„Manchmal höre ich die Sirenen nachts in meinen Träumen“
Luftalarm: In Kyjiw ertönten letzte Woche zum tausendsten Mal seit Beginn der umfassenden Invasion die Sirenen. Menschen, die in der ukrainischen Hauptstadt leben oder arbeiten, erzählen, wie das furchterregende Geräusch zu einem festen Bestandteil ihres Alltags geworden ist.
Tetjana Kornijenko (40), Leiterin der Ukrainischen Gesellschaft der Gehörlosen (UTOH) in der Region Kyjiw
„Mit meinem Hörgerät kann ich die Sirene ein klein wenig hören, aber ohne das Gerät höre ich gar nichts. Beim ersten Mal habe ich nicht verstanden, was das ist und was passiert. Jemand erklärte mir, dass das eine Luftschutzsirene ist – und dass der Krieg begonnen hat. In meiner Position musste ich diese Information an andere Gehörlose weitergeben. Also bat ich meinen Sohn, mir die verschiedenen Geräusche zu erklären, zum Beispiel den Unterschied zwischen dem Ton der Sirenen und dem der Militärflugzeuge.
„Wo ist mein Kind? Was passiert um mich herum?“
Heute signalisiert mir meine Smartwatch oder mein Telefon per Vibrationsalarm, dass der Luftalarm bevorsteht. Wenn die Sirene ertönt, bin ich sehr besorgt: Wo ist mein Kind? Was passiert um mich herum? Aus welcher Richtung kommt die Rakete? Im Januar saß ich während eines Alarms hinter dem Steuer und plötzlich sah ich die rosafarbenen Lichter der Explosion. Das war beängstigend. Man weiß nie, wo die Rakete einschlägt oder wohin die Trümmer fallen werden. Und ob man als Gehörlose Glück haben wird oder nicht.”
Oksana Pohribna (44), Hauptschaffnerin
„Bei Luftalarm hält der Zug nicht an, wir fahren einfach weiter. Aber wenn wir am Bahnhof sind, gehen wir in den Luftschutzkeller. Das erste Mal hörte ich die Sirene am 25. Februar 2022, auf der Zugfahrt von Mariupol nach Lwiw, als wir in Lwiw ankamen. Danach fuhr der Zug nicht mehr nach Mariupol zurück. In den nächsten 38 Tagen arbeitete ich ununterbrochen, weil wir bei der Evakuierung von Menschen aus der gesamten Ukraine halfen. Ich hatte keine Zeit, auf den Luftalarm zu achten, denn in meinem Waggon waren immer über 200 Menschen, und ich hatte alle Hände voll zu tun. Es ist wirklich schwer zu beschreiben, wie es sich anfühlt, die Sirene zu hören – es erfüllt mich jedes Mal mit großer Angst.”
Mychajlo, Fahrer eines Sanitätsdienstes, Kyjiw
„Zuerst waren Sirenen zu hören und dann mehrere Explosionen. Meine Frau war zu Hause, und ich kam gerade mit dem Auto an – da schlug die Rakete ein. Alles stand in Flammen. Die Sanitäter konnten nicht wirklich helfen, weil die Leute alle mit Glasscherben bedeckt waren, und die Feuerwehr hatte kein Wasser. So war das. Früher hatten wir überhaupt keine Angst vor den Sirenen. Aber wenn jetzt die Sirene heult, bringe ich alle in die U‑Bahn. Das Gefühl ist schwer zu beschreiben. Mein Sohn ist vor einem Jahr gestorben. Er ist im Krieg gefallen.“
Ljudmyla Hurtak (31), U‑Bahn-Mitarbeiterin, Region Tschernihiw
„Bei Luftalarm werden wir vom Hauptdepot informiert, aber hier in der U‑Bahn ist die Sirene nicht zu hören, damit keine Panik ausbricht. Besonders Sorgen mache ich mir um die Sicherheit unserer Fahrgäste und der Menschen, die [im U‑Bahn-Schacht] Schutz suchen. Ich tue, was ich kann, um ihnen zu helfen, biete ihnen einen Stuhl an oder etwas Wasser. Seitdem ich unter [russischer] Besatzung in der Region Tschernihiw gelebt habe, schreckt mich der Klang einer Sirene nicht mehr so wie früher.
Ein Geräusch, das tief in einem nachhallt
Aber an die erste Sirene erinnere ich mich noch sehr genau: Ich war zu Hause und hatte große Angst, weil ich so etwas noch nie gehört hatte. Es ist ein Geräusch, das tief in einem nachhallt. Der Anfang des Heulens ... der versetzt einen in Panik. Eine andere Sirene, die ich nie vergessen werde, ist die in der Nähe des Kyjiwer Hauptbahnhofs, als eine Rakete in unmittelbarer Nähe einschlug. Mit der Zeit habe ich mich an die Sirenen gewöhnt. Wenn ich zu Hause bin, kann es sich immer noch unerwartet anders anfühlen, aber bei der Arbeit ist es zur Gewohnheit geworden.”
Mychajlo Opekan (31), Singer-Songwriter und Projektmanager bei „Musiker verteidigen die Ukraine“ und der „Stiftung Mut zum Wiederaufbau“, Kyjiw
„Manchmal höre ich die Sirenen nachts in meinen Träumen. Manchmal wache ich davon auf, manchmal nicht. Ich finde das Sirenengeräusch auch oft in Liedern wieder. Plötzlich ist das Geräusch da. Aber der Klang der Sirene hat nichts mit Musik zu tun, es ist ein schrecklicher Klang, es ist ein Gefühl. Es geht um den Krieg. Und um das Leben. Wenn man eine Sirene hört, bedeutet das, dass Menschen sterben können. Aber leider gewöhnt sich der Verstand daran – das ist menschlich. Manchmal fühle ich nichts. Aber mein Verstand versteht immer, dass diese Sirene zerstörte Häuser, zerstörte Familien, zerstörte Leben hinterlässt. Das ist es, was dieses Geräusch bedeutet.”
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