Der Weg der Unsterblichen
250 Kilometer von Odesa liegt Bohdaniwka, wo die Wehrmacht ein weiteres Massaker an jüdischen Einwohnern beging. Einmal jährlich kehren Nachkommen der Opfer an den Ort des Verbrechens zurück. Ira Peter hat sie begleitet.
„Vielleicht war Weihnachten der Grund, Sie wissen schon: Christmas“, sagt Samuel Bykov und hält sich fester mit beiden Händen an der Sitzlehne vor sich fest. Der Bus schleudert uns hin und her, ich packe den Block für meine Notizen wieder in den Rucksack und nehme den Rest unseres Gesprächs mit dem Smartphone auf. Samuel Bykov dreht sich nach hinten zu den voll besetzten Reihen und ruft: „Ja Leute, als Kinder mussten wir Stalin für unsere glückliche Kindheit danken und Hitler für diese guten Straßen.“ Typisch Odesit, denke ich: Immer einen Scherz parat. Dabei lebt Bykov länger in den USA als in der Ukraine, die er 1979 verlassen hatte, wie er mir später erzählt. „Ich weiß nicht genau, warum die deutschen Lagerleiter den Befehl gaben, uns nicht zu erschießen, aber die Rumänen und ihre Helfer hörten an diesem Dezembertag plötzlich auf“, fährt der 81-Jährige wieder im ernsten Ton fort. Unmittelbar davor seien 27 seiner Familienmitglieder vor den Augen seiner Mutter, Oma und Schwester durch Kugeln gestorben. „Natürlich auch vor meinen Augen, ich war ja auf Mutters Armen, aber ich war erst 18 Monate alt und habe das natürlich nicht verstanden“, ergänzt er.
Es ist völlig unwahrscheinlich, dass Samuel Bykov, den alle hier nur Mitya nennen, neben mir sitzt – in einem Bus, der uns nach Bohdaniwka¹, 250 Kilometer nördlich von Odesa, bringt. Für 54.000 Menschen, meist jüdische Frauen, Kinder und alte Menschen, sollte der Ort, einst ein kleines jüdisches Städtchen, im Winter 1941/42 zum Massengrab werden. Mitya gehört zu den 127 Menschen, die das Vernichtungslager überlebt haben. Er kommt jeden Herbst nach Bohdaniwka und bringt immer – wie auch heute – andere Holocaustüberlebende, Journalisten und in der Erinnerungsarbeit engagierte Menschen mit. Zwölf sind mit ihm aus New York gekommen, darunter Enkel und Kinder von Holocaust-Überlebenden wie Andrea Bolander, die das „Holocaust Memorial and Tolerance Center“ auf Long Island leitet. „Solange Blut durch meine Adern fließt, werde ich diese Reise auf mich nehmen, auch wenn es jedes Mal sehr belastend für mich ist“, sagt Mitya und nimmt die weiße Kappe von seinem Kopf. Kreisförmig zieht sich auf ihr „Strength of humanity – keep the memory alive”, in der Mitte des Schriftzugs ist eine Hand zu sehen, die einer anderen eine brennende Stafette übergibt. Und drunter: „Transnistria Massacre Oct 1941 – Mar 1942, Odesa, Domanevka, Acmecetca, Bogdanovka”.
Allein rund um diese Orte, die auf dem Logo seiner Organisation genannt werden, starben 140.000 Menschen während der deutsch-rumänischen Okkupation zwischen 1941 und 1944, so Mitya: „Das darf nie vergessen werden.“
Als Vizepräsident von „Strenght of humanity“, einer „Holocaust Remembrance Association“ aus New York, engagiert er sich deshalb seit Jahrzehnten – vor allem hier in Bohdaniwka. Vielmehr aber als Privatperson, erklärt er mir, dazu fühle er sich verpflichtet. Mit dem Schulleiter vor Ort, Oleksyj Pospelow, organisiert er zum Beispiel Fahrten zu Gedenkorten für Schüler, initiiert gemeinsame Projekte zwischen der Schule und dem Holocaust Museum in Odesa oder vergibt Stipendien, die es jungen Menschen ermöglichen, sich in der Erinnerungsarbeit zu engagieren.
Oleksyj Pospelow lerne ich eine Stunde später persönlich kennen. Wir erreichen den Ort, wo vor 80 Jahren zeitweise täglich 2.000 Menschen erschossen, verbrannt oder dem Kältetod ausgeliefert wurden. In einer Reihe vor einem Gedenkstein stehen Pospelows Schüler, halten Nelken in den Händen, jedes Kind trägt ein Shirt mit dem Aufdruck „Sechs Millionen, wir dürfen niemals vergessen“ auf Englisch, Russisch und Ukrainisch. Vertreter aus Politik und Verwaltung aus der Region, auch aus Odesa und Mykolajiw, Anwohner und ein Dutzend weiterer Journalisten haben sich ebenfalls auf dieser Art Lichtung versammelt. Gemeinsam gedenken sie heute derjenigen, deren Leben hier erlosch.
Nach der Veranstaltung erklärt mir Oleksyj Pospelow, dass einige Meter weiter oben Scheunen gestanden haben, wo Tausende von Menschen bei lebendigem Leib verbrannt wurden. Es soll in dem Lager nämlich Ende 1941 eine Typhus-Epidemie ausgebrochen worden sein, der man auf diese Weise schnell ein Ende setzte. Links neben dem Gedenkstein, hinter dem sich ein Tal und weiter eine Stadt zeigen, befindet sich der „Jar“, ein etwa 20 Meter tiefer Abhang, der bis zum Fluss im Tal reicht. „Es waren meist Frauen mit ihren Kindern, auch Säuglingen. Sie mussten sich hier ausziehen und niederknien, dann schossen die Soldaten oder warfen Handgranaten auf sie. Der Jar füllte sich mit Leichen“, sagt er. „Damit das Blut nicht in den Fluss gelangte, haben die Deutschen und Rumänen unten eine Mauer errichten lassen. Die anderen Leichen hat man hier oben gestapelt, auch Menschen, die nur verletzt waren, mit Benzin übergossen und angezündet.“
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges legte sich eine Decke des Schweigens über Bohdaniwka: „In der Sowjetzeit war das Thema Holocaust tabu. Diejenigen die sich damit beschäftigen wollten, wurden vom Staat daran gehindert“, beschreibt der Schulleiter, der seit über dreißig Jahren in der Kleinstadt lebt. 1991 haben Menschen aus Bohdaniwka und Odesa erstmals einen Gedenkstein errichtet. Später wurden mit Hilfe von Mityas Organisation ein Weg zum Gedenkort gelegt und rund um das Mahnmal Bäume gepflanzt. Hier setzen auch heute seine Schüler zusammen mit Holocaust-Überlebenden kleine Bäume in die Erde.
Bevor wir wieder in den Bus steigen und uns auf die Rückfahrt nach Odesa machen, nehme ich einen kleinen Stein und trete an den Rand des Abgrunds, wo Leben tausendfach vernichtet wurden. Ich lege ihn auf diese blutgetränkte Erde. Als Zeichen, dass wir nicht vergessen werden, niemals dürfen.
Der Bus wirft uns wieder von einer Seite zur nächsten. Diese Straße haben damals die Besatzer bauen lassen, hatte Mitya heute Morgen gesagt. Stumm legt sich die Sonne auf die ausgebleichten Hügel. „Warum ausgerechnet Bohdaniwka?“, möchte ich von Anna Hlasowa wissen, zu der ich mich gesetzt habe. Sie arbeitet als Historikerin in der Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. „Der Ort ist weit entfernt von allen größeren Städten. Man wollte in Odesa beispielsweise das Morden nicht mehr vor der Haustür haben, nachdem dort im Oktober 1941 25.000 Menschen verbrannt worden waren und der Geruch über einen Monat über der Stadt hing. Dort haben die Besatzer ja gelebt, sind dort in Restaurants und ins Theater gegangen, die Stadt sollte ‚sauber‘ sein“, erklärt sie. Für Yad Vashem übersetzt sie Informationen aus dem Russischen und Ukrainischen zu Holocaust-Opfern. Sie zeigt mir eine Liste mit Namen und Daten, Abraham war vier, als er in Bohdaniwka erschossen wurde, seine Mutter Betja 26.
„54 Tausend“, sagt sie und wiederholt noch lauter: „54 Tausend. Alle 40 Tage wechselten die Erschießungskommandos. Über die meisten Ermordeten wurde genau Statistik geführt, man kannte ihre Adressen“, sagt sie, wohl, um später deren Eigentum zu beschlagnahmen. Auch ein Teil Annas jüdischer Familie aus Odesa starb in den Vernichtungslagern in der Südukraine. Ihre Mutter konnte mit der Großmutter und einem Bruder kurz vor der Okkupation Odesas, die vom Oktober 1941 bis April 1944 dauerte, nach Dagestan gebracht werden. „Aber auch viele der Evakuierten starben durch beispielsweise Fliegerangriffe bei der Flucht oder unter schlechten Bedingungen in Sibirien oder Zentralasien“, fügt sie hinzu.
Es ist nach Mitternacht, kurz vor Odesa spreche ich noch mal mit Mitya. „Ich weiß nicht, ob Sie es glauben oder nicht, dass unsere Seele unseren Körper verlässt, und unsterblich ist“, sagt er und scheint kein bisschen müde zu sein. Dabei sind wir heute bereits seit 16 Stunden unterwegs. Er glaube das jedenfalls. Den betonierten Weg zum Mahnmal – mit Schuhabdrücken von Kindern und Erwachsenen, auf dem wir heute gelaufen waren – habe seine Organisation deshalb „Weg der Unsterblichen“ genannt. „In Anlehnung an den ‚Weg des Todes‘, den die Menschen von Odesa, Cherson oder Mykolajiw meist zu Fuß nach Bohdaniwka machen mussten“, erklärt Mitya. Ich glaube ihm, möchte ihm glauben: Der Gedanke an die Unsterblichkeit der Seele schenkt ein wenig Trost nach all dem Grauen, das ich heute erfahren habe. Und schließlich ist er der beste Beweis dafür, dass Wunder trotz aller Unwahrscheinlichkeit existieren.
¹ alternative Schreibweise: Bogdanowka
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