukrainischen Wochen des Konstruktivismus in Saporischschja tätig. Ievgeniia ist Autorin mehrerer Publikationen, darunter Artikel im Kyiv Architectural Guide (DOM Publishers), „Utopia & Collapse: Rethinking Metsamor“ (Park Books AG), „ERA21“, „The Calvert Journal“, „Springerin“, „RGOW“, „Obieg“. 2015 wurde ihr „Slavutych Architectural Guide“ als eigenständige Ausgabe im DOM Verlag in Deutschland veröffentlicht. Sie ist Autorin der Studie und Mitautorin des Buches „Soviet Modernism.Brutalism. Post-Modernismus. Buildings and Structures in Ukraine 1955–1991“, das 2019 von Osnovy und DOM Publishers veröffentlicht wurde.
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