Die Stunde des Außenseiters: Ein Komiker hat beste Chancen, der nächste Präsident der Ukraine zu werden
Der erfolgreiche Medienunternehmer und Komiker Wolodmyr Selenskyj führt seit Januar überraschend alle Umfragen im ukrainischen Präsidentschaftswahlkampf an. Doch wofür steht der Mann und wie stehen seine Chancen, die Wahlen für sich zu entscheiden? Eine Analyse von Mattia Nelles
Es gibt wenige Ukrainer, die einen so hohen Bekanntheitsgrad genießen, wie Wolodymyr Selenskyj. Der 41-Jährige gilt als erfolgreichster Selfmade-Medienunternehmer, der sein Geld mit zum Teil klischeegeladener politischer Satire, Stand-up-Comedy sowie erfolgreichen Spielfilmen verdiente. Der Professorensohn Selenskyj stammt aus einer jüdischen Familie und kommt aus der südukrainischen Industriestadt Krywyj Rih im Oblast Dnipropetrowsk.
2015 machte Selenskyj mit einer ausgesprochen unterhaltsamen Serie „Diener des Volkes“ (Слуга народу) auch jenseits der Ukraine auf sich aufmerksam, in der er einen ehrlichen Geschichtslehrer spielt, der überraschend und ohne Wahlkampf zu führen zum ukrainischen Präsidenten gewählt wird. Die bei Netflix abrufbare Serie zeigt den Lehrer Vasyl Petrovych Holoborodko als neuen, ehrlichen, aber zum Teil naiven Präsidenten, der sich in einen fast aussichtslosen Kampf gegen die gesamte politische und oligarchische Elite begibt.
Der als intelligent und rhetorisch begabte geltende Selenskyj produzierte seine Shows und Filme bisher zum Großteil auf Russisch, was ihm trotz klaren Bekenntnises zur Ukraine nach dem Maidan viel Kritik von ukrainischen Nationalisten einbrachte. Ende Dezember erschien dann – wenige Tage vor der Bekanntgabe seiner Kandidatur – sein erster Spielfilm auf Ukrainisch. Die romantische Komödie „Ich, Du, Er, Sie“ (Я, ти, він, вона) brach nach Angaben der Produktionsfirma mit Erlösen in Höhe von 61,9 Millionen UAH in den ersten drei Wochen alle Rekorde und wurde so zum größten Kassenschlager in der Geschichte der unabhängigen Ukraine.
Grenze zwischen Fiktion und Realität verschwimmt
In einem seiner wenigen Interviews sagte Selenskyj der BBC, dass die Menschen sich einen Präsidenten mit den moralischen Werten eines Holoborodkos wünschten. Gleichzeitig betont er, dass er die gleichen moralischen Werte wie der fiktionale Charakter Holoborodko hochhalte.
Seit Herbst – also Monate bevor Selenskyj seine Kandidatur ankündigte – waren Plakate in der Ukraine aufgetaucht, die den „Präsidenten des Volkes“ bewarben. Damals tat man es noch als Werbung für die dritte Staffel von „Diener des Volkes“ ab. Die Serie wird, wie der Zufall es will, Ende März pünktlich zum ersten Wahlgang im Fernsehen ausgestrahlt.
Die Grenze zwischen Fiktion und Realität verläuft also fließend. Seine beliebte Commedy-Truppe „Quartal95“ tourt während des Wahlkampfes weiter fleißig durchs Land. Nach den bezahlten Shows soll es auch kostenfreie Auftritte geben, kündigte Selenskyj gegenüber der Ukrainska Pravda an.
Das Selenskyj-Phänomen
Selenskyjs Erfolg ist zum Teil auf seine persönliche Bekanntheit und Beliebtheit zurückzuführen. Beobachter vergleichen den Aufstieg Selenskyjs auch mit dem von Donald Trump, dem des slowenischen Premierministers Marjan Šarec oder dem von Pepe Grillos. Bei all diesen Politikern zeigt sich eine Verachtung des politischen Establishments. Fünf Jahre nach der „Revolution der Würde“, wie die Maidan-Bewegung in der Ukraine genannt wird, ist das traditionelle Misstrauen der ukrainischen Wähler gegenüber der politische Klasse in offene Verachtung umgeschlagen.
Selenskyjs Beliebtheit hat also auch mit dem gescheiterten Anspruch der „Revolution der Würde“ zu tun, die politische Landschaft grundlegend zu erneuern. Fünf Jahre nach den Protesten dominieren dieselben Gesichter die ukrainische Politik, die sinnbildlich für die alten Seilschaften stehen. Anfang Februar 2019 gaben 40 Prozent der Wähler in einer Umfrage des Kiev International Institute for Sociology (KIIS) an, unter keinen Umständen für den Amtsinhaber Petro Poroschenko stimmen zu wollen. Seine Herausforderin Julia Tymoschenko verfügt über ein sogenanntes Antirating von rund 25 Prozent. Gestärkt wird Selenskyj auch durch die abgesagte Kandidatur des überaus beliebten Rockstars Swjatoslaw Wakartschuk, dem Hoffnungsträger der liberalen Opposition. Dieser hatte Ende Januar nach langem Zögern bekanntgegeben, nicht antreten zu wollen.
Selenskyjs Stärke in Umfragen
Die große Verachtung der politischen Klasse kann das Umfragehoch Selenskyjs aber nur zum Teil erklären. Umfragen zeigen, dass er besonders unter jungen und gebildeten Wählern gut abschneidet. Interessant ist außerdem, dass Selenskyj besonders im Süden und im Osten der Ukraine gut abschneidet und damit sowohl Tymoschenko als auch den pro-russischen Kandidaten, etwa Olexander Wilkul oder Jurij Boiko, Stimmen wegnimmt.
Selenskyjs Beliebtheit begann in den Umfragen ab Sommer 2018 zu steigen. Im Dezember lag er dann plötzlich auf dem zweiten Platz – hinter Tymoschenko. Das alles, ohne überhaupt seine Kandidatur bekanntgegeben zu haben.
Ende Januar wurden dann die ersten seriösen Umfragen veröffentlicht, die Selenskyj vor seinen Mitbewerbern sahen. In Umfragen Mitte Februar konnte der Komiker seine Führung sogar verdoppeln. Das KIIS sah ihn beispielsweise mit 26,9 Prozent vor Poroschenko mit 17,7. Ukrainische Umfragen müssen generell mit großer Skepsis betrachtet werden – auch weil sich zwischen 30 und 40 Prozent der Befragten noch für keinen Kandidaten entschieden haben. Nichtsdestotrotz deutet eine so deutliche Führung in mehreren Umfragen mit zum Teil mehreren Tausend Befragten auf eine Tendenz zu Gunsten von Selenskyj hin.
Zahlreiche ukrainische Experten, wie die die bekannte Soziologin Iryna Bekeschkina, bezweifeln jedoch, dass es Selenskyj gelingen wird, seine hohen Umfragewerte am Wahltag auch in Wählerstimmen zu übersetzen. Größtes Manko Selenskijs bleibt seine junge Wählerschaft, die bei bisherigen Wahlen nicht zur zuverlässigsten Wählergruppe gehört hat. Ähnlich sieht es Inna Borzylo, die Geschäftsführerin der NGO Centre UA, die auf Selenskyjs mangelnden Parteiapparat verweist, der bei der Mobilisierung von Wählern entscheidend ist.
Ein Wahlkampf wie eine Reality-Show
Begonnen hat Selenskyjs Wahlkampf mit seiner knappen Ankündigung seiner Kandidatur – ausgestrahlt auf 1+1, einem der beliebtesten Fernsehsender der Ukraine. Das ausgerechnet zur besten Sendezeit, zu der gewöhnlich die Rede des Staatspräsiden gezeigt wird. Das letzte Mal, das ein wesentlicher Sender die Neujahrsansprache des amtierenden Präsidenten nicht live ausstrahlte und stattdessen die eines Präsidentschaftskandidaten sendete, war im Dezember 2004. Damals präsentierte der 5. Kanal, der Poroschenko gehört, Wiktor Juschtschenkos Ansprache anstelle der von Leonid Kutschmas.
Selenskyj führt seinen Wahlkampf, begleitet von seinen Kameraleuten, bisher wie eine Reality-Show und weigert sich mit wenigen Ausnahmen, sich kritischen Interviews zu stellen. Seit Sommer 2018 hat er lediglich drei Interviews gegeben. Dabei ein dreistündiges Interview mit Dmitrij Gordon vor Bekanntgabe seiner Kandidatur, dessen erster Teil 4,8 Millionen Mal bei Youtube angeschaut wurde. Außerdem gab er im Januar der Ukrainska Pravda ein längeres Interview und im Februar der BBC ein kurzes. Hinter verschlossenen Türen hatte er sich Mitte Januar einigen EU- und G7-Botschaftern und Ende Januar einer Gruppe des Aspen-Institutes in Kyjiw gestellt. Sein Umgang mit Journalisten wirft die Frage auf, wie er als Präsident mit den oft scharfen ukrainischen Medien umgehen würde.
Social-Media-gestützte Kampagne
Anstelle der klassischen Medien setzt Selenskyj stark auf soziale Medien. Dabei nutzt er verschiedene nutzerstarke Kanäle, etwa seinen Instagram-Kanal mit 2,6 Millionen Followern sowie den Youtube-Kanal von „Quartal95“ mit 2,3 Millionen Followern, gezielt für Wahlwerbung und Interaktion mit seiner Wählerschaft. Bis vor Kurzem konnte man per Livestream sogar die Aktivitäten in seiner Wahlzentrale beobachten. Auf der offiziellen Webseite seiner Kampagne haben sich bis heute etwa 550 Tausend Unterstützer registriert. Inwiefern er diese Unterstützer tatsächlich für seinen Wahlkampf nutzt, ist bisher unklar. Hinzu kommt, dass der Fernsehsender 1+1, der dem Oligarchen Ihor Kolomojskyj gehört und auf dem ein Großteil von Selenskyjs Sendungen ausgestrahlt wird, ausschließlich positiv über Selenskyj und seine Auftritte berichtet – eine willkommene Wahlkampfunterstützung.
Wofür steht Selenskyj?
Anders als der Italiener Grillo oder der beliebte ukrainische Rockstar Wakartschuk beteiligte sich Selenskyj in der Vergangenheit in keinster Weise am politischen Diskurs – weder durch Blogs noch durch Statements oder Interviews. Deswegen können nur seine wenigen Interviews als Anhaltspunkte dafür dienen, welche Positionen der Kandidat vertritt. Bis vor Kurzem hatte er nicht mal ein Wahlprogramm.
Zum Krieg im Donbas sagte er in dem langen Interview mit Dmitrij Gordon, dass er bereit sei, direkt mit Wladimir Putin über eine Lösung der Krimkrise zu verhandeln. Auch sei er offen dafür, anschließend vor Ort per Referendum über die Lösung abstimmen zu lassen. Im BBC-Interview betonte er, dass er zwar zu Kompromissen bereit sei, aber die Krim und der Donbas zwingend wieder in ukrainische Hände gehörten. Der Ukrainska Pravda gegenüber beteuerte er, dass er das Minsker Abkommen nachverhandeln, es aber nicht einfach aufkündigen wolle.
Selenskyjs Programm: ein Sammelsurium
Anfang Januar rief Selenskyj seine Follower via Social Media dazu auf, ihm Probleme und Vorschläge für sein Wahlprogramm zu schicken. Daraus entstand ein jüngst fertiggestelltes Programm, in dem sich einige Plattitüden und populistische Elemente finden lassen, zum Beispiel mehr direkte Demokratie, deutlich höhere Investitionen in Infrastruktur und der Bau von Straßen „nach europäischem Standard“. Wie fast alle Präsidentschaftskandidaten lässt Selenskyj offen, wie er seine Vorhaben realisieren möchte.
Im Programm befinden sich aber auch sinnvolle Dinge, wie offene Wahllisten, Verbesserung des Geschäftsklimas durch Abbau sinnloser Regularien und eine absolute „Nulltoleranz für Korruption auf allen Ebenen“. Gleichzeitig spricht er dem neuen Antikorruptionsgericht und den Antikorruptionsbehörden seine maximale Unterstützung zu.
Interessanterweise hat Selenskyj als einer der ersten die Antikorruptionsagenda der führenden zivilgesellschaftlichen Organisationen unterzeichnet und sich somit verpflichtet, den wichtigen Prioritäten nachzukommen. Sein Wahlprogramm endet mit den hehren Worten: „Die Ukraine braucht heute nicht nur neue Gesichter. Sie braucht neue Ideen! Meine Hauptaufgabe ist es, anständige und patriotische Spezialisten an die Macht zu bringen.“ Wer würde da widersprechen wollen?
Unerfahrenheit als größte Schwäche Selenskyjs
Bisher schart Selenskyj keine bekannten externen politischen Berater um sich. Sein Team besteht ausschließlich aus alten Vertrauten, von denen niemand Erfahrung in Politik oder Verwaltung vorweisen kann. Das, verbunden mit seiner ehrlich und zum Teil naiv wirkenden Art wirft die Frage auf, ob er weiß, auf was er sich eingelassen hat und ob er im Falle eines Wahlsieges das Amt kompetent ausfüllen könnte. Seine Unerfahrenheit und augenscheinliche Beratungsresistenz gelten deswegen als einer seiner größten Schwächen. Alexander Motyl warnte jüngst in drastischen Worten davor, dass Selenskyjs Unerfahrenheit ein „Disaster“ für die Ukraine wäre und die Westbindung und Reformen gefährdeten. Viele Ukrainer bezweifeln, dass er die Reife, Ernsthaftigkeit und Geduld mit sich bringt, die man braucht, um das Land in dieser schwierigen Situation zu führen.
Nähe zu Kolomojskyj als Manko?
Dass ausgerechnet der selbsterklärte „außersystemische“ Kandidat Selenskyj, der angetreten ist, das Land aus den Fängen der Oligarchie zu befreien, seit Langem Fernsehsender des zweitreichsten Oligarchen auftritt und mit diesem seit Jahren lukrative Verträge abschließt, gehört zu den Paradoxien dieses Wahlkampfes. Im Interview mit der Ukrainska Prawda, sprach er von einer „nicht-Beziehung“ mit dem Oligarchen Ihor Kolomojskyj. Er pflege mit ihm lediglich eine Geschäftsbeziehung, sei aber weder mit ihm befreundet noch habe der Oligarch Einfluss über ihn oder seine Kampagne. Vielmehr behauptete Selenskyj, dass Kolomojskyj ihm „eine Menge“ Geld schulde.
Auch im Interview mit der BBC stritt er ab, eine Puppe von Kolomojskyj zu sein. Auf die Frage, warum er als Mann mit Prinzipien für einen Fernsehsender, der einem korrupten Oligarchen gehöre, arbeite, antwortete Selenskyj: „Alle Fernsehsender und großen Unternehmen gehören Oligarchen. Heißt das, dass alle 40 Millionen Ukrainer, die für solche Unternehmen arbeiten, keine Prinzipien haben?“
Tatsächlich wäre es falsch, den Medienmacher als Marionette des in der Ukraine in Ungnade gefallenen Oligarchen darzustellen. Seine Nähe zu diesem wirft aber die Frage auf, ob er Politik machen kann, die den Interessen seines (ehemaligen) Geschäftspartner zuwiderläuft.
Wer zuletzt lacht, lacht am besten?
Angriffe und Kritik an Selenskyj gingen bisher ins Leere. Insgesamt beteiligt er sich explizit nicht an der politischen Schlammschlacht. So bietet er wenig Angriffsfläche. Auch die Abwesenheit eines klaren politischen Profils scheint ihm eher zu nutzen als zu schaden. Selbst der kleinere Skandal um seine Produktionsfirma in Russland scheint ihm nicht angekreidet worden zu sein.
Ob Selenskyj den deutlich positiven Trend in den Umfragen fortsetzen und diesen dann tatsächlich in Wählerstimmen übersetzen kann, werden die nächsten Wochen zeigen. Die Unzufriedenheit mit dem aktuellen Präsidenten wird Selenskyj aber aller Wahrscheinlichkeit nach in die zweite Wahlrunde befördern. Dann wird es spannend sein zu beobachten, gegen wen Selenskyj antritt. Sollte er, worauf die Umfragen hindeuten, gegen den amtierenden Staatspräsidenten antreten, wird wahlentscheidend sein, wem die anderen Kandidaten wie Tymoschenko ihre Unterstützung aussprechen. Derzeit scheint es fast ausgeschlossen, dass Tymoschenko mit ihrer Maschinerie im Falle einer Niederlage in der ersten Runde ihren Erzfeind Poroschenko unterstützt. Kurzum, die Lage bleibt ausgesprochen unübersichtlich, aber die Wahrscheinlichkeit, dass ein Komiker der nächste Präsident der Ukraine wird, ist erstaunlich hoch.
Der Artikel ist als Teil einer Kooperation mit den Ukraine-Analysen entstanden. Eine kürzere, veränderte Fassung dieses Text erschien in den Ukraine-Analysen (Nr. 213).
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