EU-Beitritt der Ukraine: Fortschritt mit Hindernissen
Vor einem Jahr hat die EU der Ukraine den Status eines EU-Beitrittskandidaten verliehen. Das vergangene Jahr hat gezeigt, dass diese Entscheidung sowohl das Engagement und den Einfluss der EU auf den Reformprozess in der Ukraine verstärkt als auch die Ukraine auf ihrem Weg zur europäischen Integration unterstützt hat. Aber: Es bleibt noch einiges zu tun.
Schwierige Krisensituationen erfordern unkonventionelles Denken und mutige Antworten. Waren Diskussionen über eine mögliche Mitgliedschaft der Ukraine in der EU vor der umfassenden Invasion 2022 noch undenkbar, so hat die Veränderung der Realitäten am 24. Februar 2022 zu tektonischen Veränderungen in der Politik geführt. Am 23. Juni 2022 stimmten die EU-Mitgliedstaaten einstimmig dafür, der Ukraine den Status eines EU-Kandidatenlandes zu verleihen.
Die Ukraine reichte ihren Antrag auf EU-Mitgliedschaft nur wenige Tage nach Beginn der umfassenden Invasion ein. Für die Ukraine war es angesichts des russischen Angriffs eine existentielle Notwendigkeit, sich aus dem politischen Niemandsland zu lösen und die Zugehörigkeit zur europäischen Familie deutlich zu machen.
Mit dem Antrag lag der Ball bei der EU, und diese musste handeln. Die Diskussionen innerhalb der EU, die dieser Entscheidung vorausgingen, waren nicht gerade einfach. Während die osteuropäischen und skandinavischen EU-Mitgliedstaaten den Beitritt der Ukraine stets befürwortetet haben, standen Deutschland und andere EU-Länder ihm eher skeptisch gegenüber.
„Strategische Unklarheit über die europäische Perspektive der Ukraine“
Noch im Mai 2022 sagte der französische Präsident Emmanuel Macron, dass der Weg der Ukraine zur EU-Mitgliedschaft eine Frage von Jahrzehnten sei, und Bundeskanzler Olaf Scholz stimmte zu. Bis Mitte Juni schienen die Aussichten auf eine positive Entscheidung der EU eher düster. Damals sprach der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba von der „strategischen Unklarheit über die europäische Perspektive der Ukraine, die von einigen EU-Hauptstädten in den vergangenen Jahren praktiziert wird.“
Am 16. Juni setzten die Staats- bzw. Regierungschefs Frankreichs, Italiens und Deutschlands mit ihrer gemeinsamen Reise nach Kyjiw ein Zeichen. Am 17. Juni folgten die Empfehlung der Europäischen Kommission, der Ukraine den EU-Beitrittskandidatenstatus zu verleihen, und schließlich am 23. Juni die einstimmige Entscheidung der EU.
Die neue Realität
Nelson Mandela sagte einmal: „Es erscheint immer unmöglich, bis es vollbracht ist.“ Mit der Verleihung des Kandidatenstatus an die Ukraine wurden neue Realitäten geschaffen. Die EU erhielt damit einen stärkeren Einfluss auf die internen Reformen in der Ukraine als je zuvor. Und es war von Anfang an klar, dass die Ukraine als nächsten logischen Schritt die Beitrittsverhandlungen so bald wie möglich würde aufnehmen wollen.
Die Europäische Kommission war sich dessen bewusst und knüpfte den weiteren Verlauf dieses Prozesses an die Umsetzung von sieben Reformen durch die Ukraine. Die anschließende Entwicklung zeigte, dass die Rechnung aufging: In der Ukraine prägte diese sogenannte Konditionalität den Reformprozess in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 und auch im Jahr 2023. Vor allem hatte nun der politische Wille zu Reformen ein größeres Gewicht als die Interessen von Akteuren, die von fehlenden Reformen profitierten.
Engagement der EU
Die EU ihrerseits ist mit der Entscheidung die Verpflichtung eingegangen, die Ukraine viel stärker als bisher zu unterstützen. Dabei geht es nicht nur um größere finanzielle, sondern auch um personelle Ressourcen, denn es braucht Personal und Fachwissen, um die Ukraine bei ihrem Reformprozess zu begleiten.
Was die Finanzhilfe betrifft, so gewährte die EU der Ukraine für das Jahr 2023 eine Makrofinanzhilfe in Höhe von 18 Milliarden Euro. Dazu kommen noch humanitäre und militärische Hilfe. Insgesamt betragen die Unterstützung der EU und ihrer Mitgliedstaaten seit Beginn Russlands Angriffskrieges 72 Milliarden Euro. Im Juni 2023 kündigte die EU zudem an, der Ukraine für die Jahre 2024 bis 2027 weitere 50 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen.
Um der Ukraine zu helfen, ihre Reformanstrengungen zielgerichtet fortzuführen, hat die Europäische Kommission der Ukraine zudem zweimal – im Februar 2023 und im Juni 2023 – vorab ein Feedback gegeben. Die beiden Feedbacks lieferten der Ukraine eine Einschätzung zum Stand der Angleichung ihrer Gesetzgebung an den sogenannten EU-Besitzstand – die Sammlung der gemeinsamen Rechte und Pflichten – und zu den allgemeinen Fortschritten bei den Reformen. Außerdem hat die EU bei der Europäischen Kommission den Ukraine Service eingerichtet – eine Nachfolgeinstitution der 2014 gegründeten Ukraine Support Group.
Im Herbst 2023 soll die Ukraine einen umfassenden Bericht über ihre Fortschritte erhalten. Dies ist ein Standardverfahren, bei dem die EU jedes Jahr eine Reihe von Berichten über alle Länder veröffentlicht, die unter ihre Erweiterungspolitik fallen. Aktuell sind dies die sechs westlichen Balkanländer, die Türkei, die Ukraine und Moldau. Für die Ukraine ist der Bericht von besonderer Bedeutung: Nur wenn er positiv ausfällt, kann die Ukraine hoffen, dass Beitrittsverhandlungen bald eröffnet werden.
Ernüchternde Einschätzung der EU
Der Bericht, den die Europäische Kommission der Ukraine Anfang Februar 2023 zur Verfügung stellte, am Vorabend des jährlichen Gipfeltreffens zwischen der EU und der Ukraine, bewertete die Umsetzung der EU-Anforderungen durch die Ukraine. Dieser vorläufige Bericht wurde nach der gleichen Methodik erstellt, nach der auch die Beitrittsberichte gefertigt werden. Er deckt 31 Verhandlungskapitel ab, die in sechs Cluster eingeteilt sind. Der ernüchternde Befund: Die Ukraine ist in den meisten Verhandlungskapiteln nicht sehr weit fortgeschritten.
Der Bericht sollte die Erwartungen der Ukraine dämpfen. Kurz nach Einreichung des Beitrittsantrags hatten ukrainische Beamte viel über ein beschleunigtes Beitrittsverfahren für die Ukraine gesprochen. Noch Ende Januar 2023 erklärte der ukrainische Premierminister Denys Shmyhal, die Ukraine hoffe, der EU innerhalb von zwei Jahren beitreten zu können. Es ist jedoch unstrittig, dass diese Erwartungen unrealistisch sind: Der Prozess vom Beitrittsantrag bis zur Vollmitgliedschaft dauert im Durchschnitt zehn Jahre.
… aber mitten im Krieg hochrangige Treffen in Kyjiw
Die EU bekräftigte ihr Engagement jedoch, indem sie zustimmte, den jährlichen EU-Ukraine-Gipfel im Februar 2023 – mitten im Krieg – in Kyjiw abzuhalten, ursprünglich war der Gipfel in Brüssel geplant. Von nicht geringerer Bedeutung war das gemeinsame Treffen der Europäischen Kommission und der Regierung der Ukraine am 2. Februar, am Vorabend des Gipfels. So trafen die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen und 15 Kommissare in Kyjiw mit der ukrainischen Regierung zusammen – eine noch nie dagewesene Geste der Solidarität.
Erstmals trafen sich die Ukraine und die EU in diesem Format. Sie nutzten die Gelegenheit, um wichtige Fragen der Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine, die Unterstützung der EU für die Ukraine während des Krieges und danach sowie die Reformen im Land zu erörtern.
Die Reformen in der Ukraine und die Einflussmöglichkeiten der EU
Nun hofft die Ukraine, dass der Bericht der Kommission im Herbst 2023 positiv ausfällt und der Rat der EU im Dezember grünes Licht für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen gibt. Selenskyj bekräftigte letzte Woche erneut, dass die Ukraine die Beitrittsgespräche noch in diesem Jahr eröffnen will und alle EU-Empfehlungen erfüllt wird.
Tatsächlich wurden die Reformen erheblich beschleunigt, nachdem die EU der Ukraine den Status eines Kandidatenlandes zuerkannt und die sieben Reformschritte festgelegt hatte. Diese beziehen sich auf Reformen des Justizwesens, Korruptions- und Geldwäschebekämpfung, das Vorgehen gegen oligarchische Strukturen, Reformen der Mediengesetzgebung und den Schutz der nationalen Minderheiten.
Das zeigt deutlich: Wenn die EU ihre Forderungen konkret formuliert und einen starken Anreiz für die Ukraine bietet, kommen die Reformen merklich voran – Zuckerbrot und Peitsche. Auch früher war das schon der Fall, wie man in einem LibMod-Strategiepapier von Maryna Rabinovych nachlesen kann.
In vielen Fällen sind Reformen nur eine Frage des politischen Willens: So wurde die Ernennung eines neuen Leiters der Antikorruptionsstaatsanwaltschaft zuvor offenbar fast ein Jahr lang blockiert – nach der Entscheidung über den Kandidatenstatus ging es plötzlich sehr schnell. Seit Januar 2023 mussten außerdem unzählige hochrangige Beamte ihren Posten verlassen oder wurden von den Antikorruptionsbehörden festgenommen. Der spektakulärste Fall war die Inhaftierung des Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs der Ukraine im Rahmen einer Untersuchung wegen mutmaßlicher Bestechung in Höhe von 2,7 Millionen US-Dollar im Mai 2023.
Positive Dynamik – aber noch eine Menge Hausaufgaben
Der führende ukrainische Think-Tank New Europe Centre veröffentlicht fortlaufend den sogenannten Kandidaten-Check. Jede Überprüfung (bisher insgesamt vier Überprüfungen) zeigt, dass die Ukraine Fortschritte macht. Im letzten Bericht, der im Mai 2023 veröffentlicht wurde, werden die Bemühungen der Ukraine mit 6,8 von 10 Punkten bewertet.
Das Feedback zur Umsetzung der sieben Reformschritte, das die Europäische Kommission der Ukraine letzte Woche gab, fiel jedoch gemischt aus. Die Europäische Kommission merkte an, dass die Ukraine nur zwei der sieben Empfehlungen vollständig umgesetzt habe: die Justizreform und die Reform der Mediengesetzgebung. Bei den anderen fünf Reformen stehen wichtige Maßnahmen noch aus. Die Ukraine hat also bis Herbst noch eine Menge Hausaufgaben zu erledigen – erst dann wird man über konkrete Beitrittsverhandlungen sprechen können.
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