Die Ukraine in Büchern deutschsprachiger Autoren
Wussten Sie, dass die Ukraine in Werken von bekannten deutschsprachigen Autoren wie Heinrich Böll, Paul Celan, Rose Ausländer, Martin Pollak, Natascha Wodin, Erich Maria Rilke, Gregor von Rezzori und vielen anderen erscheint? Im folgenden Artikel greift Anastasiia Gusieva fünf Werke deutschsprachiger Autoren auf, die die Ukraine aus unterschiedlichen Perspektiven und zu unterschiedlichen geschichtlichen Perioden darstellen.
Nicht nur Literatur aus der Ukraine ist bewegend und lesenswert sondern auch deutschsprachige Autoren haben über die Ukraine geschrieben. Wir möchten hier fünf Werke deutschsprachiger Autoren aufgreifen, die die Ukraine aus unterschiedlichen Perspektiven und zu unterschiedlichen geschichtlichen Perioden darstellen.
Heinrich Böll, Erzählung “Der Zug war pünktlich” dtv, 1972
Heinrich Böll war in einer traurigen Zeit in der Ukraine, denn er kam 1943 als Soldat der Wehrmacht in das Land. Gleich nach dem Krieg hat er eine Reihe von Romanen und Erzählungen geschrieben, die die Sinnlosigkeit und Tragödie des Krieges darstellen.
In seiner Erzählung “Der Zug war pünktlich” treffen wir die Hauptfigur – einen jungen Soldaten der Wehrmacht, Andreas, der nach den Feiertagen an die Ostfront zurückkehrt. Im Zug „Paris – Przemysl“ versteht er ganz deutlich, dass dies seine letzte Reise sein wird und er bald sterben wird. Er überlegt, wo sein Todesort sein wird – Lwiw, Czernowitz oder Nikopol. Währenddessen kommt eine Nachricht: “Die Krim ist besetzt“.
Andreas erinnert sich an Kertsch, Odessa, Mykolajiw, Nikopol und versucht, sich Czernowitz, Lwiw und selbst Galizien vorzustellen. Diese Namen scheinen ihm wie fremde Getränke zu sein. „Bukowina“ klingt wie ein starkes alkoholisches Getränk, Wolyn scheint ein dickes Bier zu sein, das er auf einer Geschäftsreise in Budapest getrunken hat.
Es ist ihm unheimlich, dass er zwischen Lwiw und Czernowitz sterben wird. Und der Zug eilt pünktlich durch die Nacht. Das Wort „Galizien“ sieht wie eine Schlange mit winzigen Beinen aus, eine Schlange mit leuchtenden Augen, die lautlos schleichend durch den Boden kriecht und die Erde zerstört ... Galizien ... ein dunkles, schönes und sehr schmerzliches Wort.
Schließlich kommen die Soldaten nach Lwiw. Die Hauptfigur sieht den Bahnhof, die Straßen der Stadt sind wie in allen großen Städten der Welt. Weite, elegante, schmale, traurige Straßen mit hellgelben Gebäuden.
Die Erzählung zeigt mit einem überzeugenden Realismus die Sinnlosigkeit des Krieges und stellt dar, wie die einfachen Menschen den Krieg erlebt haben, worüber sie dachten, wovor sie Angst hatten.
Natascha Wodin “Sie kam aus Mariupol“ Rowohlt, 2017
Natascha Wodin ist eine deutsche Schriftstellerin, die 1945 in der Familie von sowjetischen Zwangsarbeitern geboren wurde. Als sie 11 Jahre alt war, beging ihre Mutter Selbstmord. Über das Leben ihrer Mutter wusste Natascha nicht viel, bis sie einmal ihren Namen in eine Internet-Suchmaschine eingab. So begann ihre Recherche, die sie in ihrem Buch “Sie kam aus Mariupol“ beschreibt.
Die Autorin erfährt am Anfang ihrer Recherche, dass ihre Mutter adlige Wurzeln hatte und dass sie aus der Hafenstadt Mariupol stammte. Gemeinsam mit Natascha Wodin spazieren die Leser*innen durch die Stadt:
„Mariupol ist zu dieser Zeit eine multikulturelle Stadt. [...] Die Stadt liegt auf einem Hügel, von jeder Stelle aus sieht man das Asowsche Meer, das berühmt ist für seinen Fischreichtum [...] Etwas abseits, hinter dem Hafen mit seinen Schiffen und Verladekränen stehen zwei große Eisenhüttenwerke [...].
Wir erfahren, dass es drei Städte gab: eine untere, eine mittlere und eine obere. Nataschas Familie lebte in der oberen Stadt, “die bis zur Revolution dem Mittelstand und der Oberschicht vorbehalten ist.” Sie erfährt sogar, in welchem Haus die Familie ihrer Mutter lebte. Es befand sich im historischen Zentrum Mariupols auf der Straße Nikolaewskaya und es existiert noch.
In ihrem Buch werden die Familiengeschichte mit den geschichtlichen Ereignissen Europas im 20. Jahrhundert eng verknüpft: Revolution, das Chaos danach und die Hungersnot in der Ukraine, der Zweite Weltkrieg und die Geschichte der Ostarbeiter*innen aus der Ukraine, die so selten in der Literatur als Thema ausgewählt werden.
Gregor von Rezzori “Blumen im Schnee“ Berliner Taschenbuchverlags, 2007
Der vollständige Name des Buches lautet “Blumen im Schnee – Porträtstudien zu einer Autobiographie, die ich nie schreiben werde. Versuch der Erzählweise eines gleicherweise nie geschriebenen Bildungsromans“.
Gregor von Rezzori wurde 1914 in einer sizilianischen Familie in der Bukowina geboren. Sein Vater hatte in Czernowitz als Beamter gearbeitet. Der Sohn wuchs in einer multikulturellen Umgebung auf und erlebte hautnah die enormen politischen Ereignisse der Region. Auf fast 300 Seiten zeigt uns der Autor eine faszinierende Mischung aus der Geschichte Österreichs, Ungarns, Rumäniens und der Ukraine vom Anfang bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts.
Der politische Wandel der Bukowina dient aber nur als eine Dekoration dafür, was sich in der Familie von Rezzori abspielt. Drei Frauen mit drei verschiedenen Charakteren haben drei wichtige Rollen im Leben des Autors gespielt: sein ungebildetes Kindermädchen aus den Karpaten, seine depressive und nie glücklich gewordene Mutter und seine ältere Schwester, die er leider kaum kannte, obwohl sie im gleichen Haus gewohnt hatten.
Gregor von Rezzori kannte acht Sprachen (Deutsch, Rumänisch, Italienisch, Polnisch, Ukrainisch, Jiddisch, Französisch und Englisch), er war Bürger der k.u.k.-Monarchie, Rumäniens, der Sowjetunion und Österreichs. Beim Lesen seines Buches bekommt man den Eindruck, als ob man ein Konzentrat seines Lebens schlürft. Mit einem herben Nachgeschmack.
Matin Pollack “Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien“ dtv, 2010
Warum zieht es Menschen in die Ferne? Was suchen sie (oder vielleicht wir) in einem fremden Land, das manchmal tausende Kilometer von der Heimat entfernt ist? Führt uns der Weg tatsächlich in ein neues besseres Leben oder ist alle Suche vergeblich? Kommen wir irgendwann zurück?
“Kaiser von Amerika“ ist kein Roman im klassischen Sinne. Vielmehr handelt es sich um eine Sammlung von Erzählungen, gewürzt mit historischen Fakten über eine der größten Auswanderungswellen von Osteuropa nach Kanada, Argentinien, Brasilien, Indien und natürlich die USA.
Hunderttausende von armen Bauern, Knechten und Mägden aus der Westukraine und aus Ostpolen entscheiden Ende des 19. Jahrhunderts, “nach Westen“ auszuwandern. Sie verkaufen das Grundstück, das Pferd, leihen immer noch fehlendes Geld, gehen zu Fuß nach Lodz, wo die Vermittler arbeiten, und kaufen sich ein Schiffticket von Hamburg nach New York, Chicago oder Rio de Janeiro. Ihnen wurden ein Willkommensgeld, sichere Arbeitsplätze und ein Haus versprochen. Um das Versprechen glaubwürdig zu machen, nimmt der Vermittler einen Wecker, wartet bis er klingelt, nimmt “einen Anruf“ entgegen und fragt den Kaiser, ob er auf diesen oder jenen Auswanderer in Amerika wartet. Natürlich antwortet der Kaiser von Amerika mit ja. Für die ungebildeten Bauern war das sehr beeindruckend und es wischte ihre Zweifel weg. Doch nach der Ankunft geschieht alles anders als geträumt.
Der Fisch sucht, wo es tiefer, der Mensch, wo es besser ist. Manchmal ist das menschliche Leben viel zu kurz und zerbrechlich für diese Suche.
Rose Ausländer, Gedichte S. Fischer Verlag GmbH, 2012
Das Leben der deutschsprachigen Dichterin Rose Ausländer aus der Bukowina könnte ohne Zweifel die Basis für einen spannenden und dramatischen Roman oder Film sein.
Rosalie Beatrice Ruth Scherzer – so ist ihr richtiger Name – kam 1901 in Czernowitz zur Welt. Sie war eine echte „Weltbürgerin“: gebürtige Jüdin, geboren in der Bukowina, die ein Teil von Österreich-Ungarn, dann später Rumänien und schließlich der ukrainischen SSR war. Sie lebte einige Zeit in den Vereinigten Staaten und zog später nach Deutschland, wo ihre Lebensreise endete. Rose Ausländer trug jedoch ihr ganzes Leben lang die unsterbliche Liebe zu ihrem Geburtsort in ihrem Herzen, der Bukowina, die zu einem der Hauptmotive in ihrer Dichtung wurde:
Bukowina I
Tannenberge. Grüne Geister:
In Dorna-Vatra würzen sie
das Harzblut.
Alte Sommermeister
treten an ihre Dynastie
Felder im Norden.
Buchenschichten um Czernowitz.
Viel Vogelschaum
um die Verzauberten,
die den Gesichten vertrauen,
ihrem Trieb und Traum.
Die Zeit im Januarschnee versunken.
Der Atem raucht.
Die Raben krähn.
Aus Pelzen sprühen Augenfunken.
Der Schlitten fliegt ins Sternverwehn.
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