„Manch­mal höre ich die Sirenen nachts in meinen Träumen“

Kyjiw
Foto: Albert Lores

Luft­alarm: In Kyjiw ertön­ten letzte Woche zum tau­sends­ten Mal seit Beginn der umfas­sen­den Inva­sion die Sirenen. Men­schen, die in der ukrai­ni­schen Haupt­stadt leben oder arbei­ten, erzäh­len, wie das furcht­erre­gende Geräusch zu einem festen Bestand­teil ihres Alltags gewor­den ist.

Tetjana Kor­ni­jenko (40), Lei­te­rin der Ukrai­ni­schen Gesell­schaft der Gehör­lo­sen (UTOH) in der Region Kyjiw

Kor­ni­jen­kos Verband ver­tritt ca. 30.000 ukrai­ni­sche Gehör­lose.
Foto: Albert Lores

„Mit meinem Hör­ge­rät kann ich die Sirene ein klein wenig hören, aber ohne das Gerät höre ich gar nichts. Beim ersten Mal habe ich nicht ver­stan­den, was das ist und was pas­siert. Jemand erklärte mir, dass das eine Luft­schutz­si­rene ist – und dass der Krieg begon­nen hat. In meiner Posi­tion musste ich diese Infor­ma­tion an andere Gehör­lose wei­ter­ge­ben. Also bat ich meinen Sohn, mir die ver­schie­de­nen Geräu­sche zu erklä­ren, zum Bei­spiel den Unter­schied zwi­schen dem Ton der Sirenen und dem der Militärflugzeuge.

„Wo ist mein Kind? Was pas­siert um mich herum?“

Heute signa­li­siert mir meine Smart­watch oder mein Telefon per Vibra­ti­ons­alarm, dass der Luft­alarm bevor­steht. Wenn die Sirene ertönt, bin ich sehr besorgt: Wo ist mein Kind? Was pas­siert um mich herum? Aus welcher Rich­tung kommt die Rakete? Im Januar saß ich während eines Alarms hinter dem Steuer und plötz­lich sah ich die rosa­far­be­nen Lichter der Explo­sion. Das war beängs­ti­gend. Man weiß nie, wo die Rakete ein­schlägt oder wohin die Trümmer fallen werden. Und ob man als Gehör­lose Glück haben wird oder nicht.”

Oksana Pohribna (44), Hauptschaffnerin

Kurz vor Abfahrt des Zuges von Kyjiw nach Odesa.
Foto: Albert Lores

„Bei Luft­alarm hält der Zug nicht an, wir fahren einfach weiter. Aber wenn wir am Bahnhof sind, gehen wir in den Luft­schutz­kel­ler. Das erste Mal hörte ich die Sirene am 25. Februar 2022, auf der Zug­fahrt von Mariu­pol nach Lwiw, als wir in Lwiw ankamen. Danach fuhr der Zug nicht mehr nach Mariu­pol zurück. In den nächs­ten 38 Tagen arbei­tete ich unun­ter­bro­chen, weil wir bei der Eva­ku­ie­rung von Men­schen aus der gesam­ten Ukraine halfen. Ich hatte keine Zeit, auf den Luft­alarm zu achten, denn in meinem Waggon waren immer über 200 Men­schen, und ich hatte alle Hände voll zu tun. Es ist wirk­lich schwer zu beschrei­ben, wie es sich anfühlt, die Sirene zu hören – es erfüllt mich jedes Mal mit großer Angst.”

Mycha­jlo, Fahrer eines Sani­täts­diens­tes, Kyjiw

Bei einem Angriff auf Mycha­j­los Haus starben drei Men­schen.
Foto: Albert Lores

„Zuerst waren Sirenen zu hören und dann mehrere Explo­sio­nen. Meine Frau war zu Hause, und ich kam gerade mit dem Auto an – da schlug die Rakete ein. Alles stand in Flammen. Die Sani­tä­ter konnten nicht wirk­lich helfen, weil die Leute alle mit Glas­scher­ben bedeckt waren, und die Feu­er­wehr hatte kein Wasser. So war das. Früher hatten wir über­haupt keine Angst vor den Sirenen. Aber wenn jetzt die Sirene heult, bringe ich alle in die U‑Bahn. Das Gefühl ist schwer zu beschrei­ben. Mein Sohn ist vor einem Jahr gestor­ben. Er ist im Krieg gefallen.“

Ljud­myla Hurtak (31), U‑Bahn-Mit­ar­bei­te­rin, Region Tschernihiw

„Beson­ders Sorgen mache ich mir um die Sicher­heit unserer Fahr­gäste“
Foto: Albert Lores

„Bei Luft­alarm werden wir vom Haupt­de­pot infor­miert, aber hier in der U‑Bahn ist die Sirene nicht zu hören, damit keine Panik aus­bricht. Beson­ders Sorgen mache ich mir um die Sicher­heit unserer Fahr­gäste und der Men­schen, die [im U‑Bahn-Schacht] Schutz suchen. Ich tue, was ich kann, um ihnen zu helfen, biete ihnen einen Stuhl an oder etwas Wasser. Seitdem ich unter [rus­si­scher] Besat­zung in der Region Tscher­ni­hiw gelebt habe, schreckt mich der Klang einer Sirene nicht mehr so wie früher.

Ein Geräusch, das tief in einem nachhallt

Aber an die erste Sirene erin­nere ich mich noch sehr genau: Ich war zu Hause und hatte große Angst, weil ich so etwas noch nie gehört hatte. Es ist ein Geräusch, das tief in einem nach­hallt. Der Anfang des Heulens ... der ver­setzt einen in Panik. Eine andere Sirene, die ich nie ver­ges­sen werde, ist die in der Nähe des Kyjiwer Haupt­bahn­hofs, als eine Rakete in unmit­tel­ba­rer Nähe ein­schlug. Mit der Zeit habe ich mich an die Sirenen gewöhnt. Wenn ich zu Hause bin, kann es sich immer noch uner­war­tet anders anfüh­len, aber bei der Arbeit ist es zur Gewohn­heit geworden.”

Mycha­jlo Opekan (31), Singer-Song­wri­ter und Pro­jekt­ma­na­ger bei „Musiker ver­tei­di­gen die Ukraine“ und der „Stif­tung Mut zum Wie­der­auf­bau“, Kyjiw

Opekan im Kul­tur­zen­trum „Spaska 12“ im Kyjiwer Stadt­teil Podil.
Foto: Albert Lores

„Manch­mal höre ich die Sirenen nachts in meinen Träumen. Manch­mal wache ich davon auf, manch­mal nicht. Ich finde das Sire­nen­ge­räusch auch oft in Liedern wieder. Plötz­lich ist das Geräusch da. Aber der Klang der Sirene hat nichts mit Musik zu tun, es ist ein schreck­li­cher Klang, es ist ein Gefühl. Es geht um den Krieg. Und um das Leben. Wenn man eine Sirene hört, bedeu­tet das, dass Men­schen sterben können. Aber leider gewöhnt sich der Ver­stand daran – das ist mensch­lich. Manch­mal fühle ich nichts. Aber mein Ver­stand ver­steht immer, dass diese Sirene zer­störte Häuser, zer­störte Fami­lien, zer­störte Leben hin­ter­lässt. Das ist es, was dieses Geräusch bedeutet.”

 

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