„Der Krieg gegen die Ukraine“: die Frage nach dem „Warum?“

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Das neue Buch der ZOiS-Direk­to­rin Gwen­d­olyn Sasse, „Der Krieg gegen die Ukraine“, bietet die viel­leicht umfas­sendste und zugleich kom­pak­teste Lektüre zum Krieg gegen die Ukraine.

Der rus­si­sche Angriffs­krieg gegen die Ukraine dauert nun schon über neun Monate an, begon­nen hat er jedoch schon lange vorher: mit der Anne­xion der Krim 2014. Wie erklärt man einen Krieg, der noch nicht zu Ende ist? Warum und wogegen führt Russ­land Krieg? Und wie erklärt sich die Wehr­haf­tig­keit der Ukrai­ner? Die Poli­to­lo­gin und Sla­wis­tin Gwen­d­olyn Sasse hat ver­sucht, diese Fragen in ihrem neuen Buch „Der Krieg gegen die Ukraine“ zu beant­wor­ten. Ein Buch, das aktuell die viel­leicht umfas­sendste und zugleich kom­pak­teste Lektüre zum Krieg gegen die Ukraine und den Hin­ter­grün­den bietet.

Gegen die Atem­lo­sig­keit des Krieges anschreiben

Sie habe „gegen die täg­li­che Atem­lo­sig­keit des Kriegs anzu­schrei­ben“ ver­sucht, schreibt Gwen­d­olyn Sasse zu Beginn ihres Buches. Es sei aber auch ein Versuch, Bewusst­sein zu schaf­fen und Miss­ver­ständ­nisse auf­zu­de­cken. Gwen­d­olyn Sasse hat die geeig­nete Exper­tise dafür. Sie leitet seit 2016 das Zentrum für Ost­eu­ropa- und inter­na­tio­nale Studien (ZOiS) in Berlin und ist seit letztem Jahr Ein­stein-Pro­fes­so­rin für Ver­glei­chende Demo­kra­tie- und Auto­ri­ta­ris­mus­for­schung am Insti­tut für Sozi­al­wis­sen­schaf­ten der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät zu Berlin. Sie ist Exper­tin für die Ukraine, ins­be­son­dere für die Krim, wo sie einst Rus­sisch lernte. Ihre Publi­ka­tion The Crimea Ques­tion: Iden­tity, Tran­si­tion, and Con­flict von 2007 gewann mehrere aka­de­mi­sche Auszeichnungen.

Dieser Hin­ter­grund spie­gelt sich auch in ihrem Buch wider. Die Krim nimmt einen großen Teil der Analyse ein. Das mag an einigen Stellen sehr detail­liert wirken, zeigt aber auch die essen­zi­elle Rolle der Halb­in­sel für Russ­lands (neo)imperiale Ambi­tio­nen. Ansons­ten gibt das Buch einen umfas­sen­den Über­blick über die Vor­ge­schichte, die zu diesem Krieg führte und zeich­net die gesell­schaft­li­chen und poli­ti­schen Dyna­mi­ken hinter den Ent­wick­lun­gen seit dem Zusam­men­bruch der Sowjet­union nach. Denn der Krieg, das betont Sasse immer wieder, begann eben nicht erst im Februar dieses Jahres.

Die Frage nach dem „Warum?“

Die Frage nach dem „Warum?“ steht im Zentrum von Sasses Ana­ly­sen, die sich vor allem auf die gegen­sätz­li­chen poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Ent­wick­lun­gen in Russ­land und der Ukraine kon­zen­trie­ren. So nennt sie bei­spiels­weise die Auto­kra­ti­sie­rung Russ­lands ver­bun­den mit wach­sen­den neo-impe­ria­len Macht­an­sprü­chen ebenso als Grund für den Kriegs­be­ginn wie die Demo­kra­ti­sie­rung und West­ori­en­tie­rung der Ukraine: „Erst in ihrem Zusam­men­spiel ermög­lich­ten diese Dyna­mi­ken Russ­lands Krieg gegen die Ukraine, und Putin als Kata­ly­sa­tor ließ diese Mög­lich­keit zur Rea­li­tät werden.“ Wie diese Ent­wick­lun­gen par­al­lel ver­lie­fen und gleich­zei­tig zu wach­sen­den Span­nun­gen führten, lässt sich anhand der von Sasse nach­ge­zeich­ne­ten His­to­rie gut nachvollziehen.

Es ist ein Buch, das kompakt und klar ist, das keine aus­schwei­fen­den Erklä­run­gen oder Bilder braucht. Es erfor­dert vom Leser keine Vor­kennt­nisse, jedoch die Bereit­schaft, sich mit geschicht­li­chen und poli­ti­schen Details aus­ein­an­der­zu­set­zen. Wo nötig, streut Sasse Daten ein – meist Umfra­ge­er­geb­nisse des Kyjiwer Inter­na­tio­na­len Insti­tuts für Sozio­lo­gie (KIIS), mit dem die Autorin eng zusam­men­ar­bei­tet. Diese helfen dem Leser, die rapiden gesell­schaft­li­chen Ent­wick­lun­gen in der Ukraine in den letzten Jahren nach­zu­voll­zie­hen. Und sie geben Auf­schluss über im Westen ver­brei­tete Mythen – ins­be­son­dere zur Kor­re­la­tion eth­ni­scher und sprach­li­cher Zuge­hö­rig­keit der Ukrai­ner und ihrer poli­ti­schen Ein­stel­lun­gen. Ein Fazit der Autorin:

„Der Ein­druck einer gespal­te­nen Gesell­schaft geht somit auch auf dicho­to­mi­sie­rende Kate­go­rien zurück, die das reale Bild verzerren.“ 

Ein objek­ti­ver Blick auf die Ukraine

Gleich­zei­tig hat man das Gefühl, einen objek­ti­ven Blick zu bekom­men, der auch Pro­bleme der Ukraine – Bei­spiel: Kor­rup­tion oder rechte Bewe­gun­gen – nicht aus­lässt. Auch in diesem Zusam­men­hang räumt Sasse mit west­li­chen Fehl­ein­schät­zun­gen und Pro­jek­tio­nen auf. In ihrer Analyse zur Ukraine kommt sie zu dem Schluss: Vieles über den ukrai­ni­schen Staat und die ukrai­ni­sche Gesell­schaft hätte man schon über einen län­ge­ren Zeit­raum wissen können, ins­be­son­dere, dass es einen Konsens zu Demo­kra­ti­sie­rung und einer west­lich ori­en­tier­ten Politik gibt, sowie eine Iden­ti­tät, die die Diver­si­tät der Ukraine widerspiegelt.

Zen­tra­li­sie­rung und Per­so­na­li­sie­rung des auto­ri­tä­ren Systems in Russland

Sasse legt Wert darauf, dass dieser Krieg nicht „Putins Krieg“ ist. Sie argu­men­tiert, dass hinter dem auto­ri­tä­ren System eine längere Ent­wick­lung steht, die nicht allein durch Putin geprägt, sondern auch durch eine in weiten Teilen apo­li­ti­sche Gesell­schaft ermög­licht wurde. Gleich­zei­tig stellt sie fest:

„Die Zen­tra­li­sie­rung und Per­so­na­li­sie­rung des auto­ri­tä­ren Systems hat Putins eigenem neo-impe­ria­len Denken immer mehr Raum gegeben.“ 

Das Para­doxe an der Ent­schei­dung zur all­um­fas­sen­den Inva­sion sei jedoch, „dass er mittel- bis lang­fris­tig das von ihm eta­blierte System in Russ­land damit gefährdet.“

Gegen­sätz­li­che Ent­wick­lun­gen in der Ukraine und Russland

Als Leser merkt man schnell, dass die Autorin sich schon lange mit der Region beschäf­tigt. Sasse schafft es, die gegen­sätz­li­chen Ent­wick­lun­gen in Russ­land und der Ukraine so zusam­men­zu­brin­gen, dass man eine duale Per­spek­tive auf die Ent­wick­lun­gen der letzten Jahr­zehnte bekommt und so die Eska­la­tion im Nach­hin­ein gut nach­voll­zie­hen kann. Und man ver­steht, wie die Trans­for­ma­tion der Ukraine zu einem Risiko für Russ­land und Putin wurde. Inter­es­sant ist, dass die poli­ti­schen Dis­kurse und Ent­schei­dun­gen in Deutsch­land kaum vor­kom­men. Das scheint eine bewusste Ent­schei­dung gewesen zu sein, die dem Buch und seinem Fokus guttun. Etwas zu kurz kommt nur die Rolle der ukrai­ni­schen Zivil­ge­sell­schaft für die Trans­for­ma­tion. Viel­leicht hätte eine genaue Betrach­tung aber auch den Umfang des Buches gesprengt.

„Deko­lo­ni­sie­rung des west­li­chen Blicks auf die Region Osteuropa“

Für ein gene­rel­les Fazit ist es jedoch noch zu früh – das muss auch die Autorin am Ende ihres Buches aner­ken­nen. Denn ein Ende des Krieges ist noch nicht abzu­se­hen. Doch die Kon­se­quen­zen sind bereits weit­rei­chend – auch für uns in Deutsch­land und im Westen. Denn hin­ter­fragt wurde mit diesem Krieg auch der west­li­che Blick auf die Ukraine. Der Krieg bietet die Chance, diesen zu hin­ter­fra­gen, und damit auch die deut­sche Ein­ord­nung der Geschichte – ins­be­son­dere zu den Folgen des Falls der Sowjet­union – zu kor­ri­gie­ren. Dazu hält Sasse fest:

„Die Her­aus­for­de­rung besteht in der Deko­lo­ni­sie­rung des west­li­chen Blicks auf die Region Osteuropa.“ 

Gwen­d­olyn Sasse: „Der Krieg gegen die Ukraine. Hin­ter­gründe, Ereig­nisse, Folgen“, C.H. Beck, 128 Seiten

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