Ostukraine: Lokale Elite und pro-russische Wahlsieger
Bei den Lokalwahlen in der Ukraine gehören prorussische Parteien zu den großen Gewinnern, vor allem im Donbas, wo einer halben Million Menschen das Wahlrecht entzogen wurde. Verliert Kyjiw den Osten? Von Rebecca Barth und Daniela Prugger
Es klingt haarsträubend: Aus Sicherheitsgründen durften die Bewohner aus 18 Gemeinden nahe der Kontaktlinie im Donbas nicht an den Lokalwahlen vergangenen Sonntag teilnehmen. Rund einer halben Million Menschen wurde faktisch das Wahlrecht entzogen.
Serhej Hajdaj, Vorsitzender der Luhansker militärisch-zivilen Verwaltung begründet diese Entscheidung mit der allgemeinen Sicherheitslage. In Sjewjerodonezk, ungefähr 30 Kilometer von der Kontaktlinie entfernt, befürchtet er „Provokationen und Sabotageakte“ von prorussischen Kräften. „Zum Beispiel ein Anschlag auf das Militärkrankenhaus oder die Chemiefabrik Asot, wo Ammoniak gelagert wird. Wer trägt dann dafür die Verantwortung? Das sind keine ausgedachten Geschichten, derartige Fälle konnten wir bereits verhindern.“
Überprüfen lassen sich seine Angaben nicht. Kritiker vermuten politisch motivierte Gründe hinter der Entscheidung. „Im Jahr 2014 haben wir in Sjewjerodonezk an den Parlamentswahlen teilgenommen – nur drei Monate nach der Befreiung der Stadt (Anm.: von den durch Russland unterstützten Separatisten). Ich sehe nicht, was sich seitdem bezüglich der Sicherheitslage verändert hat“, sagt Elena Nyschelskaja, Lokalpolitikerin und Aktivistin.
Tatsächlich herrscht in der Ostukraine seit rund zwei Monaten Waffenstillstand. Der erste, der seit Ausbruch des Krieges 2014, diesen Namen auch verdient. So viel Ruhe habe es in den vergangenen sechs Jahren nicht gegeben, berichten die Bewohnerinnen und Bewohner mehrerer Siedlungen an der Front.
„Das ist eine politische Entscheidung“, sagt Nyschelskaja. „Die Partei des Präsidenten hat hier in der Region keine hohen Umfragewerte.“ Viele, so scheint es, stimmten im vergangenen Jahr für Selenskyj, um den damaligen Präsidenten Poroschenko abzuwählen. Heute setzen sie wieder auf altbekannte, lokal vernetzte Eliten, auch wenn diese in Korruptionsskandale verwickelt sind oder gegen sie wegen separatistischer Aktivitäten oder anderer Verbrechen ermittelt wurde.
Viele Menschen im Donbas fühlen sich von Kyjiw nicht beachtet.
Daran können weder die hunderte Kilometer neu asphaltierter Straßen, wiederaufgebaute Brücken oder der Waffenstillstand etwas ändern.
Anton Kortyshko, 32, arbeitet in einer der größten Chemieanlagen des Landes. „Asot“, heißt sie, „Stickstoff“. Flächenmäßig macht sie rund die Hälfte der Stadt Sjewjerodonezks aus. Kortyshko ist seit zwölf Jahren in der Fabrik tätig, die er als eigenen Kosmos beschreibt. „Die Fabrik hat ihren eigenen Rhythmus, ihre eigenen Regeln. Manche Menschen arbeiten ihr ganzes Leben lang dort.“
Zwar begann der Niedergang der Schwerindustrie im Donbas bereits vor Kriegsbeginn. Doch die Industrieexporte sind seither massiv eingebrochen. In der Region Luhansk betragen sie nur noch sechs Prozent des gesamten Wirtschaftsvolumens von 2013.
Kortyshko fing bei Asot an, als sich die letzten prestigeträchtigen Jahre der Fabrik zu Ende neigten. Damals, 2007, war ein Job bei Asot viel wert. Heute setzt Kortyshko Maschinen aus den 80er und 90er Jahren instand. Er sorgt dafür, dass das Ammoniak, ein beißend riechendes Gas, das die Schleimhäute reizt, sicher gelagert wird. Vier Mal in der Woche hat er 12-Stunden-Schichten. Er macht keinen Hehl daraus, dass er Angst um seinem Job hat. „Ich bin seit einem Jahr in meiner Abteilung. Man muss viel Erfahrung haben, um diesen Job gut und sicher zu machen.“ Er verdient etwas weniger als 500 Euro im Monat und damit trotzdem fast doppelt so viel, wie der Durchschnitt in der Region Luhansk.
Der geringe Lohn ist nicht Kortyshkos einzige Sorge. Wochenlang tobten Waldbrände in der Region und zerstörten ganze Siedlungen. „Wenn das Feuer die Fabrik erreicht hätte, wären die Folgen fatal gewesen“, sagt Kortyshko.
Sein Haus in Syrotyne, sechs Kilometer von Sjewjerodonezk, wurde nur leicht beschädigt. 600 Häuser standen hier einst, rund die Hälfte ist verbrannt. „Meiner Familie steht eine Kompensation zu, aber uns wurde nicht erklärt, wo und wie wir sie beantragen können. Es gibt keine Informationen dazu.“
Einige Straßen weiter steht Dmitri Holodov, 41, vor einem Haufen Schutt, den die Mitarbeiter des Notdienstes neben der Straße aufgehäuft haben. Ziegelsteine und Altmetall sind alles, was von Holodovs Haus übriggeblieben ist. Das Altmetall wird er für drei Grywna je Kilogramm verkaufen.
„Innerhalb von 15 Minuten ist das ganze Haus abgebrannt“, sagt Holodov, der bei einem Internet- und Telefonanbieter arbeitet. Seine Frau, die zwei Kinder und seine Nichte wohnen zurzeit bei seiner Schwester. Er selbst schläft in einem gläsernen Gewächshaus, das das Feuer überstanden hat. Mehr als drei Wochen sind seit den Bränden vergangen, doch die Aufräumarbeiten werden noch Wochen andauern. Ein beißender Rauchgeruch hängt noch immer in der Luft. „Die Kompensation, die uns der Staat zur Verfügung stellt, reicht nicht aus, um diese Häuser wiederaufzubauen“, sagt Holodov. 300.000 UAH stehen ihm zu, knapp 9.000 Euro.
„Ich vertraue niemandem in der Politik“, sagt Holodov. Dass er bei der Regionalwahl keine Stimme abgeben konnte zeige ihm, dass er nicht als vollwertiger Bürger dieses Landes angesehen werde. „Sie behandeln uns nicht wie Menschen.”
„Ich habe bei der Präsidentschaftswahl für Selenskyj gestimmt“, sagt Kortyshko. „Aber ich bin enttäuscht. Vielen Menschen in dieser Region geht es so, sie werden sich wieder der prorussischen Opposition zuwenden.“
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