Dezentralisierungsreform in der Ukraine
Seit 2014 hat die ukrainische Regierung umfangreiche Reformen angestoßen. Während einige Reformvorhaben in jüngster Zeit stocken, gilt die Dezentralisierungsreform trotz Herausforderungen und Schwierigkeiten als eine der erfolgreichsten und dynamischsten Reformen in der Ukraine. Sie hat schon jetzt die Lebensrealität vieler Menschen außerhalb der Hauptstadt Kiew verändert. Trotz Erfolgen ist es bis zum Abschluss der Reform aber noch ein weiter Weg.
Dezentralisierung: Begriff und Hintergründe
Wie alle ehemals sozialistischen Staaten kämpft die Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit 1991 mit dem Erbe des sowjetischen Systems, in dem Kompetenzen und Ressourcen vor allem in der Hauptstadt und in einigen wenigen regionalen Zentren konzentriert waren. Schon bald nach der Unabhängigkeit wurde klar, dass diese Machtkonzentration Hauptursache für eine schwache wirtschaftliche Entwicklung in weiten Teilen des Landes sowie die geringe Qualität öffentlicher Dienstleistungen außerhalb der Ballungsräume ist. Unter dem Begriff Dezentralisierung wird daher in der Ukraine seit vielen Jahren eine grundlegende Umgestaltung der öffentlichen lokalen Verwaltung diskutiert. Im Kern geht es dabei um die Verlagerung von Kompetenzen und Ressourcen von der zentralstaatlichen auf die lokale Ebene.
Die Revolution der Würde von 2013/2014 hat den Dezentralisierungsbemühungen nach jahrelangem Stillstand neuen Schwung gegeben. Dabei verlaufen zwei Reformbemühungen parallel: Die eigentliche Dezentralisierung von Kompetenzen und Ressourcen von der nationalen auf die kommunale Ebene sowie eine Gemeindereform, die durch den freiwilligen Zusammenschluss von Kleinkommunen, neue, leistungsstarke Gemeinden schaffen soll.
Neue Gemeinden als Motor der Dezentralisierung
Viele der ehemals über 11.000 Gemeinden der Ukraine waren vor Beginn der Gemeindereform Kleinstgemeinden mit teilweise wenigen hundert Einwohnern. Diese hatten es schwer, öffentliche Dienstleistungen für ihre Bürger/innen eigenständig zu organisieren und zu finanzieren. Selbst in einem dezentralisierten System können zu kleine Gemeinden viele öffentliche Aufgaben wie beispielsweise die Organisation der kommunalen Müllabfuhr nicht sinnvoll und effizient übernehmen.
Über ein vor allem finanzielles Anreizsystem ermutigt die ukrainische Regierung seit 2015 die Gemeinden, sich freiwillig zu größeren Gemeinden zusammenzuschließen. Bislang sind knapp 36% der ukrainischen Gemeinden fusioniert, in denen knapp 20% der Bevölkerung der Ukraine leben. Diese Gemeinden profitieren in besonderem Maße von der parallel verlaufenden Dezentralisierungsreform: Sie erhalten unter anderem mehr Geld durch den Zentralstaat, können auf staatliche Finanzierungstöpfe für eigene Projekte zurückgreifen und bekommen einen größeren Teil der Steuereinnahmen sowie neue Befugnisse für die Erhebung lokaler Steuern und Abgaben und die Durchführung lokaler Aufgaben wie Straßenbau, Schulmanagement oder Nahverkehr.
Aufgrund der Freiwilligkeit der Gemeindereform sind jedoch nach wie vor fast zwei Drittel der Gemeinden nicht fusioniert. Dadurch ist in den Regionen der Ukraine ein Flickenteppich aus reformierten und nicht reformierten Gemeinden entstanden. Während den reformierten Gemeinden neue Kompetenzen und Ressourcen zustehen, befinden sich die nicht reformierten Gemeinden nach wie vor in administrativer und finanzieller Abhängigkeit der durch den Zentralstaat eingesetzten „Rajons“ (Landkreise) und Oblaste (Regionen). Gerade die Rajons sehen die Gemeindereform oft als Bedrohung an, was auch mit der lückenhaften Rechtslage und ihrer unklaren zukünftigen Rolle und Funktion im Staatsgefüge zusammenhängt. Wichtige Gesetzesvorhaben zur Neuordnung der lokalen Kompetenzen stecken in Ausschüssen des ukrainischen Parlaments fest.
Verlagerung von finanziellen Ressourcen
Die Ukraine hat seit ihrer Unabhängigkeit die Finanzmittel für ihre Regionen, Landkreise und Gemeinden Schritt für Schritt ausgeweitet und liegt heute, was die finanzielle (=Fiskal-) Dezentralisierung betrifft, nach Angaben der OECD im EU Durchschnitt. Auch wenn sich der Anteil der lokalen Einnahmen seit 2012 bei 15% des BIP stabilisiert hat, kann die Fiskaldezentralisierung als Erfolg eingestuft werden: Zum einen hat die Ukraine ungeachtet der Wirtschaftskrise und dem Krieg im Donbass allen Versuchungen widerstanden, die insgesamt sinkenden öffentlichen Einnahmen wieder stärker der Kontrolle des Zentralstaates zu unterstellen. Zudem wurden die lokalen Finanzen der neuen fusionierten Gemeinden beträchtlich gestärkt: Während die Regionalverwaltungen (Oblaste) und Landkreise (Rajons) finanzielle Eigenständigkeit eingebüßt haben und inflationsbereinigt weniger Geld als noch vor ein paar Jahren erhalten, sind die Einnahmen aus lokalen Steuern und Abgaben der fusionierten Gemeinden im ersten Halbjahr 2018 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 41% gestiegen. Dadurch entsteht ein Entwicklungsschub auf der lokalen Ebene, da die Gemeinden beispielsweise aufgrund der höheren Einnahmen aus der Einkommenssteuer ein Interesse daran haben, durch die Gestaltung lokaler Wirtschaftsentwicklung neue Arbeitsplätze und Zuzug anzuregen. Insgesamt bilden aber staatliche Transferleistungen nach wie vor den mit Abstand größten Posten der Gemeindehaushalte, wodurch die Fiskaldezentralisierung bei weitem noch nicht abgeschlossen ist.
Engagement der EU und weiterer Geber
Im Zuge der Westorientierung und der EU-Annäherung der Ukraine, wird die umfangreiche Dezentralisierungsreform massiv durch das Ausland unterstützt. Neben der Europäischen Union als größtem Geldgeber sind weitere Länder, die Vereinten Nationen und internationale Organisationen aktiv. Sie alle finanzieren zahlreiche Entwicklungsprogramme. Unter ihnen spielt die Multi-Geber-Initiative „U‑LEAD with Europe“ eine Schlüsselrolle. Mit ihrem nationalen Programmbüro in Kiew und 24 regionalen Entwicklungszentren arbeitet das Programm an der Stärkung aller an der Dezentralisierungsreform beteiligten Akteure. Neben der Beratung des für die Reform zuständigen Regionalentwicklungsministeriums werden über Trainings und Weiterbildungen vor allem das lokale Verwaltungspersonal und die neugewählten Vertreter/innen in den Gemeinden fit für die Übernahme der neuen Aufgaben gemacht. U‑LEAD wird von der EU, Dänemark, Deutschland, Estland, Polen und Schweden finanziert und durch die bundeseigene Durchführungsorganisation GIZ sowie die schwedischen Entwicklungsagentur Sida umgesetzt.
Ausblick
Knapp fünf Jahre nach dem Euromaidan hat der Dezentralisierungsprozess den Alltag vieler Menschen im Land bereits positiv verändert. Die Reform gilt auch international als eine der erfolgreichsten Reformen der ukrainischen Regierung. Dennoch ist die Dezentralisierung noch lange nicht zum Selbstläufer geworden. Die Fortführung der Gemeindereform auch gegen Widerstände lokaler und regionaler Machteliten, die weitere Verlagerung von Kompetenzen, die Stärkung der Eigeneinnahmen der Gemeinden sowie die Weiterentwicklung des rechtlichen Rahmens hängen vom politischen Willen der ukrainischen Regierung ab. Mit der Entscheidung des zentralen Wahlkomitees Anfang August, die für Herbst geplanten Gemeindewahlen in weiteren fusionierten Gemeinden bis auf weiteres auszusetzen, hat sich die Reformdynamik zuletzt verlangsamt. Zudem werfen die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2019 ihre Schatten voraus. In diesen wird sich zeigen, wie sich der politische und gesellschaftliche Wille zur Dezentralisierung der Ukraine weiterentwickelt.
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