Oleksandr Syrskyj: der General, den Russland fürchtet
Der ukrainische General Oleksandr Syrskyj ist in Russland geboren, hat in Moskau studiert. Trotzdem zeichnet er für schmerzhafte Niederlagen Russlands im Angriffskrieg gegen die Ukraine verantwortlich – und für die Anpassung der ukrainischen Armee an NATO-Standards.
Vor Beginn der umfassenden russischen Invasion am 24. Februar 2022 gingen viele internationale Experten aus einem einfachen Grund von einem schnellen Sieg Russlands aus: Beim Kampf gegen eine kleine postsowjetische Armee müsse eine große postsowjetische Armee doch einen sicheren Vorteil haben. Dabei wurde jedoch übersehen, dass es in den ukrainischen Streitkräften spätestens seit Ausbruch des Donbaskrieges im Frühjahr 2014 tiefgreifende strukturelle Veränderungen gegeben hatte.
Keine Generäle „sowjetischer Bauart“ mehr
Im Februar 2022 fehlte es der Ukraine zwar massiv an modernen westlichen Waffen. Anders als Russland musste sich das Land jedoch nicht mehr auf Generäle „sowjetischer Bauart“ verlassen, sondern konnte auf wesentlich jüngere Entscheidungsträger bei der Armee bauen. Bezeichnenderweise hat der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, nie in der Sowjetunion gedient.
Anpassung an NATO-Standards
Für die größten Niederlagen der Russen in diesem Krieg, aber auch für viele Reformen innerhalb der ukrainischen Armee und ihre Anpassung an die Standards der NATO ist jedoch jemand verantwortlich, der 1965 im russischen Regierungsbezirk Wladimir auf die Welt kam, 1986 die Moskauer Militärkommandohochschule absolvierte und dessen Ukrainisch von einem deutlichen russischen Akzent geprägt ist: Oleksandr Syrskyj. Der 57-jährige Generaloberst (der Rang entspricht dem eines NATO-Generalleutnants) ist seit 2019 Kommandeur der ukrainischen Landstreitkräfte.
Landstreitkräfte als mobile Netzstruktur
Sein militärischer Ansatz stellt das Gegenteil davon dar, wie Russland in diesem Krieg kämpft: Kommandeure sollen bei lokalen taktischen Fragen laut Syrskyj maximale Entscheidungsfreiheit genießen, statt einer strengen Entscheidungsvertikale unterworfen zu sein. Unter seiner Führung sind die Landstreitkräfte zu einer mobilen Netzstruktur geworden.
Informationelle Kriegsführung
Gleichzeitig gilt Syrskyj als jemand, der die informationelle Kriegsführung sehr ernst nimmt. „Wir entwickeln das System der Informationskriegsführung immer weiter. Neben der eigentlichen Truppenvorbereitung ist das der wichtigste Bereich“, sagte er lange vor dem Februar 2022 in einem seiner seltenen Interviews.
Es soll auch Syrskyjs Idee gewesen sein, mit der letztjährigen öffentlichen Ankündigung einer Gegenoffensive im Süden den Gegner zu verwirren, um dann den Hauptangriff stattdessen in der Region Charkiw durchführen zu lassen. Unabhängig davon, ob es tatsächlich Syrskyj war, der diese Idee entwickelte, führte er die ukrainische Armee bei der Charkiwer Offensive tatsächlich erfolgreich an. Beim Besuch Wolodymyr Selenskyjs im befreiten Isjum im September 2022 stand er symbolkräftig direkt neben dem Präsidenten.
Verteidigung von Kyjiw
Die Operation in Charkiw war nicht der erste ukrainische Sieg unter direkter Führung Syrskyjs seit Beginn der umfassenden Invasion. Er hatte mit seinen Truppen bereits vorher etwas geschafft, das für die Ukraine von allergrößter strategischer Bedeutung war: die erfolgreiche Verteidigung von Kyjiw. „Ehrlich gesagt hätte ich mir nicht vorstellen können, dass die russische Führung eine derart dreiste, großflächige Aggression beginnen würde. Ich dachte, die Kampfhandlungen würden im Osten beginnen“, erklärte Syrskyj in einem Gespräch mit der Washington Post, „aber wir sind das Militär. Unabhängig davon, woran ich geglaubt oder nicht geglaubt habe, habe ich gemacht, was notwendig war.“
Es war Syrskyj, der es anordnete, Flugzeuge und Hubschrauber von ihren Hauptstützpunkten abzuziehen, um sie vor russischen Luftangriffen zu schützen. Etwa eine Woche vor der russischen Invasion wurden die wichtigsten Kommandoposten umgruppiert, einen Tag vor Invasionsbeginn dann die meisten Flugabwehrsysteme von Kyjiw an andere Positionen verlegt. Nicht alles funktionierte reibungslos: So wurden Systeme, die den wichtigen Flugplatz Hostomel verteidigen sollten, teilweise von Russen bombardiert. Ihre Positionen waren von einem Mitarbeiter des Flugplatzes verraten worden, dessen Sohn von russischen Geheimdiensten rekrutiert worden war.
Ausgezeichnet als „Held der Ukraine“
Alles in allem aber sorgten sowohl diese Vorbereitungen als auch kreative Entscheidungen während der Verteidigung dafür, dass die ukrainische Hauptstadt gehalten werden konnte. Im März 2022 gab es einen kritischen Moment, als russische Truppen mit viel Technik auf ukrainische Stellungen im Dorf Moschtschun vorrückten und damit faktisch direkt vor den Toren Kyjiws angekommen waren. „Die Einnahme Moschtschuns hätte das Vorrücken in die Stadt bedeutet“, sagt Syrskyj. Er traf deshalb mit anderen hochrangigen Vertretern der Streitkräfte die Entscheidung, einen Damm zu sprengen, woraufhin das Wasser die Russen regelrecht überschwemmte. Ihr Angriffsversuch scheiterte und danach lief alles auf einen unvermeidbaren Rückzug hinaus. Für seine Rolle bei der Verteidigung Kyjiws wurde Syrskyj die höchste Auszeichnung „Held der Ukraine“ verliehen.
Verantwortlich für den Frontabschnitt um Bachmut
Aktuell verantwortet der erfahrene Generaloberst den Frontsektor, zu dem auch die hart umkämpfte Stadt Bachmut gehört. Mehrmals besuchte Syrskyj zur schwierigsten Zeit seine Soldaten in Bachmut. Sich an den gefährlichsten Orten der Front zu zeigen, ist etwas, wofür der 57-Jährige nicht erst seit Februar 2022 bekannt ist. Schon im Februar 2015 deckte seine Einheit den gefährlichen Rückzug der ukrainischen Armee aus der Stadt Debalzewe im Bezirk Donezk. Nicht zuletzt für diese Operation wurde Syrskyj im Dezember 2016 von einem Generalmajor zu einem Generalleutnant befördert, bis er 2020 zum Generaloberst wurde – die Geschichte eines der erfolgreichsten Befehlshaber des russisch-ukrainischen Krieges geht weiter.
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