Ergebnisse des Normandie-Gipfels: die Sicht aus Berlin
Acht Stunden verhandelten die Staats- und Regierungschefs Deutschlands, Frankreichs, der Ukraine und Russland gestern beim Normandie-Gipfel über eine Lösung des Kriegs im Donbas. Zu einem Durchbruch kam es nicht. Aber welche Resultate wurden erreicht und welche nächsten Schritte stehen an?
Wir haben folgende Politiker bzw. Experten um ihre Einschätzungen zum Ausgang des Normandie-Gipfels gebeten:
Dr. Nils Schmid, Mitglied des Bundestages, Außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion
Der Normandie-Gipfel in Paris war ein hoffnungsvolles Zeichen. Fast sechs Jahre sind seit Ausbruch des Konflikts vergangen, der bereits über 13 0000 Tote gefordert hat. Drei Jahre waren vergangen seit dem letzten Aufeinandertreffen der Staats- und Regierungschef von Deutschland, Frankreich, der Ukraine und Russland in diesem Format.
Dass es nun zu einer Wiederbelebung des Friedensprozesses kam, verdanken wir auch dem Engagement von Präsident Macron. Ich begrüße es deshalb sehr, dass sich Frankreich wieder verstärkt einbringt – gemeinsam können wir viel erreichen. Die Zusammenkunft war auch deshalb ein Erfolg, weil es zum ersten persönlichen Treffen zwischen Präsident Putin und Präsident Selenskyj kam. Mit Selenskyj scheint es nun wieder möglich, dass Russland und die Ukraine zukünftig wieder vermehrt bilateral miteinander ins Gespräch kommen.
Eine neue Dynamik entstand aber vor allem durch die Wahl von Selenskyj. Der neue Präsident ging einen großen Schritt auf Russland zu – und damit auch ein großes Risiko für sich selbst ein. Jetzt kommt es entscheidend darauf an, die wichtigen Vereinbarungen von Paris – wie zum Beispiel einen Gefangenenaustausch nach der Formel „alle gegen alle“ oder die vollständige Umsetzung des Waffenstillstands bis Ende des Jahres – auch tatsächlich umzusetzen. Die Menschen in der Ukraine haben zu lange gelitten.
Renata Alt, Mitglied des Bundestages, FDP-Franktion
Wie erwartet blieb der große Wurf beim Normandie-Gipfel aus. Die Ergebnisse können sich dennoch sehen lassen. Nach drei Jahren des Stillstands gibt es nun klare, greifbare Vereinbarungen, die mit konkreten Fristen versehen wurden. Daran kann der Wille zum Frieden auf beiden Seiten gemessen werden.
Aus meiner Sicht ist die größte Herausforderung hierbei die Einhaltung des Waffenstillstands in der gesamten Region. Der Schlüssel dazu liegt in Putins Händen, denn nur er kann auf die „Volksrepubliken“ einwirken. Dies wird jedoch nicht passieren, wenn er sein Ziel der Destabilisierung in der Ukraine weiter verfolgen möchte.
Ich sehe nun Deutschland und Frankreich in der Pflicht, die Umsetzung der Vereinbarungen zu überwachen und eventuell ausbleibende Fortschritte zu ahnden. Die Grenzkontrolle und Wahlen sind aber erst realistisch, wenn die legitime ukrainische Regierung das gesamte Staatsgebiet wieder kontrolliert und der Abzug von russischen Kämpfern international bestätigt wurde.
Dafür brauchen wir eine OSZE- oder UN-Blauhelmmission mit einem entsprechenden Mandat. Einen Fahrplan dazu habe ich für die FDP-Bundestagsfraktion bereits Anfang diesen Jahres vorgelegt.
Manuel Sarrazin, Mitglied des Bundestages, Sprecher für Osteuropapolitik, Bündnis 90/Grünen
Nachdem der ukrainische Präsident Selenskyj seine überwältigenden Wahlsiege auch mit dem Versprechen einer diplomatischen Friedensinitiative errungen hatte, konnte nun ein neuer Verhandlungsprozess beginnen. Vor allem für die Menschen entlang der Kontaktlinie bieten die insgesamt eher mauen Ergebnisse des Gipfels die Hoffnung auf Verbesserungen in ihrem täglichen Leben.
Diese Grundeinschätzung kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der nun wieder neu startende Normandie-Prozess letztlich auch den Kreml und Präsident Putin in eine stärkere Verhandlungsrolle bringt. Moskau kann ohne eigene Zugeständnisse den Eindruck, ebenfalls konstruktiv am Friedensprozess in der Ostukraine beteiligt zu sein. Dabei hat sich Russland in Paris in den wirklich großen Fragen keinen Millimeter bewegt: Die letztlich entscheidenden Fragen der Kontrolle über die ukrainisch-russische Grenze und der Durchführung echter und freier Wahlen unter ukrainischer Kontrolle auch in den besetzten Gebieten brachten keine neuen Ergebnisse. Während Putin in Paris den gesprächsbereiten Staatsmann spielt, nimmt der Beschuss an der Kontaktlinie durch die Separatisten zu und wurden neue Minen in den besetzten Gebieten entdeckt.
Gleichzeitig baut der Kreml seine Rolle in den so genannten Volksrepubliken aus. Durch verstärkte Passvergabe kann der Kreml jederzeit auch ohne militärische Schritte eine Verschärfung der Lage herbeiführen.
Letztlich ist deswegen der Gipfel auch ein Erfolg für Putin: Nach Jahren der außenpolitischen Isolation kommt er nun – nach Syrien – auch in Sachen Ukraine als gleichberechtigter Verhandlungspartner und notwendiger Dealmaker auf die Bühne zurück. Gleichzeitig nutzt die russische Diplomatie die Initiativen aus Kiew dazu, um das Klima in der ukrainischen Gesellschaft zu vergiften und politische Spaltpilze zu pflanzen.
Rebecca Harms, ehemaliges Mitglied des Europäischen Parlaments
Hoffnung ist das Wort, das ich am Morgen nach dem Ende des Normandie-Gipfels sehr oft lese und höre. Die Gefangenen, die ausgetauscht werden sollen, und ihre Familien können hoffen, dass sie sich vor dem orthodoxen Weihnachtsfest zu Hause wiedersehen. Für die Menschen im Kriegsgebiet, die unter immer schlimmeren Bedingungen das sechste Weihnachten im Krieg erleben werden, den Putin gegen die Ukraine führt, ist es nicht das erste Mal, dass ihnen der Waffenstillstand und mehr versprochen wurde.
Damit dieses Versprechen nicht wieder unerfüllt bleibt, darf sich das Engagement Deutschlands und Frankreichs nicht auf Verhandlungen beschränken. Mehr konsequenter Einsatz ist nötig für die Beobachtung und Verifizierung aller vereinbarten Schritte. Wenn die Vereinbarungen nicht eingehalten werden sind Reaktionen nötig. Es muss klar bleiben, dass Putins Aggression als Bedrohung nicht nur der Ukraine, sondern des gesamten Kontinentes angesehen wird.
Unilaterale Schritte von Seiten der Ukraine als Signal waren gut, aber auf Dauer reicht das nicht. Die Frage, wie und ob Putin umsetzt, wozu er sich in Paris verpflichtet hat, bleibt offen. Der Streit um die Kontrolle des ukrainischen Territoriums einschließlich der Grenze zu Russland zeigt, dass es bisher kein wirkliches Einlenken von Seiten Russlands gibt. Deshalb besteht derzeit kein Grund dafür, einen zukünftigen Status der besetzten Gebiete oder Kommunalwahlen mit der Steinmeier-Formel in den Mittelpunkt zu rücken.
Prof. Dr. Gwendolyn Sasse, Wissenschaftliche Direktorin, Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS)
Der Normandie-Gipfel hat die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit endlich wieder auf den Krieg im Donbas gelenkt. Diejenigen, die vom Ergebnis enttäuscht sind, hatten unrealistische Erwartungen; diejenigen, die eine „Kapitulation“ des ukrainischen Präsidenten Selenskyj befürchtet hatten, können aufatmen bzw. sehen ihre Versuche, eine politische Opposition gegen den Präsidenten zu mobilisieren, geschwächt. Die Bedeutung des Normandie-Gipfel liegt vor allem in dem erneuten Bemühen, einen Waffenstillstand zu gewährleisten. Mit ihm steht und fällt der gesamte Friedensprozess. Auch der geplante umfassende Gefangenenaustausch, punktuelle Truppenentflechtungen, Entminung und neue Übergänge an der sogenannten Kontaktlinie sind wichtige Schritte für die vom Krieg betroffene Bevölkerung.
Die großen strittigen Fragen sind weiterhin offen: Die „Steinmeier-Formel“ über die Abhaltung von Lokalwahlen und einen Sonderstatus für Teile des Donbas sollen in ein ukrainisches Gesetz gefasst werden. Die „Formel“ sagt jedoch nichts aus über die Bedingungen, die sicherstellen müssten, dass die Wahlen nach „ukrainischem Gesetz“ abgehalten werden können, wie es das Minsker Abkommen vorsieht. Hierfür bräuchte es einen konkreten Plan zur Entmilitarisierung, in dem die Kontrolle der ukrainisch-russischen Staatsgrenze nicht ganz ans Ende des Prozesses verschoben wird.
Miriam Kosmehl, Senior Expert Eastern Europe and European Neighbourhood, Bertelsmann-Stiftung
Die Abschlusserklärung des Normandie-Gipfels ist bescheiden. Der Militärrückzug an drei Stellen der Front soll auf drei weitere Orte ausgedehnt werden. Ein richtiger Sicherheitskorridor wäre besser. Falls das Vorhaben aber schiefgeht, weil eine der beiden Kriegsparteien den Rückzug der anderen ausnutzt und es zu Toten kommt, könnte der Vorwurf, die Sicherheit von Ukrainern gefährdet zu haben, für Präsident Selenskyj gefährlich werden. Der Autokrat Putin dagegen muss Proteste wegen Opfern nicht fürchten.
Deshalb ist die ukrainische Initiative ein äußerst mutiger Versuch, die Ernsthaftigkeit Moskaus zu prüfen. Der in der Gipfelerklärung aufgenommene Bezug auf das OSZE-Mandat und den Zugang der Beobachtermission zum gesamten Staatsgebiet der Ukraine ist eine Gelegenheit, Moskau in die Pflicht zu nehmen – Beobachter nicht zu behindern und ihre Sicherheit nicht zu bedrohen.
Deutschland und Frankreich bleiben in der Verantwortung. Wer nicht benennt, was Russland vor Ort tut, verschuldet die Irreführung mit. Die Forderung Russlands, Kyiv solle direkt mit den „Separatisten“ verhandeln, lenkt von dem Umstand ab, dass es sich um Separatisten von Russlands Gnaden handelt. Sie sind ohne den Kreml weder handlungs- noch entscheidungsfähig, dafür aber diktatorisch organisiert und für Bürgerrechtsverletzungen verantwortlich. Ihre Stärkung dient weder dem Frieden noch der Stabilität.
Steffen Halling, Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien, Stiftung Wissenschaft und Politik
Dass der Normandie-Gipfel in Paris keinen Durchbruch in den Friedensverhandlungen erzielen wird, war abzusehen. Der erste Gipfel auf Ebene der Staats- und Regierungschefs seit mehr als drei Jahren war dennoch wichtig. Der Gipfel hat die Aufmerksamkeit wieder auf den Krieg und das Leid im Donbas gelenkt.
Mit der Aussicht auf weitere militärische Entflechtungen, einen umfangreichen Gefangenenaustausch und neue Übergangsstellen entlang der Kontaktlinie hat man sich zudem auf Maßnahmen geeinigt, die die Kampfhandlungen reduzieren können und hoffentlich zu einer Verbesserung der humanitären Situation beitragen werden. Für Selenskyj ist der Gipfel dabei durchaus als Erfolg zu werten. Er hat glaubhaft seinen Friedenswillen demonstriert, zugleich aber auch die für die Ukraine bestehenden roten Linien bekräftigt.
Die Zügel in der Hand hat jedoch nach wie vor Russland. Das Interesse des Kremls an einem kontrollierbaren Konflikt in der Ukraine bleibt ungebrochen. Russland möchte die Separatistengebiete unter seiner Kontrolle in die Ukraine reintegrieren und die dortigen Warlords durch Wahlen legitimieren. Gelingt dies nicht, bleibt alles so fragil wie es ist. Für die Ukraine sind beide Optionen schlecht.
Ulrich Speck, Gastwissenschaftler beim GMF Berlin & Blogger (Germany’s World)
Der Normandie-Gipfel in Paris ist ohne Durchbruch zu Ende gegangen. Stattdessen wurde der Status quo im Grunde genommen bestätigt. Mit dem Pariser Gipfel scheint die russische Besetzung der Ostukraine in eine neue Phase einzutreten: Stabilisierung und Normalisierung.
Nicht nur die Krim, sondern auch der Donbas werden wahrscheinlich noch einige Zeit unter russischer Kontrolle bleiben. Die Situation im Donbas entwickelt sich in Richtung der aus Transnistrien, Südossetien und Abchasien bekannten Regelungen mit von Russland kontrollierten Marionettenregierungen.
Ein weiteres Treffen der vier Staats- und Regierungschefs ist in den nächsten vier Monaten geplant. Der gesamte Prozess könnte sich dann s so ähnlich wie die deutsche „Ostpolitik“ in den 1970er Jahren entwickeln: kein Versuch, die Teilung umzukehren, sondern Bemühungen, den Menschen vor Ort das Leben zu erleichtern.
Auf jeden Fall hat Putin nicht bekommen, was er will: die internationale Legitimität für die russische Besetzung, die zur Aufhebung von Sanktionen und zur vollständigen Normalisierung der Beziehungen zum Westen führt. Doch Selenskyj, Merkel und Macron haben sich geweigert, Putins Interpretation des Minsk-Abkommens – Wahlen unter der Macht russischer Gewehrläufe – zu bestätigen.
Selenskyj besteht darauf, dass freie Wahlen im Donbas erst stattfinden können, wenn die russischen Truppen abgezogen sind und die Ukraine ihre Grenzen wieder kontrolliert. Und Merkel und Macron haben, anders als befürchtet, die Ukraine nicht verraten.
John Lough, Associate Fellow, Ukraine Forum, Chatham House
Die vereinbarten Schritte zur Einführung eines umfassenden Waffenstillstands und zur Freilassung von Gefangenen sind bescheiden. Das Versäumnis, weitere substantielle Fortschritte zu erzielen, spiegelt die unvereinbaren Positionen der Ukraine und Russlands bei der Beendigung des Konflikts wider.
Der Gipfel zeigte, dass die Wahl von Selenskyj, entgegen den russischen Hoffnungen, die Entschlossenheit der Ukraine, einen Entwicklungspfad außerhalb der russischen Kontrolle zu verfolgen, nicht geschwächt hat.
Im Moment haben sowohl Selenskyj als auch Putin ein Interesse daran, so schnell wie möglich einen dauerhaften Waffenstillstand zu erreichen. Für Selenskyj würde ein Erfolg zeigen, dass er etwas erreichen kann, wo sein Vorgänger versagt hat. Indem Putin ein gewisses Maß an konstruktivem Verhalten an den Tag legt, kann er die westlichen Führer weiter ermutigen, die Beziehungen zu Russland zu normalisieren und die Sanktionen aufzuheben.
Wie vorherzusehen war, gab es bei der unangenehmen Frage nach dem zeitlichen Ablauf der Schritte zur Umsetzung des Minsker Abkommens keine Fortschritte. Trotzdem hat Selenskyj in Paris mehr erreicht als Putin.
Das volle Kommuniqué des Normandie-Gipfels ist hier und das Transkript der Pressekonferenz ist hier nachzulesen.
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.