Wie betreibt man Journalismus in Krisenzeiten im Interesse der Gemeinschaft
Journalismus wird nicht nur durch Clicks und Rankings bewertet, sondern auch durch Vertrauen. Ukrainische und britische Journalisten und Soziologen haben sich zum experimentellen public interest journalism lab zusammengetan und herausgefunden, wie man Geschichten über den Coronavirus so erzählt, dass sie den menschlichen Zusammenhalt fördern anstatt Panik zu verbreiten, damit die Leser nicht nach einem Feind suchen oder sich gar für Verschwörungstheorien begeistern. Eine neue Kolumne von Angelina Kariakina
Seit sechs Jahren versuche ich herauszufinden, was Journalismus im gemeinschaftlichen Interesse sein könnte. Gemeinsam mit anderen Journalist*innen und Redakteur*innen suchen wir Antworten auf die folgende Frage: Wie erzählt man Geschichten über komplizierte Sachverhalte in all ihren Ausprägungen so, dass sie zu kultivierten Diskussionen anregen und keine Gefühle der Hilflosigkeit, wie Hass oder Wut, entfachen? Genauso wie Tausende anderer Kollegeninnen und Kollegen weltweit stellen wir uns die Frage: Warum nimmt die Polarisierung in den Gesellschaften zu? Warum beeinflussen unsere Geschichten so selten die Entscheidungen von Machthabern und Kommunen? Was machen wir falsch?
Zusammen mit der ukrainischen Autorin und Journalistin Nataliya Gumenyuk und einem Team aus der Zivilgesellschaft waren wir entschlossen, diese Frage in einem Labor zu untersuchen. In einem Labor für Journalismus im gemeinschaftlichen Interesse, dem public interest jounalism lab. Wir haben dieses experimentelle Projekt gemeinsam mit ukrainischen und britischen Journalisten und Soziologen geschaffen, um den Einfluss der Journalisten auf die Leserschaft tiefgehend zu erforschen. Welchen Geschichten vertrauen die Leser? Welche Artikel machen ihnen Angst und welche inspirieren?
Das Thema der Pandemie wurde zu unserem Pilotprojekt. Und während der Abschlussbericht noch in Vorbereitung ist, möchte ich hier über diese wahrhaft beispiellose Arbeit erzählen. Die Ergebnisse dieser Arbeit könnten nicht nur den Medienschaffenden zugutekommen, sondern allen, die sich mit dem Gesundheitsschutz beschäftigen. Unsere Ausgangshypothese war sehr einfach:
Das größte Vertrauen in der Ukraine genießen nach wie vor die Freiwilligen, die Volontäre; also sollten Geschichten von gegenseitiger Hilfe die positivsten Emotionen auslösen.
Unser Lab drehte fünf Videos über ehrenamtlichen Helfer während der Quarantäne, sie wurden auf unterschiedlichen Plattformen von „Suspilne“ gezeigt, dem öffentlich-rechtlichen Sender der Ukraine. Soziologen der London School of Economics sowie aus dem Charkiwer Institut für Sozialforschung analysierten die Reaktion der Zuschauer, indem sie sogenannte In-Depth Interviews durchführten.¹ Und das Lwiwer Medienforum hat auf dieser Grundlage redaktionelle Strategien ausgearbeitet, damit die ukrainischen Redakteure diese frei nutzen können.
Was hat diese Studie gezeigt?
Unsere Hypothese über die Freiwilligen hat sich bestätigt: Die Geschichten von einfachen Menschen, Unternehmern und hilfsbereiten Bürgern, die Ärzte oder Rentner unterstützen, haben beim Publikum tatsächlich die positivsten Gefühle und die Hilfsbereitschaft geweckt. Dabei konnten jedoch auch kleine Details, wie beispielsweise eine Gesichtsmaske, die lose unter dem Kinn hängt, starke Negativgefühle und Empörung hervorrufen. Das war für uns eine Offenbarung. Andere Zuschauer bekamen aus einem anderen Grund negative Gedanken: Auf sie wirkten unsere Machthaber wie tatenlos, im Vergleich zu den Volontären. Wir haben es verstanden: Das Dreieck „Machthaber-Gesellschaft-Volontäre“ braucht noch mehr Aufklärung und Kontext.
Was beruhigt die Menschen und gibt ihnen Vertrauen, außer die Geschichten von freiwilligen Helfern? Wenig überraschend haben die Zuschauer die statistischen Daten über die Ausbreitung des Virus genannt, ebenso die Meinungen von Ärzten und Experten. Bezeichnend ist jedoch, dass ein kleiner Anteil der Zuschauer gerade von den Informationen über Verschwörungstheorien am meisten angesprochen wurde. Das waren von allem diejenigen, die Berichte über die Epidemie anzweifeln und den offiziellen Informationen nicht trauen.
Formulierungen wie „Unsere Regierung sagt uns nicht die ganze Wahrheit“, „Der Virus wurde in einem Geheimlabor als Waffe gezüchtet“, „Dieser Virus wird für die Umverteilung des Eigentums in der Welt benutzt“ fanden innerhalb dieser Gruppe den größten Zuspruch.
Und in der Kategorie der Zuschauer über 60 stimmte jeder Befragte mindestens einer „konspirologischen“ These zu. Wichtig ist auch, dass das Internet als Informationsquelle für diese Menschen mindestens genauso wichtig ist wie das Fernsehen, oft ist es die einzige Quelle der Information. Die Befragten verfolgen die Nachrichten im Netz, in den sozialen Medien, sie lesen die Schlagzeilen, die vom Browser vorgeschlagen werden, sehen sich die Kanäle der YouTube-Blogger an. Wir nehmen an, dass dies auch eine Folge des mangelnden Vertrauens in die Medien ist. Also sind Studien zum Thema, wie man dieses Vertrauen wieder gewinnt, mehr als zeitgemäß.
Während wir die Präsentation unserer Studie und die daraus folgenden redaktionellen Empfehlungen vorbereiten, wollen wir eins noch unterstreichen: Der Journalismus kann und muss nicht nur durch Clicks und Rankings bewertet werden. Sondern durch das Vertrauen. Vor allem in Krisenzeiten wie diese. Ich werde hier noch ein Ergebnis aus der Studie erwähnen: In ihrer Bewertung der Quarantänemaßnahmen waren sich fast alle Zuschauer darin einig, dass ihre Meinung, die Meinung „einfacher Menschen“, bei den für das ganze Land wichtigen Entscheidungen überhaupt nicht beachtet wird. Und so kann ich hier anstelle eines Fazits noch folgendes sagen: Die Meinung der „einfachen Menschen“ zu beachten bedeutet für uns Journalisten vor allem diese Menschen zu zeigen, ihre Geschichten zu erzählen, hinter politischen Entscheidungen echte Menschenleben zu sehen.
Wer sollte sich dafür engagieren, wenn nicht die Journalisten der öffentlich-rechtlichen Medien und Sender?
¹Die ersten Daten wurden Ende April-Anfang Mai 2020 gesammelt, im Zuge von 30 halbstrukturierten in-depth-interviews (face-to-face und Telefoninterviews). Die Befragten wurden nach dem territorialen Prinzip ausgesucht (je 6 Ortschaften aus dem Osten, Westen, Süden und Norden der Ukraine, plus Kyjiw und Kyjiwer Oblast). Es waren zu gleichen Anteilen Männer und Frauen aus folgenden Altersgruppen: bis 35 Jahre alt, 36–59 Jahre alt und über 60.
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.