Triumph der Lokalfürsten und Ende der Grünen Welle
Die Lokalwahlen vom 25. Oktober waren ein Test für die Dezentralisierungsreform und für die Präsidentenpartei. Am Ende triumphierten vor allem die lokalen Eliten, die von der nationalen Uneinigkeit der Bevölkerung und der niedrigen Wahlbeteiligung profitierten. Eine ausführliche Wahlanalyse von André Härtel.
Wie schon fünf Jahre zuvor fanden die Lokalwahlen in der Ukraine auch 2020 unter besonderen Bedingungen statt. Neben der Covid-19 Krise ist hier insbesondere auf die Effekte der 2015 verabschiedeten Dezentralisierungsreform und auf die erstmalige Anwendung offener Parteilisten hinzuweisen, die eine Forderung der demokratischen Kräfte in der Ukraine und der internationalen Gemeinschaft nach der „Revolution der Würde“ gewesen war. Die Dezentralisierungsreform hat in den letzten Jahren für mehr Autonomie der lokalen Selbstverwaltungsorgane gesorgt, die zudem mehr Geld aus dem staatlichen Budget erhalten. Diese Aufwertung erhöht die machtpolitische Bedeutung von Lokalwahlen, birgt aber bei einem sich eventuell verschärfenden Zentrum-Peripherie-Konflikt auch das Risiko dysfunktionaler Effekte für das politische System.
Hinsichtlich des Wahlprozesses sprach die OSZE kurz nach dem Wahlgang zwar von einer gut vorbereiteten Abstimmung, die lange Dauer der Auszählung (über eine Woche nach dem Wahltermin) wurde aber auch von der Zentralen Wahlkommission mit der erst kürzlich erfolgten Wahlreform und entsprechenden Erfahrungsrückständen in Zusammenhang gebracht. Auch für die Wählerinnen und Wähler war die Reform eine Herausforderung. So mussten in vielen Wahlbezirken nicht weniger als vier Wahlzettel ausgefüllt werden, wobei bisher nicht unbedingt erforderliche Kenntnisse über die einzelnen Kandidaten notwendig waren. Hinzu kam, dass circa 550.000 Ukrainer in den nicht-besetzten Gebieten der Ostukraine aufgrund von Sicherheitsbedenken der dortigen zivil-militärischen Administrationen nicht wählen konnten. Zu guter Letzt war es der Präsident Wolodymyr Selenskyj selbst, der mit der zeitgleichen Ansetzung eines Referendums für eine zusätzliche politische Aufladung der Wahlprozedur sorgte.
Wahlergebnisse und Interpretation
Das wichtigste und augenscheinlichste Ergebnis der Lokalwahlen ist die Ausnüchterung der Ukrainer hinsichtlich des „Selenskyj-Phänomens“ und die Abstrafung seiner seit den Parlamentswahlen Mitte 2019 allein regierenden Parteiformation. (Bei Umfragen im September dieses Jahres hatte der Präsident noch eine Unterstützung von 44 Prozent und dessen Partei Diener des Volkes 26 Prozent erhalten. Nun rutschte letztere insbesondere bei den Bürgermeister- und Stadtratswahlen der großen Oblastzentren zur meist nur dritt- oder viertstärksten Kraft ab. So könnte Diener des Volkes keinen einzigen Bürgermeister in den wichtigen Oblastzentren stellen (nur in Uschhorod, Poltawa und Kriwij Rih erreichte ihr Kandidat die zweite Runde) und auch bei den Sitzen in den dortigen, bedeutenden Lokalparlamenten hinter der Poroschenko-Partei Europäische Solidarität landen. Lediglich bei den aggregierten Stimmen aller landesweit gewählten Körperschaften (über 1800) liegt die Präsidentenpartei in Führung.
Gewinner der Lokalwahlen sind vor allem die etablierten Bürgermeister der großen Städte und deren Parteiprojekte, während die „ideologischen Parteien“ des demokratisch-progressiven und post-kommunistischen Lagers vor allem punktuell Erfolge erzielen konnten.
Auffällig ist, dass beispielsweise die progressive Golos trotz des Ausscheidens ihres populären Gründers Swjatoslaw Wakartschuk teils gute Ergebnisse erzielte (in Tscherkassy, Lwiw, Riwne und Kyjiw zwischen 7 – 12 Prozent). Die befürchtete „Revanche“ der Anti-Maidan-Parteien blieb zwar aus, jedoch überraschte vor allem die neue, angeblich Kreml-finanzierte Blogger-Partei Partei Scharij mit Erfolgen in bedeutenden Stadtparlamenten wie Charkiv, Odesa und Mykolajiw (zwischen 5 – 8 Prozent der Stimmen). Allgemein machten die Wählerinnen und Wähler von dem deutlich differenzierteren Parteiangebot Gebrauch, so dass viele Stadträte in Zukunft recht „bunt“ und fragmentiert sein dürften.
Die Niederlage der regierenden Kräfte wird in seiner Dimension allerdings greifbarer, wenn man sich die Ergebnisse der Lokalwahlen von 2015 im Vergleich verdeutlicht. Hier konnte die damalige Präsidentenpartei Solidarität – Block Poroschenko, ebenfalls ca. 1,5 Jahre nach der Präsidentschaftswahl, ihr Wahlergebnis der vorigen Parlamentswahl (21,82 Prozent vs. 19,52 Prozent) fast bestätigen. Die Partei Diener des Volkes, bei den Parlamentswahlen 2019 Wahlsieger mit einem Stimmenergebnis von 43,16 Prozent, wird bei diesen Wahlen dagegen nur noch deutlich unter 20 Prozent der aggregierten Stimmen (Auszählung dauert an) erhalten. Wie ist dieser Wahlausgang also zu erklären?
- Chaotische Regierungsarbeit: Die deutlichen Verluste der Präsidentenpartei speisen sich im Wesentlichen aus dem Widerspruch zwischen den machtpolitischen Möglichkeiten bzw. vollmundigen Ankündigungen der regierenden Kräfte auf der einen und deren Ineffektivität und fehlenden Geschlossenheit auf der anderen Seite. Die Präsidenten- und Regierungsarbeit wird allgemein als chaotisch bis unprofessionell wahrgenommen, wobei die eigentliche „monobolshinstvo“ (Einparteienmehrheit) schon seit langem nicht mehr als solche handelt. Selenskyj und seinem größtenteils aus dessen Medienorbit stammenden Team ist es zu keinem Zeitpunkt gelungen, die erstaunlichen Wahlergebnisse des Jahres 2019 in die Auswahl effektiver Kader, in den Aufbau durchsetzungsfähiger organisatorischer (Partei-)Strukturen (gerade auch in den Regionen) und in klare inhaltliche Positionen zu transformieren. Die vielen „neuen Gesichter“ der Diener des Volkes-Partei haben sich als politisch unerfahren und teils ähnlich interessengeleitet wie ihre Vorgänger herausgestellt. Es ist zunehmend unklar, wofür Diener des Volkes eigentlich steht.Selenskyjs Team hat zu wenig in den organisatorischen Unterbau der Bewegung investiert und scheint der Auflösung der Fraktion tatenlos zuzusehen. In den drei für die Ukrainer zentralen Politikbereichen – den Krieg im Donbas, den Kampf gegen die Korruption, und der strukturellen Verbesserung der Wirtschaftslage durch Investitionen, Privatisierung etc. sind die Resultate zudem sehr dürftig bis nicht vorhanden. Gesagt werden muss aber auch, dass das landesweite Abschneiden von Diener des Volkes bei erwarteten 15 – 20 Prozent noch keine Katastrophe ist und wohl vor allem vor dem Hintergrund des epochalen Ergebnisses von 2019 derart enttäuschend wirkt. Für die Präsidentenpartei ist relativ gesehen vor allem eine Normalisierung der eigenen Position festzustellen, während der für neue ukrainische Präsidenten typische Sammlungseffekt um eine neue „Partei der Macht“ damit tatsächlich schon beendet ist.
- Pragmatismus und „kleineres Übel“: Vom elektoralen Aderlass der Präsidentenpartei profitierten vor allem in den großen Städten wie Kyjiw, Charkiw, Odesa, Lwiw und Dnipro sowie in den meisten weiteren Oblastzentren die amtierenden Bürgermeister und deren zumeist pragmatisch orientierte Parteiformationen in den Lokalparlamenten (bspw. der Blok Kernes in Charkiw, oder Proposizija in Dnipro). Eine große Zahl an Bürgermeistern setzte sich dort bereits in der ersten Runde durch (bspw. Hennadij Kernes in Charkiw, Witalij Klitschko in Kyjiw, Wladimir Burjak in Saporischschja). Offensichtlich waren den Wählerinnen und Wählern diese Alternativen zu Diener des Volkes lieber als die großen nationalen, ideologisch geprägten Oppositionsparteien, was für eine Fortsetzung des mit der Präsidentschaftswahl 2019 beginnenden zentristischen Trends in der ukrainischen Politik spricht.Auf den ersten Blick überrascht der Erfolg der lokalen Kräfte trotzdem, waren doch Bürgermeister wie Klitschko (Kyjiw) oder Truchanow (Odesa) nicht unbedingt populär. Wahrscheinlich ist daher, dass diese „als kleineres Übel“ in einer sich verschärfenden und vor allem gegen die nationale politische Klasse gerichteten Vertrauenskrise galten. Zudem profitierten die Bürgermeister von den durch die Dezentralisierung zusätzlich vorhandenen Ressourcen, die viele clever in öffentlichkeitswirksame Infrastrukturprojekte investierten und mir ihrem Namen verbanden.
- Niedrige Wahlbeteiligung, fehlendes Personal und taktische Optionen: Ein einflussreicher Faktor war die niedrige Wahlbeteiligung, die mit 36,88 Prozent fast 10 Prozentpunkte unter der 2015 erreichten Marke von 46,62 Prozent lag. Ob die niedrige Beteiligung nun vor allem der Covid-19 Krise oder der Enttäuschung über Selenskyjs Amtsführung anzulasten ist – sie ist in jedem Fall ein wichtiger Grund für die Wiederwahl vieler Bürgermeister in den Oblastzentren und anderen Städten. Normalerweise sind lokale Amtsinhaber nur bei einer hohen Beteiligung vor allem von Neuwählern aus dem Amt zu drängen, bei niedrigen Wählerzahlen greifen ihre umfangreichen organisatorischen und finanziellen Ressourcen besser.Ein traditionell problematischer Faktor für den Erfolg nationaler Parteien bei ukrainischen Lokalwahlen ist allerdings auch das Fehlen geeigneter Kader. Gerade bei Diener des Volkes erwies sich die Existenz regionaler Parteistrukturen als zu kurz, um nach dem schon schwierigen Bestücken der nationalen Liste im letzten Jahr nun auch lokal viele ansprechende und bekannte Persönlichkeiten aufzubieten. Schließlich ist die in den letzten Jahren beobachtbare Polarisierung Gift für eigentlich notwenige taktische Allianzen, von denen vor allem das pro-demokratische Lager hätte profitieren können.
Gescheitertes Referendum
Das erst kurz vor der Wahl angekündigte konsultative Referendum mit fünf Fragen war eine weitere Besonderheit dieser Wahl. Allerdings waren dessen Vorbereitung und Durchführung dilettantisch, so dass die Resultate wenig aussagekräftig sein dürften (nur 33 Prozent aller Wähler nahmen teil). Das Referendum wurde von einer dem Präsidenten nahestehenden Firma und Freiwilligen vor Ort durchgeführt, wobei nicht in allen Wahlbezirken abgestimmt werden konnte beziehungsweise die Abstimmung teils widerrechtlich im Wahllokal selbst stattfand. Auffällig ist zudem, dass das Referendum von Gegnern Selenskyjs überwiegend ignoriert wurde.
Was die Ergebnisse betrifft, so gab es auf die zwei überwiegend populistisch formulierten Fragen nach der stärkeren Bekämpfung der Korruption beziehungsweise der Verkleinerung des Parlaments, die erwartbar klar positiven Reaktionen erzielten. Interessant ist dagegen vor allem die Reaktion der Abstimmenden auf die Frage nach einer Sonderwirtschaftszone für den Donbas, bei der die fast identische Verteilung positiver und negativer Reaktionen die allgemeine Ambivalenz der ukrainischen Bevölkerung hinsichtlich einer möglicher Lösung des Donbas-Konflikts widerspiegelt. Insgesamt ist das Referendum aber ganz klar ein gescheiterter Versuch des Präsidenten, seine Anhängerschaft kurz vor der Wahl noch einmal zu mobilisieren. Es hat seiner Reputation wegen der chaotischen Durchführung eher geschadet.
Die Folgen der Wahl
Natürlich sollte man die Konsequenzen der ukrainischen Lokalwahlen gerade für die nationale Ebene nicht überschätzen. Die ukrainischen Regionen und ihre Zentren sind seit jeher durch eine relativ starke Eigenidentität geprägt, und die Metastruktur des ukrainischen Staates mit seinem Pluralismus regionaler politökonomischer Netzwerke verschaffen diesen de facto eine hohe Autonomie. Dies führt zu einem lokalen Wahlverhalten, das kaum durch zentralstaatliche Faktoren erklärbar ist. Dennoch sind in den für die Ukraine heute kritischen drei Bereichen Regierbarkeit, nationale Integration und Demokratisierung durchaus Folgen aus den Lokalwahlen zu erwarten:
- Regierbarkeit: Die Stärkung lokaler politischer Kräfte bzw. die untergeordnete Rolle, die die Präsidentenpartei in der Zukunft auf lokaler Ebene spielen wird, sprechen für eine zunehmende Komplexität des Regierens und eine schwierigere Umsetzung von politischen Großprojekten. Präsident Selenskyj, der sich bisher gerade gegenüber Bürgermeistern wie Witalij Klitschko (Kyjiw) oder Boris Filatow (Dnipro) arrogant bis feindlich verhalten hatte, wird seinen Politikstil ändern und auf die einflussreichen Lokalfürsten zugehen müssen. In jedem Fall ist die eigentlich vielversprechende Phase der klaren Mehrheiten vorbei, und Neuwahlen zur Werchowna Rada sind keine Option für die angeschlagene Regierungsfraktion.
Präsident Selenskyj wird sich auch auf nationaler Ebene neue Partner suchen müssen, wobei die wesentlichen möglichen Konstellationen für ihn sehr riskant sind. Eine Zusammenarbeit mit den Nachfolgeparteien der Partei der Regionen würde den Westintegrations- und Reformkurs stark gefährden, während Koalitionen mit der Partei des politischen Erzfeindes Poroschenko oder progressiven Kräften auf Kosten der Glaubwürdigkeit gehen beziehungsweise vorhandene Fliehkräfte noch verstärken würden. Selenskyj muss, um seine Präsidentschaft zu retten, vor allem seine Rolle im politischen System der Ukraine, das in seiner Verfassungswirklichkeit auf vertikale und horizontale Kooperation und Kooptation ausgelegt ist, besser ausfüllen. - Nationale Integration: Eine der wesentlichen positiven Folgen der „Revolution der Würde“ war der zunehmende Patriotismus bzw. die stärkere Identifikation der Bürger mit zentralstaatlichen Institutionen und Symbolen, während sich vorher vor allem in der Süd- und Ostukraine viele Menschen traditionell eher mit der eigenen Region verbunden fühlten. Die neu gewonnene nationale Einigkeit, der ja stets eine mobilisierende Kraft innewohnt, wurde durch den Wahlsieg Selenskyjs 2019 im Grunde noch bestätigt, als dieser in fast allen Regionen Mehrheiten auf sich vereinigen konnte. Die neuen Wahlergebnisse deuten nun allerdings darauf hin, dass dieser Trend schon beendet sein könnte und sich die Ukraine als politische Gemeinschaft wieder stärker fragmentiert, sich viele Menschen wieder auf das Regionale und Lokale zurückziehen. Gerade mit Blick auf den Konflikt mit Russland im Osten des Landes sind die zentrifugalen innenpolitischen Tendenzen keine gute Nachricht. Beide postrevolutionäre Präsidenten haben hier eine Chance verpasst ihr Land nachhaltig zu einen und damit auch die Grundlage für Sicherheit, Wachstum und gesellschaftliche Entwicklung auf völlig neuem Niveau zu legen
- Demokratisierung: Die Tatsache, dass Lokalwahlen zum ersten Mal mit offenen Parteilisten abgehalten wurden, muss als demokratischer Erfolg gewertet werden. Auch wenn die Wähler das neue Verfahren erst noch internalisieren müssen, besteht hier die Chance, die übermächtigen Parteiführer etwas in den Hintergrund zu drängen und dem Wahlvolk mehr tatsächliche Auswahl zu ermöglichen. Ob die nun erfreulich breitere Parteienlandschaft sich konsolidiert ist allerdings schwer zu sagen. Der Misserfolg und die marginalen Gewinne von offensichtlich von Oligarchen kontrollierten (siehe das enttäuschende Kolomoyskyi-Projekt „Für die Zukunft“) oder von angeblich von ausländischen Kräften finanzierten Projekten („Partei Scharij“) deuten zumindest auf eine Abschwächung manipulativer virtual politics-Methoden hin. Klar ist aber auch, dass der Erfolg der Bürgermeister und ihrer lokalen Parteien demokratietheoretisch ambivalent ist. Unter ukrainischen Beobachtern machte beim Anblick des Wahlergebnisses die Formulierung „Triumph des Lokalfeudalismus“ die Runde, und tatsächlich stehen hinter einigen Projekten neo-patrimonial bzw. autoritär veranlagte Führungspersönlichkeiten und korrupte Netzwerke. Ähnlich wie die desorientierte Präsidentenpartei steht auch die Mehrheit der Lokalfürsten eher für den Status quo als für progressive Reformpolitik.
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