Die EU und die Ukraine: Fortschritte auf dem Weg zur Mitgliedschaft
Die Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen markiert den Beginn einer neuen Phase des Beitrittsprozesses. Dieser Prozess ist einerseits sehr technokratisch, wenn es um die Übernahme und Umsetzung des EU-Besitzstands in der Ukraine geht. Er ist aber auch politisch, wenn die Bedingungen für den Zugang der Ukraine zum Binnenmarkt und zu den EU-Förderprogrammen ausgehandelt werden.
Am 14. Dezember hat die EU trotz des Widerstands Ungarns entschieden, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und der Republik Moldau aufzunehmen. Mit dieser Entscheidung sind die Ukraine und die EU dem langfristigen Ziel eines EU-Beitritts des Landes einen Schritt nähergekommen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wollte eigentlich an dem Treffen des Europäischen Rates teilnehmen, doch die EU konnte ihn davon abbringen, offenbar um zusätzliche Irritationen zu vermeiden. Stattdessen wandte er sich per Videokonferenz an die Staats- und Regierungschefs der EU und bat sie, das Vertrauen der Ukraine in Europa nicht zu enttäuschen.
Am Vorabend des Gipfels am 14. und 15. Dezember waren die Prognosen eher pessimistisch. Ungarn kündigte bereits lange vor dem Gipfel an, dass es kein grünes Licht für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine geben werde, und schien an dieser Position festzuhalten. Erst nachdem Viktor Orbán auf den Vorschlag von Olaf Scholz hin den Raum verlassen hatte, konnten die anderen 26 Staats- und Regierungschefs den Beschluss zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen formell einstimmig fassen.
„Starkes politisches Signal“ nach schwierigen Verhandlungen
Am Vorabend des Gipfels hatte die EU in dem Bemühen, Ungarn zu überzeugen, dem Land Finanzhilfen in Höhe von zehn Milliarden Euro freigegeben. Die EU blockiert seit 2022 insgesamt 30 Milliarden Euro an Finanzmitteln für Ungarn, weil es Bedenken in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit und Korruption gibt.
Auch Österreich war zunächst gegen die Entscheidung und bestand darauf, zeitgleich Beitrittsverhandlungen mit Bosnien und Herzegowina zu eröffnen, das bereits 2016 einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft gestellt und im Dezember 2022 den Status eines EU-Kandidatenlandes erhalten hatte. Schließlich erklärte sich aber auch Österreich zur Zustimmung bereit.
Die letztlich positive Entscheidung bezeichnete der Präsident des Europäischen Rates Charles Michel als ein „sehr starkes politisches Signal“. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba lobte Scholz und sagte, dass seine Rolle bei der formellen Umgehung eines ungarischen Vetos „als ein Akt deutscher Führung im Interesse Europas in die Geschichte eingehen wird“.
Wie funktioniert der Beitrittsprozess?
Mit dieser Entscheidung werden nicht automatisch Beitrittsverhandlungen eröffnet. Die Kommission muss gemäß Verfahren zunächst den sogenannten Verhandlungsrahmen ausarbeiten, der die Leitlinien und Grundsätze für die Beitrittsverhandlungen festlegt. Der EU-Rat muss diesen dann einstimmig genehmigen.
Als nächsten Schritt führt die Europäische Kommission ein Screening durch, das heißt eine Analyse der Beitrittsreife eines Kandidatenlandes in jedem Politikbereich bzw. Verhandlungskapitel. Auf dieser Grundlage schlägt die Europäische Kommission für alle Verhandlungskapitel Zielmarken („Benchmarks“) für die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen vor. Dabei handelt es sich um Anforderungen, die ein Kandidatenland bei der Integration der EU-Rechtsvorschriften (EU-Besitzstand) in nationales Recht erfüllen muss, bevor die Gespräche aufgenommen werden können.
Anschließend stellt ein Kandidatenland in den Verhandlungen seine Position vor, während die EU-Staaten ebenfalls einen gemeinsamen Standpunkt definieren. Für die meisten Verhandlungskapitel legt die Europäische Kommission Zielmarken für den Abschluss fest, und einzelne Kapitel können nur dann abgeschlossen werden, wenn diese Zielmarken erreicht wurden.
Abgeändertes Verfahren soll den Prozess beschleunigen
Im Falle der Ukraine hat die Europäische Kommission zugestimmt, das Verfahren etwas abzuändern, um den Prozess zu beschleunigen: Die Europäische Kommission wird gemeinsam mit der Ukraine sofort mit dem Screening beginnen, während sie gleichzeitig den Verhandlungsrahmen ausarbeitet. Der Verhandlungsrahmen soll bereits im Frühjahr fertig sein. Wenn alles nach Plan verläuft und das Screening bis dahin abgeschlossen ist, könnte die Regierungskonferenz der EU-Mitgliedstaatenvertreter, die den Verhandlungsrahmen genehmigen wird, im Frühjahr stattfinden.
Als die Europäische Kommission im November 2023 das Erweiterungspaket veröffentlichte, legte sie vier zusätzliche Kriterien fest, die die Ukraine erfüllen muss, damit der Verhandlungsrahmen genehmigt werden kann. Bereits im Juni 2022, als die EU der Ukraine den Kandidatenstatus zuerkannt hatte, hatte sie sieben Reformschritte definiert, die die Ukraine umsetzen sollte, damit die EU positiv über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen entscheiden kann. Diese Reformen betrafen vor allem Fragen der Rechtsstaatlichkeit. Die vier zusätzlichen erforderlichen Reformschritte betreffen vor allem die Korruptionsbekämpfung.
Der einzige Bereich, der als politisch motiviert angesehen werden kann, ist die Gesetzgebung über nationale Minderheiten, die von Ungarn gefordert wird. Denn die ukrainische Gesetzgebung in diesem Bereich entspricht bereits jetzt den Anforderungen des Europarats. Selbst die ungarische Minderheit in der Ukraine erklärte, dass sie mit der Gesetzgebung zufrieden sei und appellierte an Ungarn, die Beitrittsgespräche nicht zu blockieren.
Wie sollte der EU-Erweiterungsprozess gestaltet werden?
Auch wenn die militärische Aggression Russlands die EU-Erweiterung beschleunigt hat und diese nun oft als „geopolitische Erweiterung“ bezeichnet wird, sollte das Ziel des Prozesses bleiben, dass in den beitretenden Länder Reformen durchgeführt werden. Für die EU ist die Erweiterung angesichts der russischen Aggression alternativlos. Der Beitrittsprozess muss jedoch die Umwandlung der Ukraine in ein demokratischeres und rechtsstaatliches Land zur Folge haben.
Ein großer Teil der EU-Rechtsvorschriften, die die Ukraine in ihr nationales Recht übernehmen muss, mag für die Erreichung dieses Ziels weniger relevant sein: Insbesondere wird es um wirtschaftliche Reformen gehen. Die Übernahme des gesamten Besitzstands der EU ist jedoch ein unerlässlicher Teil des Prozesses, damit die Ukraine dem Binnenmarkt beitreten kann. Deshalb wird die Ukraine alle Verhandlungskapitel durchlaufen und alle damit verbundenen Anforderungen erfüllen müssen. Vorrangiges Ziel sollte jedoch die Umwandlung der Ukraine in ein europäisches Land in Bezug auf Werte bzw. demokratische und rechtsstaatliche Standards bleiben.
Zwei Elemente sind in dieser Hinsicht wichtig. Erstens sollte es auf dem Weg zum Beitritt keine Abkürzungen und überzogenen Erwartungen geben. Der Prozess sollte sich weiter an den Leistungen der Ukraine orientieren: Die EU sollte auch beim Beitrittsprozess der Ukraine für alle Phasen Zielmarken definieren – so für die Eröffnung und Schließung der jeweiligen Verhandlungskapitel – und eine sehr spezifische Konditionalität anwenden.
Zweitens sollte die EU die Ukraine bei der Übernahme und Umsetzung der Reformen stärker unterstützen. Die Humanressourcen der Verwaltung in Kyjiw sind knapp und unterfinanziert. Eine Möglichkeit wäre, die Einrichtung von Abteilungen zu erleichtern, in denen ukrainische Experten aus dem privaten Sektor und internationale Experten eingestellt und direkt von der EU finanziert werden könnten. Eine Überwachung der gesamten Verwaltungsreform von Seiten der EU wäre ebenfalls sinnvoll.
Geht man davon aus, dass der Beitrittsprozess langwierig sein wird, ist es darüber hinaus notwendig, die Beitrittsgespräche mit einem echten Integrationsprozess zu begleiten, sodass die ukrainische Gesellschaft Verbesserungen spürt, lange bevor der Beitritt vollständig vollzogen ist. Es wäre sinnvoll, Bereiche des EU-Binnenmarktes zu identifizieren, in die sich die Ukraine bereits vor dem Beitritt kurz- und mittelfristig integrieren kann. Bei der Auswahl der Bereiche sollte auch die Priorität des Wiederaufbaus berücksichtigt werden. Auf diese Weise könnte die Ukraine sich noch vor ihrem Beitritt der EU auch wirtschaftlich annähern.
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