Dekorative Wandmalereien in der Ukraine
Seit einigen Jahren erscheinen auf den Wänden von Kyjiwer Häusern immer mehr große dekorative Wandmalereien. Sind diese Malereien eine Bereicherung des öffentlichen Raums? Ein kritischer Kommentar von Evgeniya Molyar.
Da ich die sowjetische Monumentalkunst erforsche und mich für ihren Erhalt einsetze, werde ich oft nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu den heutigen dekorativen Wandbildern (im Englischen Murals) gefragt, die viele Fassaden Kyjiws „schmücken“. Innerhalb von drei Jahren wurden in Kyjiw bereits mehr als 150 Malereien registriert. Diese beiden Phänomene unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt und zwar in der Synthese der Künste, einer gemeinschaftlichen Erarbeitung, die für die Monumentalkunst der Sowjetzeit charakteristisch war und zu einer einheitlichen architektonisch-künstlerischen Lösung führte. Heutzutage ist hingegen eine reine Dekorierung existierender Architekturobjekte zu beobachten, die Kritiker – mich eingeschlossen – als teilweise sinnentleerte Verzierung bezeichnen.
Was die Gemeinsamkeiten betrifft, so kann man sie in den derzeit angewandten Methoden einer Etablierung der Monumentalkunst im öffentlichen Raum und einer bedingten zum Teil propagandistischen Wirkung finden. Im Großen und Ganzen ist die ukrainische monumental-dekorative Kunst seit Mitte der 2000er Jahre allmählich zu einer deklarativen, parasitären Erscheinung mit politischer oder kommerzieller Ausrichtung geworden. Natürlich trifft dies nicht auf alle monumentale Kunst und Wandmalereien im öffentlichen Raum zu.
Wandbild in Kyjiw auf einem Gebäude, das ein Architekturdenkmal ist
Der Trend zur ukrainischen Wandmalerei in ihrer derzeitigen Form entstand in Charkiw, wo die lokalen Künstler, wie in vielen anderen Städten auch, Anfang der 2000er Jahre aktiv ihre Kunst in den Straßen entwickelten. Die Community wuchs allmählich, es entstanden größer angelegte Projekte, ein Street-Art-Festival wurde organisiert. Unterstützt wurden die Künstler von der damals einzigen Einrichtung der Stadt, die sich mit zeitgenössischer Kunst beschäftigte – der Charkiwer kommunalen Galerie. So wurden nicht nur die Einwohner der Stadt auf diese Kunst aufmerksam, sondern auch die Beamten. Der Bürgermeister der Stadt Hennadij Kernes sympathisierte aufrichtig mit der Idee, an den Häuserwänden Bilder entstehen zu lassen und beschloss, die Entwicklung dieser Kunstform zu fördern. Auf Initiative und mit finanzieller Unterstützung der Stadtverwaltung entstanden in Charkiw Wandbilder, deren Thematik man in gewisser Weise als „sowjetnostalgisch“ bezeichnen kann. Riesige Porträts bedeutender Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft sowie Militärangehöriger der Sowjetzeit breiteten sich in der Stadt aus.
Wandmalerei in Charkiw als Sowjetnostalgie
Bald wurde dieser Trend in der Hauptstadt aufgegriffen. Kyjiws Bürgermeister Witalij Klytschko gründete als erster das Projekt City Art, der Leiter einer der Stadtbezirksverwaltungen Ilja Sahajdak gründete bald darauf Art United Us; Street Art Social Club ist ein Projekt des Unternehmers Dmytro Palijenko. Es wurde eine Art Rekuperationsprozess im Sinne der Situationisten in Gang gesetzt. Die Straßenkunst, die ursprünglich und ihrem Wesen nach eine Protestkunst war, wurde von den Machthabenden instrumentalisiert und kapitalisiert.
Wandbild in Charkiw
Wandbild in Charkiw
Seit 2014 entstanden in Kyjiw mit unglaublicher Geschwindigkeit neue Wandbilder, sie wurden feierlich von Beamten präsentiert, die es nicht versäumten, ihren Namen neben die Signatur des Künstlers zu setzen. Diese verschleierte politische Reklame wurde als Verschönerungsmaßnahme oder „Geschenk an die Stadt“ verkauft. Ein bezeichnender Fall ereignete sich mit einem derartigen Wandbild auf einem Wohnhaus in einem Kyjiwer Randbezirk, das der ehemalige Leiter der Bezirksverwaltung Ilja Sahajdak den Bewohnern „geschenkt“ hatte. Nachdem das Wandbild angebracht worden war, installierte einer der Wohnungseigentümer eine Klimaanlage, die sich nun auf dem Gesicht des Mädchens befand (siehe unten). Herr Sahajdak gab einige öffentliche Erklärungen ab, in denen er das Handeln des Wohnungseigentümers scharf verurteilte und als Beschädigung eines Kunstwerks bezeichnete. Die Wohnungseigentümer in einem mehrstöckigen Haus haben also keine Möglichkeit, sich zwischen einem Wandbild und ihrem persönlichen Komfort zu entscheiden. Sie sind gezwungen, auf ein derartiges „Geschenk“ Rücksicht zu nehmen.
Wandmalereien als Repräsentationsraum der Machthabenden
Dabei muss angemerkt werden, dass es im historischen Zentrum von Kyjiw schon lange ein Problem mit Klimaanlagen, selbstgebauten Balkons und einem Flickenteppich von Isoliermaterial gibt. Dies wird in keiner Weise von den Behörden geregelt, und diese eigenwilligen Modernisierungsmaßnahmen haben oft tatsächlich eine destruktive Wirkung auf die Architektur. Im Falle des „Geschenks“ war die Frage mit der Klimaanlage hingegen innerhalb eines Tages gelöst – sie wurde demontiert. Am zynischsten war jedoch der folgende Kommentar des Beamten, der das Wandbild initiiert hatte: „Die Klimaanlage wurde demontiert. Dank an alle, die nicht gleichgültig sind. Ich denke, das wird denen, die ihren Komfort höher schätzen als den öffentlichen Raum, eine Lehre sein. Begegnen wir einander mit Respekt.“ Die Rede ist dabei von einem öffentlichen Raum, der unter Einflussnahme der Verwaltung zu einem Repräsentationsraum der Machthabenden wurde.
Wandbild mit Klimaanlage in Kyjiw
An dieser Stelle kann auch die thematische Monotonie der Kyjiwer Wandbilder nicht unerwähnt bleiben. Im Unterschied zu Charkiw dominieren hier national-patriotische Themenkomplexe und traditionelle Werte: zahlreiche Stickblusen, Politikerporträts, religiöse Sujets.
Allmählich reduzieren die Beamten ihre groß angelegten Kunstprojekte, neue Wandbilder in der Hauptstadt werden seltener. Vielleicht infolge der Kritik oder aufgrund fehlender finanzieller Mittel, vielleicht ist ihnen die Straßenkunst auch einfach nur langweilig geworden.
Wandbild in Kyjiw mit dem Porträt des Hetmans Skoropadskyj
Wandbild im historischen Stadtzentrum, beim Platz der Unabhängigkeit
Wandbild mit der Abbildung Mychajlo Hruschewskyjs
Wandbild mit einer jungen Frau in nationaler Kleidung
Insgesamt betrachtet ist dieses Phänomen auf zwei Ebenen problematisch: der ästhetischen und der ethischen. Aus ästhetischer Sicht lassen sich natürlich künstlerische und inhaltsreiche Arbeiten sowie Pfusch und Kitsch voneinander unterscheiden. Allerdings werden sie alle auf einem bereits existierenden Architekturobjekt angebracht, sei dies nun ein 150 Jahre altes Haus in der Altstadt oder ein Wohngebiet der Sowjetmoderne, das seinen eigenen kulturellen und historischen Wert hat. Die Sowjetarchitektur ist aufgrund des weit verbreiteten Stereotyps der „tristen grauen Kästen“ (so die stigmatisierende Charakterisierung der Architektur aus der Sowjetzeit) generell anfälliger für derartige „Verschönerungen“.
Problematik dekorativer Kunst auf historischen Architekturobjekten
Vor kurzem erschienen auf dem Gebäude der Nationalen Kinderbibliothek – einem einzigartigen Denkmal des sowjetischen Modernismus, das der bedeutende Architekt Michail Budilowskij in den 1970er Jahren entwarf – grellbunte Malereien (siehe unten). Als ich das sah, wandte ich mich sofort an die Mitarbeiter der Bibliothek, die mir erklärten, dass dies ja eine Einrichtung für Kinder sei und die Bilder angebracht wurden, um deren Aufmerksamkeit zu erregen. Dieses Beispiel ist durchaus relevant für die Interpretation der Wandmalereien als Phänomen. Um die Ästhetik einer Architektur, ihrer Formen und Struktur wahrnehmen und verstehen zu können, bedarf es bestimmter Fertigkeiten. Viel einfacher ist es, die Kinder mit großen, grellen Bildern anzulocken oder mit der Bemalung eines Hauses eine Verschönerung der Stadt zu suggerieren.
Die bemalte Kinderbibliothek in Kyjiw
Viel wichtiger scheint mir jedoch die ethische Frage. Einerseits handelt es sich, wie bereits gesagt, oft um Willkür von Politikern und Regierungsvertretern, die, sofern sie über die entsprechenden finanziellen Mittel und Möglichkeiten der Einflussnahme verfügen, den öffentlichen Raum der Stadt usurpieren. Dabei ließen sich diese Offiziellen von ihrem persönlichen Geschmack und ihren Vorstellungen von Straßenkunst leiten. Die Fülle an Wandbildern erzeugt, meines Erachtens, ein visuelles Rauschen und verletzt die architektonische Authentizität der Stadt. Vor allem wird jedoch offensichtliche Publicity als Straßenkunst deklariert.
Gegenbewegung der Straßenkünstler
Die Reaktion der Straßenkünstler ließ nicht lange auf sich warten. Anonym wurde die Gruppe International Xuj Art Foundation gegründet – in Analogie zu Sky Art Foundation – der Institution, die für eines der Projekte verantwortlich ist. Die Idee der International Xuj Art Foundation bestand in einer aktuellen Neudeutung von Straßenkunst als Interaktion und Kommunikation. Auf den neuen Wandbildern erschien die Signatur “хуй”[1] und das Logo der International Xuj Art Foundation. Die Künstler manifestierten ihre Aktionen, indem sie typische Textklischees verwendeten und leicht ironisierten. „Diese drei flüchtig skizzierten Buchstaben sind in der hiesigen Wandmalerei zweifellos der visuelle Code mit dem größten Wiedererkennungswert. Sie fügen sich raffiniert in die markante Textur der modernen Wandbilder ein, die Straßenkünstler machen das eigentliche Wesen von Straßenkunst als Volkskunst deutlich und bringen sie in den postmodernen Diskurs ein.“
Facebook-Seite der International Xuj Art Foundation
Vor allem aber beförderten all diese Wandbilder und die Kritik an ihnen eine qualitativ neue Deutung des öffentlichen Raums. Natürlich ist noch verhältnismäßig oft das Bemalen von Häuserwänden und das Aufstellen dekorativer Skulpturen oder Sitzbänkchen als Imitation kommunaler Verschönerungsmaßnahmen zu beobachten, aber immer häufiger wirkt das einfach nur komisch und beschädigt das Stadtbild.
[1] entspricht “Scheiß, Fuck”
Aus dem Russischen von Lydia Nagel
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