Russ­lands Krieg in der Ukraine zer­stört das kul­tu­relle Erbe

Foto: Vic­to­ria Andrievska /​ Flickr

Mit dem Aus­bruch des Krieges in der Ukraine ist auch das kul­tu­relle Erbe des Landes bedroht. Beim Beschuss von Städten und Ort­schaf­ten besteht die unmit­tel­bare Gefahr, dass Museen und Bau­denk­mä­ler beschä­digt und zer­stört werden. So erging es dem Museum in Iwankiw mit Gemäl­den der berühm­ten ukrai­ni­schen Künst­le­rin Marija Pry­ma­chenko bereits am 25. Februar, dem zweiten Tag der rus­si­schen Invasion.

Am Morgen des 25. Februar brannte das Gebäude des Museums für Geschichte in Iwankiw nieder. Zwi­schen 11.30 Uhr und 12 Uhr flogen rus­si­sche Kampf­flug­zeuge über die Stadt im Oblast Kyjiw. Diese bom­bar­dier­ten unter anderem das Muse­ums­ge­bäude und die umlie­gen­den Häuser. Das Museum brannte völlig nieder. Der Brand wurde von einem Schüler aus Iwankiw gefilmt, der zufäl­lig vorbeikam.

Die Geschichte des Museums

Bei dem Gebäude handelt es sich um ein ehe­ma­li­ges höl­zer­nes Her­ren­haus, das zu Sowjet­zei­ten rekon­stru­iert wurde. Das Museum wurde 1981 darin eröff­net. Von  2016 bis 2018 wurden das Haus innen und außen reno­viert – inklu­sive der Neu­ge­stal­tung der Aus­stel­lung. Zu sehen waren seitdem his­to­ri­sche Doku­mente, Foto­gra­fien, tra­di­tio­nell gewebte und bestickte Stoffe, volks­tüm­li­che Ikonen und Haus­halts­ge­gen­stände aus der Region.

Das High­light der Samm­lung waren bis zur Zer­stö­rung die Gemälde der ukrai­ni­schen Volks­künst­le­rin Marija Pry­ma­chenko (1908 bis 1997). Sie gilt bis heute als eine der wich­tigs­ten Ver­tre­te­rin­nen der naiven Malerei und erhielt schon zu Leb­zei­ten mehrere Aus­zeich­nun­gen. Auch inter­na­tio­nal war Marija Pry­ma­chenko hoch ange­se­hen. Sie wurde in dem kleinen Dorf Bolot­nia geboren, das an die Stadt Iwankiw angrenzt. Ihre Werke stellen kul­tu­relle, geschicht­li­che und lokale Zusam­men­hänge her und sind daher nicht nur für das Museum, sondern auch für For­scher und zahl­rei­che Lieb­ha­ber ihrer Kunst von großer Bedeutung.


Vir­tu­elle Tour des Museums [auf Englisch]

Die Künst­le­rin und ihre Bedeutung

Marija Pry­ma­chen­kos Werke erzäh­len die Geschichte einer fan­tas­ti­schen Welt, die in gewis­ser Weise ein kul­tu­rel­les Phä­no­men ist: Es ver­mischt die Tra­di­tio­nen der Volks­kunst mit per­sön­li­chem Talent und ihrer Bild­spra­che. In Ver­bin­dung mit den sur­rea­lis­ti­schen Motiven ihrer Gemälde, die eine eigene Rea­li­tät dar­stel­len, ist ihre Kunst bis heute die eines Genies und ihrer Zeit weit voraus. Marija Pry­ma­chen­kos Stil, der eine gewisse phi­lo­so­phi­sche Suche zum Aus­druck bringt, stand in völ­li­gem Gegen­satz zur offi­zi­el­len sowje­ti­schen Ideologie.

Die fan­tas­ti­schen Tiere in ihren Werken wirken auf den ersten Blick fröh­lich und fried­lich. Der auf­merk­same Betrach­ter kann jedoch in einigen Werken die Ähn­lich­keit der Tiere mit den poli­ti­schen Figuren der Zeit des sowje­ti­schen Terrors in den 1930er-Jahren ent­de­cken. Als Ver­tre­te­rin der offi­zi­el­len soge­nann­ten Volks­kunst als ukrai­ni­sche Künst­le­rin aus dem Dorf erlebte sie die Kämpfe der ukrai­ni­schen Bauern, die Repres­sio­nen und den mas­si­ven Terror Stalins. Auf Geheiß des Dik­ta­tors wurde das Land zwangs­kol­lek­ti­viert: Stalin ließ eine Hun­gers­not, den Holo­do­mor, her­bei­füh­ren. Dieser fielen nach heu­ti­gen Schät­zun­gen etwa vier Mil­lio­nen Men­schen zum Opfer.

Meis­te­rin der äso­pi­schen Sprache

Marija Pry­ma­chenko selbst durch­lebte eine schwere Krank­heit, die Zwangs­ar­beit in der Kol­chose und die Tra­gö­die des Zweiten Welt­kriegs, die Marijas Bruder und Ehemann das Leben kos­te­ten. Dieses trau­ma­ti­sche Erleb­nis findet sich – bewusst oder unbe­wusst – in den fan­tas­ti­schen Figuren der Malerin wieder. Sie sehen freund­lich und heiter aus. Marija Pry­ma­chenko ver­wen­dete die künst­le­ri­sche und die äso­pi­sche Sprache, mit der sie Bot­schaf­ten ver­mit­telte, die nur Ein­ge­weihte ver­ste­hen. Auf diese Weise kam sie nie in Kon­flikt mit der sowje­ti­schen Zensur.

Eines der Ereig­nisse, derer sie sich annahm, war die Explo­sion des Reak­tors im ukrai­ni­schen Atom­kraft­werk Tscher­no­byl am 26. April 1986: Diese Kata­stro­phe bedeu­tete einen wei­te­ren Schlag für sie. Dies kam in einem ihrer Werke zum Aus­druck – das Dorf Bolot­nia, in dem sie ihr ganzes Leben ver­brachte, liegt in der Nähe der 30 Kilo­me­ter langen Sperrzone.

Infobox

Die Zer­stö­rung des Museums wurde erst am 28. Februar bekannt, da in der von den rus­si­schen Truppen besetz­ten Stadt Iwankiw die ganze Zeit gekämpft worden und es keinen Strom und keine Kom­mu­ni­ka­tion gab. Am 1. März ab 10 Uhr Kyjiwer Zeit wurde die Stadt von rus­si­scher Artil­le­rie beschos­sen. Viele Häuser wurden zer­stört; es zahl­rei­che gibt Opfer unter der Zivilbevölkerung.

Einen Tag vor Bekannt­wer­den der Schäden am Museum wandte sich der ukrai­ni­sche Minis­ter für Kultur und Infor­ma­ti­ons­po­li­tik, Olek­sandr Tka­chenko, an die UNESCO mit der Bitte, Russ­land die Mit­glied­schaft in der UNESCO zu ent­zie­hen: „Der bewaff­nete Angriff Russ­lands auf die Ukraine führt derzeit zur Zer­stö­rung vieler ziviler und kul­tu­rel­ler Stätten in der Ukraine. Unzäh­lige his­to­ri­sche und archi­tek­to­ni­sche Denk­mä­ler und archäo­lo­gi­sche Stätten sind durch Artil­le­rie­be­schuss und unkon­trol­lierte Manöver schwe­rer Mili­tär­fahr­zeuge bedroht.“

Am selben Tag wurde auch die Peti­tion an die inter­na­tio­nale Kul­tur­ge­mein­schaft zur Ver­hän­gung kul­tu­rel­ler Sank­tio­nen gegen die Rus­si­sche Föde­ra­tion von Herrn Tkat­schenko und ukrai­ni­schen Kul­tur­ak­ti­vis­ten und Künst­lern unter­zeich­net, in meh­re­ren Spra­chen ver­öf­fent­licht  und später von wei­te­ren 1.820 Ver­tre­tern inter­na­tio­na­ler und ukrai­ni­scher Kul­tur­ein­rich­tun­gen unterzeichnet.
(Stand: 28. Februar)

Erfolg­rei­che Ausstellungen

Ab 1935 stu­dierte Marija Pry­ma­chenko in der Zen­tra­len Ver­suchs­werk­statt für Volks­kunst am Kyjiwer Museum für ukrai­ni­sche Kunst. Sie war Sti­pen­dia­tin des staat­lich geför­der­ten Pro­gramms für begabte Jugend­li­che aus länd­li­chen Gebie­ten. Zu den dort unter­rich­ten­den Künst­lern gehör­ten unter anderem Anatol Petryts­kyi, Vasyl Krychevs­kyi und Vasyl Kasiian. Die Werke von Marija Pry­ma­chenko waren nicht nur in der Ukraine zu sehen.

Erfolg­rei­che Aus­stel­lun­gen gab es auch in Polen, Frank­reich, Bul­ga­rien, der Tsche­cho­slo­wa­kei und Kanada; eine der ersten war die Ver­nis­sage „Expo­si­tion Inter­na­tio­nale des Arts et Tech­ni­ques dans la Vie Moderne“ in Paris im Jahr 1937. In der fran­zö­si­schen erhielt Marija Pry­ma­chenko eine Gold­me­daille als Aner­ken­nung ihres Talents.

Eine Retro­spek­tive

Im Februar und März 2016 fand die umfas­sende per­sön­li­che Aus­stel­lung von Marija Pry­mat­schenko im Mys­tets­kyi Arsenal Natio­nal Art and Culture Museum Complex in Kyjiw statt. „Mariya Pry­ma­chenko. Bound­less“, so der Titel, prä­sen­tierte eine Retro­spek­tive des Oeuvres der Künst­le­rin mit mehr als 300 Werken. Diese zeigten die Krea­ti­vi­tät und Ein­zig­ar­tig­keit der Künst­le­rin in schar­fem Kon­trast zur sowje­ti­schen Realität.

Der Begriff der Per­sön­lich­keit kam dort nicht vor, im Gegen­teil: Es ging viel­mehr darum, die indi­vi­du­elle Frei­heit zu zer­stö­ren. Trotz ihres eher tra­gi­schen Lebens­we­ges ver­mit­teln Marija Pry­mat­schen­kos Werke das Gefühl von der Liebe zur Welt – ihre eigene innere Aus­strah­lung, ver­bun­den mit einem starken Cha­rak­ter und dem Wunsch, etwas zu schaffen.

Dieser Text wurde vom Mys­tets­kyi Arsenal Team mit Infor­ma­tio­nen von Oksana Yurkova erstellt. Dr. Oksana Yurkova ist eine der füh­ren­den Wis­sen­schaft­le­rin und Wis­sen­schaft­ler am Insti­tut für Geschichte der Ukraine der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten der Ukraine in Kyjiw. Sie hat uns die Ein­zel­hei­ten des Vor­falls, die sie vom Direk­tor des Museums in einem Tele­fo­nat erfah­ren hat, und Links zu Infor­ma­tio­nen über das Museum zur Ver­fü­gung gestellt.

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