Leerstellen der Geschichte: Die sowjetische Politik des (Nicht)-Erinnerns an den Holocaust
Dieses Denkmal mit jiddisch- und russischsprachiger Inschrift wurde 1958 in der Nähe der Erschießungsstätte von Berdytschiw aufgestellt. Tage später wurde es auf den jüdischen Friedhof verlegt. Es zeigt, dass Gedenken an jüdische Opfer in der Sowjetunion nicht komplett unmöglich war.
Auf dem Gebiet der heutigen Ukraine ermordeten die Nazis zwischen 1941 – 1944 mehr als 1,5 Millionen jüdischer Kinder, Frauen und Männer – etwa 60 Prozent der jüdischen Gesamtbevölkerung der damaligen Sowjetunion. Nach dem Krieg wurde die Erinnerung an diese Gräuel unterdrückt – aber nicht vollständig, schreibt Bozhena Kozakevych.
„Es gibt Dinge, Tragödien, vor derer Unendlichkeit jedes Wort machtlos bleibt und von denen viel mehr das Schweigen aussagen würde – das große Schweigen von Tausenden. Vielleicht sollten wir an dieser Stelle auch ohne Worte auskommen und schweigsam an das Gleiche denken. Aber, Schweigen spricht nur in den Fällen für sich allein, wo alles, was hätte gesagt werden können, bereits gesagt wurde. Wenn aber bei weitem nicht alles gesagt wurde, wenn noch nichts gesagt wurde, dann wird das Schweigen zum Verbündeten von der Unwahrheit und Unfreiheit. Aus diesem Grund reden wir und wir sollen auch reden – überall, wo man es darf und wo es verboten ist und dabei jede Gelegenheit nutzen, die wir gar nicht so oft haben.“ [2]
Mit diesen Zeilen begann der ukrainische Autor und Dissident Iwan Dsjuba seine Rede am 29. September 1966. Er trat spontan während einer nicht genehmigten Gedenkzeremonie anlässlich des 25. Jahrestages der Massenerschießungen in Babyn Jar auf. Mehrere Jahre später bezeichnete Patrick Desbois die Massenerschießungen von jüdischen Kindern, Frauen und Männern als „Holocaust durch Kugeln“. Anders als in den meisten europäischen Ländern, wo die jüdische Bevölkerung erst in Konzentrationslager deportiert wurde, begannen die Nazis auf dem Gebiet der heutigen Ukraine schon innerhalb der ersten Besatzungswochen mit dem Morden. Meist wurden die Opfer an ihren Wohnorten versammelt und von dort zu bereits ausgehobenen Gruben gebracht und getötet. [18, S. 349] Mehr als 2.000 solcher Orte gibt es heute in der Ukraine. [ 1, S. 4]
Beginn des Verschweigens
Eine diplomatische Note des sowjetischen Außenministers Wjatscheslaw Molotow vom Januar 1942 über die Massenmorde in Babyn Jar zeigt, dass die sowjetische Führung jüdischen Opfern der nationalsozialistischen Besatzungspolitik keine Sonderstellung einräumen wollte. Molotov verschob den Fokus von der jüdischen Herkunft der meisten Opfer auf ihre Loyalität gegenüber der sowjetischen Regierung als Grund für ihre Ermordung. [7] Diese Darstellung ist typisch für die offiziellen sowjetischen Meldungen aus dem Zweiten Weltkrieg. Der Historiker Karel Berkhoff hat jedoch angemerkt, dass die jüdische Herkunft der von den Nationalsozialisten und ihren Helfern Ermordeten in der sowjetischen Presse in den Jahren 1941 – 1944 hin und wieder erwähnt wurde. [12] Regelmäßig über die Massenmorde an der jüdischen Bevölkerung berichtete lediglich die jiddischsprachige Zeitung «Ejnikejt», das Organ des Jüdischen Antifaschistischen Komitees (JAK), deren Zielgruppe die jüdische Bevölkerung war. [4, S. 88] Da die sowjetische Propaganda im Zweiten Weltkrieg in erster Linie auf die Mobilisierung der Bevölkerung für den Kampf gegen das Dritte Reich gerichtet war, ließ sie die Erwähnung der ethnischen Herkunft der Ermordeten zu.
In der Nachkriegszeit veränderte sich das grundlegend. Die Geschichte des „Schwarzbuchs“, das den Massenmord den Juden in der Sowjetunion dokumentierte, und die Verhandlungen zwischen dem JAK und den zuständigen staatlichen Stellen über eine Veröffentlichung veranschaulichen, welche Erinnerungspolitik sich in der Sowjetunion herausbildete. Noch im Sommer 1944 schien eine Publikation möglich. Die literarische Kommission, geleitet von den bekannten sowjetischen Schriftstellern Wasili Grossman und Ilja Ehrenburg, war nur formell dem sowjetischen Informationsbüro (Sowinform) unterstellt und verfügte über Freiheiten in der Gestaltung dieses Buches. Im darauffolgenden Jahr wurde das Projekt jedoch erstmals von staatlicher Seite kritisiert, in erster Linie „wegen der Überbetonung des Ausmaßes der Kollaboration der sowjetischen Bevölkerung mit der nationalsozialistischen Besatzungsmacht“ sowie der „zu positiven Darstellung der Mitglieder der Judenräte“, der von Nationalsozialisten errichteten jüdischen Zwangskörperschaften. Nach dieser öffentlichen Kritik entschieden die zuständigen Stellen, Änderungen in der Publikation vorzunehmen und sie um Dokumente der Außerordentlichen Staatlichen Kommission (TschGK) zur Ermittlung von nationalsozialistischen Verbrechen zu ergänzen. Das Hauptziel der Herausgabe des „Schwarzbuchs“ war aus Sicht der sowjetischen Regierung sein Nutzen als Beweismittel beim Nürnberger Prozess. [14, S. 70–84]
Endgültig besiegelt wurde das Schicksal des Schwarzbuches im Oktober 1947, fünf Jahre nach dem Beginn der Arbeit daran. Seine Veröffentlichung wurde von der Abteilung Agitation und Propaganda (Agitprop) „wegen ideologischer Fehler“ abgelehnt. Der Agitprop-Vorsitzende Grigori Alexandrow argumentierte, dass die Publikation schädlich sei, weil sie die Vorstellung vom Krieg des Dritten Reiches gegen die Sowjetunion verzerren könnte, indem sie ihn so darstelle, als sei er in erster Linie gegen die jüdische Bevölkerung gerichtet gewesen, und nicht gegen alle sowjetischen Völker. [12, S. 86]
Offizielle (Nicht)Erinnerung und inoffizielle Gedenkpraktiken
Die Nichtveröffentlichung der Holocaust-Zeugnisse belegt wichtige Aspekte der sowjetischen Erinnerungspolitik. Zum einen sollte der jüdischen Bevölkerung keine Sonderstellung unter den sowjetischen Opfern beigemessen werden, zum anderen sollte die Kollaboration der sowjetischen Bevölkerung mit der deutschen Besatzungsmacht nicht öffentlich thematisiert werden. Nichtsdestotrotz fanden Gerichtsverfahren wegen Zusammenarbeit mit den Besatzern statt. Der sowjetischen Regierung war es aber wichtig, nicht den Eindruck zu erwecken, dass Kollaboration eine Massenerscheinung gewesen wäre. [8, S. 189]
Das Verbot der Veröffentlichung des „Schwarzbuchs“ fiel mit dem Anfang der staatlichen antisemitischen Kampagne in der UdSSR zusammen. Sie begann mit den Verfolgungen wegen „Zionismus“, wurde mit dem Kampf gegen „Kosmopoliten“ und dem Prozess gegen die Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees fortgesetzt und erreichte 1952 in der erfundenen „Ärzteverschwörung“ ihren Höhepunkt.
Die Suche nach „Zionisten“ unter der jüdischen Bevölkerung war direkt mit der Gründung des Staates Israel verbunden. Stalin hatte eigentlich gehofft, in Israel einen sozialistischen Verbündeten zu finden. Als dies nicht eintrat, nahmen die Verfolgungen wegen „Zionismus“ zu. Erwähnenswert ist, dass antisemitische Stimmungen in den ersten Nachkriegsjahren auch in der Bevölkerung zunahmen. Am 7. September 1945 fand in Kyjiw ein antijüdisches Pogrom statt. Jüdinnen und Juden, die nach ihrer kriegsbedingten Evakuierung zurückkehrten, mussten feststellen, dass ihre Wohnungen von anderen Menschen bewohnt waren. Die lokale Behörden halfen ihnen nur selten, ihre Wohnungen zurückzubekommen. Das erweckte den Eindruck, dass sie teilweise die Politik des Moskauer Zentrums gegenüber der jüdischen Bevölkerung sowie den steigenden Antisemitismus in der Gesellschaft nicht einzuordnen wussten. [19]
Die Rückkehr der sowjetischen Behörden in die Ukraine war von dem Umstand begleitet, dass es so gut wie keine jüdische Bevölkerung mehr gab. Noch waren keine Jüdinnen und Juden, die den Holocaust in der Evakuierung, an der Front oder in rumänischen Ghettos überlebt haben, zurückgekehrt. [15, с. 367] An allen ehemaligen jüdischen Wohnorten waren jedoch Spuren ihrer Ermordung vorzufinden: in der Nähe von Dörfern, Klein- und Großstädten und manchmal sogar in den Orten selber. Die Erschießungsstätten, die an die hier geschehenen Grausamkeiten erinnerten, unterschieden die Ukraine von den anderen besetzten westeuropäischen Ländern, in denen die Ermordung der jüdischen Bevölkerung in der Regel nicht vor Ort geschah. Die Massengräber wurden zum Ort des Trauerns für Holocaust-Überlebende. [4, с. 90] Diese Orte stellten eine physische Erinnerung daran dar, über die die sowjetische Regierung lieber schweigen wollte. Der Staat entwickelte zwei wesentliche Umgangsstrategien mit solchen Orten: Wie im wohl bekanntesten Fall von Babyn Jar wurde häufig ihre Topographie verändert, um ihnen eine andere Bedeutung zu geben – was zur Zerstörung der Massengräber führte. Die zweite Strategie bestand darin, diese Orte „den friedlichen Bürgern“ zu widmen. Die jüdische Herkunft der Opfer wurde verschwiegen. Die meisten dieser Denkmäler sind allerdings erst in den 1960–70ern errichtet worden. Manchmal griffen die sowjetischen Behörden auf beide Methoden zurück: Zwar wurde ein Denkmal aufgestellt, das Massengrab selber aber zerstört, zum Beispiel durch landwirtschaftliche Nutzung oder Bebauung. [9]
Die beschriebenen Beispiele veranschaulichen die Versuche der Machthaber, dem Holocaust keinen Platz in der sowjetischen Erinnerungslandschaft einzuräumen. Peter Novick verdeutlichte mit seiner Forschung über die USA, dass die Nichterinnerung an den Holocaust nicht nur für die Sowjetunion kennzeichnend war. [17] Auch der politische Westen beschäftigte sich in den Nachkriegsjahren nicht mit dem Holocaust, sondern konzentrierte sich in erster Linie auf „eigene“ Opfer. Es ist dennoch wichtig, zwischen der offiziellen Erinnerungspolitik und den inoffiziellen Gedenkpraktiken zu unterscheiden. Dazu zählten Initiativen von Künstlern, Schriftstellern und Privatpersonen. [10] Die bekanntesten literarischen Werke in den 1960ern über den Holocaust sind Jewgeni Jewtuschenkos Gedicht von „Babyn Jar“ (1961) [3] und der autobiographische Roman von Anatoli Kusnezow „Babyn Jar“ (1966) [6]. Viel früher, bereits 1943, erschien das Gedicht “Dem jüdischen Volk gewidmet“ des ukrainischen Dichters Pavlo Tytschyna. [11]
In der Öffentlichkeit überwiegt die Vorstellung, dass in der Sowjetunion bis in die 1980er Jahre hinein keine Denkmäler errichtet wurden, die die jüdische Herkunft der Opfer erwähnten. Das entspricht aber nicht ganz der Wahrheit, da solche Denkmäler, manchmal sogar mit Widmungen auf Jiddisch, vielerorts aufgestellt wurden. [10]
So schildert ein Bericht über die Religionssituation im Gebiet Shytomyr von 1958 detailliert die Errichtung eines Denkmals in der Nähe der Massenerschießungsstätte bei Berdytschiw. Obwohl die ethnische Herkunft der Ermordeten in der Aufschrift nicht erwähnt wurde, wies die jiddische Inschrift, die neben der russischen verwendet wurde, eindeutig darauf hin. Der Bericht dokumentiert sorgfältig die Spielräume für die Umsetzung solcher Initiativen auf lokaler Ebene. Gleichzeitig veranschaulicht er die Position höherer Regierungsebenen, die solche Gedenkpraktiken zu verhindern suchten. Davon zeugt auch die Verlegung des Denkmals durch „Unbekannte“ (laut des Berichts) vom tatsächlichen Ort zum Jüdischen Friedhof in Berdytschiw. Die Stadtverwaltung nahm Kenntnis von den Plänen zur Errichtung des Denkmals und von der Einweihungszeremonie, unternahm jedoch keine Schritte, um dies zu verhindern. Erst als Reaktion auf Anfragen aus Shytomyr, dem Gebietszentrum, dem Berdytschiw direkt unterstellt war, wurde der Zugang zum Ort der Gedenkzeremonie eingeschränkt, um eine Massenversammlung zu verhindern. [5]
Bei der Erforschung der Erinnerungslandschaft an den Holocaust in der Sowjetunion ist es wichtig, zwei Ebenen in Betracht zu ziehen: die offizielle und die inoffizielle, sowie ihre Verflechtungen. Die offiziellen sowjetischen Stellen hätten sich am liebsten gar nicht mit dem Thema Holocaust auseinandergesetzt, private Initiativen zwangen sie jedoch dazu, Umgangsstrategien zu entwickeln. Die verschiedenen Akteure lernten Spielräume zwischen den diversen Regierungsebenen zu nutzen, um das Gedenken an die jüdischen Opfer zu ermöglichen. Bis in die 1980er Jahre blieb die Ermordung der jüdischen Bevölkerung jedoch an der Peripherie der sowjetischen Erinnerungslandschaft.
Quellen und weiterführende Literatur:
- Брандон, Рей. Бараші. Життя та загибель єврейської громади. Київ, 2019.
- Дзюба, Іван. Текст виступу 1966 р. на роковини розстрілів у Бабиному Яру http://ju.org.ua/ru/holocaust/175.html (eigene Übersetzung)
- Евтушенко, Евгений: Бабий Яр URL: https://rupoem.ru/evtushenko/nad-babim-yarom.aspx (дата звернення: 18.08.2021)
- Зельцер, Аркадій. «Евреи в Бабьем Яру» в Советском Союзе в 1941–1945 годах / вид. Український центр вивчення історії Голокосту, Громадський комітет для вшанування пам’яті жертв Бабиного Яру. Бабин Яр: масове вбиство і пам’ять про нього. Матеріали міжнародної наукової конференції. Київ, 2019. C. 83 – 100.
- Исполнительный отчет о роботе Уполномоченого Совета по делам религиозных культом при Житомирском Облисполкоме за 1958 год / Державний архів Житомирської області, ф. 4994, о. 4, спр. 3, арк. 30 – 35.
- Кузнецов, Анатолий. Бабий Яр. Роман-документ. Москва,
- Нота народного комиссара иностранных дел тов. В. М. Молотова / Известия. 1942. – 7 янв.
- Пентер, Таня. Під слідством за співпрацю: судове переслідування колаборантів у СРСР після Другої світової війни та злочинів у Бабиному Яру / Український центр вивчення історії Голокосту, Громадський комітет для вшанування пам’яті жертв Бабиного Яру. Бабин Яр: масове вбиство і пам’ять про нього. Матеріали міжнародної наукової конференції. Київ, 2019. C. 189 – 197
- Проєкт «Мережа пам’яті» URL: https://netzwerk-erinnerung.de/uk/mistsya/ (дата звернення: 19.08.2021)
- Склокіна, Ірина. Пам’ять про Голокост у часи СРСР. Про дозволені та заборонені практики URL: https://ukrainianjewishencounter.org/uk/память-про-голокост-у-часи-срср-про-до/ (дата звернення: 18.08.2021)
- Тичина, Павло. Єврейському народові / Олена Проскура, Запізніла сповідь. Київ, 2016. С. 175–177.
- Berkhoff, Karel. Motherland in Danger: Soviet Propaganda during World War II. Cambridge, 2012.
- Desbois, Patrick. The Holocaust by Bullets: A Priest’s Journey to Uncover the Truth Behind the Murder of 1.5 Million Jews. Basingstoke, 2010.
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- Novick, Peter. The Holocaust in American Life. Boston, 1999.
- Portnov, Andrii. The Holocaust in the Public Discourse of Post-Soviet Ukraine / Fedor, J., Kangaspuro, M., Lassila, J., Zhurzhenko, T. (Eds.). War and Memory in Russia, Ukraine and Belarus. Basingstoke, 2010, pp. 347 – 370.
- Weiner, Amir. Making Sense of War. The Second World War and the Fate of the Bolshevik Revolution. Princeton, 2001.
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