Die verborgenen Risiken bei den ukrainischen Präsidentschaftswahlen
Weniger als eine Woche vor der ersten Wahlrunde der Präsidentschaftswahlen ist der Ausgang vollkommen offen. Gleichzeitig ist das Ringen um den zweiten Platz Schlüsselfrage dieses ersten Wahlganges. Brisant wird sein, wie sich Tymoschenko oder Poroschenko im Falle eine Wahlniederlage verhalten und ob sie die Wahl und dessen Legitimität in Frage stellen. Von Ruslan Kermach
Weniger als eine Woche vor der ersten Wahlrunde der ukrainischen Präsidentschaftswahlen scheinen sich die Präferenzen der Wähler und Wählerinnen zu festigen. Obwohl Umfragen in der Ukraine generell mit Skepsis zu betrachten sind, lassen sich einige klare Trends erkennen. So zeigen jüngste Meinungsumfragen, wie die gemeinsame Umfrage der Rating-Group, des Kiev International Institute of Sociology (KIIS) und des Razumkov Centers eine deutliche Führung von Wolodymyr Selenskyj, dem Showman und Comedian. Selenskyj wird gefolgt von Petro Poroschenko, dem Amtsinhaber, und Julija Tymoschenko, der ehemaligen Premierministerin.
Die Grafik oben zeigt die Werte derjenigen Wähler*innen, die sich bereits entscheiden haben, wen sie in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen wählen werden. Laut Umfrage sind immer noch ein Viertel der Wähler unentschlossen. Die statistische Fehlerquote liegt bei 0,8 Prozent.
Die nächsten Verfolger der drei führenden Kandidaten sind Anatoly Hryzenko (9,7 Prozent) und Jurij Boiko (8,4 Prozent). Sie haben einen spürbaren Rückstand, den sie wahrscheinlich nicht in den wenigen verbleibenden Tagen vor den Präsidentschaftswahlen aufholen können.
Neben der Rating-Group-Umfrage sah auch das KIIS, das seine letzte eigene Umfrage am 25.03. veröffentlichte, eine deutliche Führung von Selenskyj. Das KIIS sah den Comedian sogar bei 32 Prozent. Obwohl einige Experten noch Zweifel an den hohen Werten haben, geben die jüngsten soziologischen Messungen einige vorsichtige Gründe zu der Annahme, dass es Selenskyj gelingen wird, in die zweite Runde einzuziehen. Mindestens 76 Prozent seiner Anhänger sagen, dass sie „definitiv“ in die Wahllokale kommen und abstimmen werden, und weitere 12 Prozent gaben an, dies höchstwahrscheinlich tun zu wollen. Kurzum, es ist mit einem Sieg Selenskyjs in der ersten Wahlrunde zu rechnen.
Die wichtigere Frage ist, wer neben ihm den zweiten Platz belegt und damit in die Stichwahl einzieht. Laut den Umfragen ist der Abstand zwischen Julija Tymoschenko und Petro Poroschenko extrem knapp. Die oben gezeigte Umfrage sah die Umfragewerte der beiden Kontrahenten bei 16,6 bzw. 16,4 Prozent.
Kampf um Platz zwei birgt politisches Risiko
Doch die mangelnde Klarheit über den zweiten Kandidaten, der in die zweite Runde einzieht, birgt das Risiko eines politischen Konflikts kurz nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahl.
Sowohl Poroschenko als auch Tymoschenko könnten im Falle eines knappen Wahlausganges den Ausgang und den gesamten Wahlprozess in Frage stellen. Im zurückliegenden Wahlkampf beschuldigten sich die Kandidaten und Behörden gegenseitig – meist ohne Beweise – der Nutzung schmutziger Wahlkampfmethoden, der Manipulation und des Stimmenkaufes. Das, zusammen mit der Tatsache, dass bei den Wahlen auf Videoüberwachung in den Wahllokalen verzichtet wird, könnte Gründe liefern, den Gegner des unfairen Spiels zu beschuldigen und die Ergebnisse der Abstimmung in Frage zu stellen. Die Erfahrung der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen zwischen Janukowytsch und Juschtschenko aus dem Jahr 2004 ist vielen noch in Erinnerung.
Ein Krisenszenario
Sollte einer der drittplatzierten Kandidaten die Wahl als Ganzes anzweifeln, droht eine politische Krise mit weitreichenden Folgen. Denkbar wäre, dass der bzw. die Unterlegene unmittelbar zu öffentlichen Protesten aufruft. Das wiederum könnte im schlimmsten Fall zur Gewalt führen und die ordnungsgemäße Durchführung des zweiten Wahlgangs und damit den gesamten Wahlprozess gefährden.
Im Falle einer Niederlage könnte sich Julija Tymoschenko schnell als Opfer einer politischen Intrige inszenieren. Als Oppositionskandidatin und prominente Kritikerin der aktuellen Regierung könnte die ehemalige Premierministerin Anschuldigungen gegen Poroschenko erheben, den knappen Wahlsieg durch Manipulation errungen zu haben. Dabei kann sie auf einen loyalen Parteiapparat zurückgreifen, der in der Lage wäre, Menschen zu Protesten zu mobilisieren und in die Hauptstadt zu bringen.
Zweitens verfügt Tymoschenko nicht über die administrativen Ressourcen, auf die der amtierende Präsident Poroschenko zurückgreifen kann (durch die Ernennung von Leitern der Regionalverwaltungen, die Nutzung von Haushaltsmitteln etc.), was ihr ein zusätzliches Argument für Kritik gibt und ihre Position in den Augen der Öffentlichkeit in der Ukraine verletzlicher macht.
Zudem ist das öffentliche Misstrauen gegenüber Tymoschenko heute deutlich geringer als gegenüber Präsident Poroschenko. Das derzeitige Staatsoberhaupt führt in Umfragen das öffentliche Misstrauen in der Ukraine an: 69 Prozent Bürger vertrauen ihm nicht. Unter denen, die beabsichtigen, bei den Präsidentschaftswahlen ihre Stimme abzugeben, wird fast jeder zweite Befragte (49,6 Prozent) unter keinen Umständen für ihn stimmen. Tymoschenkos Anti-Rating liegt bei lediglich knapp 30 Prozent. Hinzu kommt der weltweite Negativrekord für Vertrauen der Menschen in die Regierung: Hier führt die Ukraine laut einem Gallup Poll mit neun Prozent (im Vergleich zu 48 Prozent in postsowjetischen Staaten). Die gleiche Umfrage zeigt, dass nur zwölf Prozent der erwachsenen Wähler Vertrauen in die Wahlen haben.
Des Weiteren sind die bevorstehenden Wahlen für ziemlich viele Wähler und Wählerinnen (etwa jeden Zweiten) eine Art Referendum über dem amtierenden Präsidenten Poroschenko. Vieles deutet darauf hin, dass dieses eher negativ ausfällt. Daher sollte die Kandidatin Tymoschenko im Falle einer Wahlniederlage keine größeren Probleme bei der Mobilisierung und Vereinigung der Ukrainer haben, die mit der Regierung und Präsident Poroschenko unzufrieden sind, einschließlich der Führer anderer oppositioneller politischer Kräfte und Vertreter von Finanz- und Industriekonzernen, die bereit wären, einen langfristigen politischen Protest zu unterstützen.
Im Falle einer Wahlniederlage Poroschenkos in der ersten Runde kann ebenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass er auf außergewöhnliche Mittel zurückgreift, um den Wahlprozess anzuzweifeln bzw. zu beeinflussen und somit seinen Machtverlust zu vermeiden. Das wahrscheinlichste Mittel für Poroschenko wäre ein juristischer Versuch, das Wahlergebnis anzuzweifeln. Die Justiz ist trotz Reformbemühungen noch politisch beeinflusst und es ist nicht auszuschließen, dass es zu einer Annullierung der Ergebnisse kommt. Ebenfalls denkbar ist, dass Russland eine Einmischung in die Wahl vorgeworfen wird. Dies könnte den Behörden bzw. Poroschenko als Vorwand dienen, den Ausgang der Wahlen anzuzweifeln oder gar zu annullieren.
Obwohl ein solches Szenario nicht absolut ausgeschlossen werden kann, ist es unwahrscheinlich, dass die ukrainische Gesellschaft als Ganzes bereit wäre, es zu akzeptieren. Im Gegenteil, solche Maßnahmen der Behörden könnten angesichts des geringen Vertrauens der Öffentlichkeit in die staatlichen Institutionen und den Präsidenten eine noch akutere politische Krise auslösen als die Niederlage Tymoschenkos.
Der friedliche Ausgang der Präsidentschaftswahlen wird also weniger von der Reihenfolge der Wahlsieger im ersten Wahlgang, sondern vielmehr von der Entfernung der zweit- und drittplatzierten Kandidaten abhängen. Je geringer der Abstand zwischen Poroschenko und Tymoschenko, desto höher ist das Risiko einer politischen Auseinandersetzung, die im schlimmsten Fall sogar Auswirkungen auf die zweite Wahlrunde am 21. April haben könnte.
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