Die andere Seite des Krieges

© Yanosh Nemesh /​ Shut­ter­stock

Seit Jahren leidet die Ukraine unter der Geißel des Krieges. Doch das aggres­sive Ver­hal­ten des Kremls führt auch zu posi­ti­ven Effek­ten. Putin hat nicht mit dem Frei­heits­wil­len der Ukrai­ner gerechnet.

Die Mel­dun­gen und Berichte der inter­na­tio­na­len Presse über die Ukraine handeln meis­tens von etwas Nega­ti­vem, Destruk­ti­vem und Gefähr­li­chem. „Das Leid der Men­schen ist unsäg­lich“, „Krieg in Europa“, „Tote Sol­da­ten im Kampf mit Sepa­ra­tis­ten“, „Ver­ges­se­ner Krieg im Osten“, so lauten oft die Schlagzeilen.

Tat­säch­lich hat der seit mehr als sieben Jahren andau­ernde Krieg das Leben vieler gewöhn­li­cher Ukrai­ner ein für alle Mal ver­än­dert. Junge Sol­da­ten wurden getötet und ver­wun­det, Fami­lien geteilt, etwa 1,5 Mil­lio­nen Bin­nen­ver­trie­bene mussten ihre Hei­mat­re­gio­nen ver­las­sen. Von den kaum kal­ku­lier­ba­ren wirt­schaft­li­chen Ver­lus­ten für das Land ganz zu schwei­gen. Man schätzt die Kosten des Krieges zwi­schen zehn Prozent des BIP bis even­tu­ell sogar auf 15 Prozent des BIP in den Jahren 2013–2017. Zwar kann man der Bericht­erstat­tung über die Fakten und über die Aus­wir­kun­gen des Krieges nicht wider­spre­chen, aber dennoch gibt es eine andere Seite des Krieges, die die Medien meis­tens über­se­hen. Über­ra­schen­der­weise ist es eine positive.

Der Krieg als Katalysator

„Obwohl der rus­si­sche Prä­si­dent ver­sucht hat, die Ukraine zu zer­stö­ren, hat Putin para­do­xer­weise dazu bei­getra­gen, sie neu zu erfin­den.“ Mit dieser Erklä­rung arti­ku­liert der bri­ti­sche Wis­sen­schaft­ler Andrew Wilson eine voll­kom­men andere Inter­pre­ta­tion des Krieges.

Seit der Unab­hän­gig­keit der Ukraine im Jahr 1991 war die ukrai­ni­sche Iden­ti­tät nicht ein­deu­tig defi­niert und ihre geo­po­li­ti­schen Inter­es­sen unbe­stimmt. Obwohl es in der Ukraine keine „Resta­li­ni­sie­rung“ wie in Russ­land gab, vollzog sich der Prozess der Dekom­mu­ni­sie­rung sehr langsam. Dies änderte sich erst mit dem Aus­bruch des Krieges im Jahr 2014. Iro­ni­scher­weise betrach­tet Wilson Putin zu Recht als unbe­ab­sich­tig­ten „Natio­nen-Erbauer“ und Schöp­fer der moder­nen ukrai­ni­schen Geschichte.

Eine der wich­tigs­ten Ent­wick­lun­gen in der Zeit der Unab­hän­gig­keit war ein gemein­sa­mes Ver­ständ­nis des „Holo­do­mor“, der „Tötung durch Hunger“, die unter Stalin den Ukrai­nern zuge­fügt wurde. Sie wurde von den meisten Ukrai­nern als Völ­ker­mord ange­se­hen, unab­hän­gig von der Region, in der sie lebten. Doch die Regio­nen wurden auch immer wieder künst­lich in West, Süd und Ost unter­teilt. Diese Spal­tun­gen wurden von ukrai­ni­schen, mit Russ­land ver­bün­de­ten Poli­ti­kern genutzt und ver­schärft. Zu diesen auf­er­leg­ten Unter­schie­den kamen die wei­ter­hin zwei­deu­ti­gen geo­po­li­ti­schen Inter­es­sen des Staates hinzu, die größ­ten­teils vom „öst­li­chen Nach­barn“ dik­tiert wurden.

Vor 2013 ver­such­ten ukrai­ni­sche Prä­si­den­ten, ein geo­po­li­ti­sches Gleich­ge­wicht zu errei­chen, indem sie den Staat zwi­schen Russ­land und dem Westen hin und her beweg­ten. Obwohl brutal und ver­hee­rend, besteht nun aber die wahre Ironie des Krieges darin, dass er unbe­ab­sich­tigt posi­tive Kon­se­quen­zen für die kul­tu­relle und poli­ti­sche Iden­ti­tät der Ukraine sowie für die geo­po­li­ti­schen Ent­wick­lun­gen des Staates mit sich brachte.

Die Ukrai­ner mussten sich entscheiden

Mil­lio­nen Ukrai­ner waren gezwun­gen, ihre poli­ti­schen Ein­stel­lun­gen zu über­den­ken. Nie zuvor in der ukrai­ni­schen Geschichte gab es eine so über­wäl­ti­gende Mehr­heit von Bürgern, die die Mit­glied­schaft des Staates sowohl in der NATO als auch in der EU unter­stüt­zen würden. Darüber hinaus hatte das ukrai­ni­sche Par­la­ment seit 2014 die größte pro-west­li­che Koali­tion, die es in der Geschichte jemals gegeben hat. Pro-rus­si­sche Abge­ord­nete waren und sind eine Min­der­heit und die „Partei der Regio­nen“ sowie die „Kom­mu­nis­ti­sche Partei“ sind von der poli­ti­schen Bühne ver­schwun­den.

Die andere posi­tive Ent­wick­lung infolge des Kon­flikts mit Russ­land ist im ukrai­ni­schen Sicher­heits­sek­tor zu finden. Die aggres­si­ven Aktio­nen des rus­si­schen Prä­si­den­ten haben die ukrai­ni­sche Regie­run­gen ver­an­lasst, ihre Inves­ti­tio­nen in die natio­na­len Streit­kräfte zu über­den­ken. Heute ist die ukrai­ni­sche Armee nach der rus­si­schen und fran­zö­si­schen Armee die dritt­größte in Europa. Jähr­lich werden sechs Prozent des BIP in das Militär investiert.

Abge­se­hen von den geo­po­li­ti­schen Ent­wick­lun­gen waren die wich­tigs­ten Ver­än­de­run­gen die­je­ni­gen, die in den Köpfen der Men­schen statt­fan­den. Der Plan eines „Novor­os­siya“ war Putins größte geo­po­li­ti­sche Fehl­ein­schät­zung. Er war fest davon über­zeugt, dass die meisten rus­sisch­spra­chi­gen Ukrai­ner Russ­land unter­stüt­zen würden, was sich jedoch nicht als richtig herausstellte.

Im Gegen­teil, Mil­lio­nen rus­sisch­spra­chi­ger Ukrai­ner unter­stütz­ten die ter­ri­to­riale Inte­gri­tät des Landes. 

Darüber hinaus kam eine große Anzahl von Sol­da­ten, die die Ukraine im Osten schütz­ten, aus den rus­sisch­spra­chi­gen Regio­nen und Städten wie bei­spiels­weise Dnipro. Man konnte früher niemals so viele ukrai­ni­sche Flaggen auf den Straßen oder auf den Häusern sehen wie heute, egal, welche Region man bereist. Wei­ter­hin gewann die ukrai­nisch-ortho­doxe Kirche ihre Eigen­stän­dig­keit, sie erhielt 2018 eine Auto­ze­pha­lie, die sie vom Mos­kauer Patri­ar­chat trennte.

Der Krieg ver­einte die Ukrainer

Der Krieg trug dazu bei, Ukrai­ner aus dem ganzen Land zu ver­ei­nen, was das Gegen­teil von dem war, was Putin in der Ukraine errei­chen wollte. Ohne die massive Selbst­or­ga­ni­sa­tion der Ukrai­ner, ein­schließ­lich der Dia­spora, wäre dieser Krieg höchst­wahr­schein­lich ver­lo­ren gegangen.

Der ame­ri­ka­ni­sche Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Timothy Snyder argu­men­tierte, dass „die Nation nicht auf­grund der Geschichte auf­ge­baut wird, sondern auf­grund der gemein­sa­men Hand­lun­gen und Erfahrungen“.

Man kann deut­lich sehen, dass sich die poli­ti­sche Atmo­sphäre in der Ukraine in den letzten Jahren ver­än­dert hat. Wichtig ist, dass der Krieg wesent­lich zur Frage der Selbst­iden­ti­fi­ka­tion von Mil­lio­nen Ukrai­nern bei­getra­gen hat.

90 Prozent der Men­schen betrach­ten sich jetzt als Ukrainer. 

Die über­wie­gende Mehr­heit der Par­teien unter­stützt die Inte­gra­tion des Landes in die NATO und in die EU, wobei beide Ziele in der ukrai­ni­schen Ver­fas­sung ver­an­kert sind. Para­do­xer­weise wäre dies ohne den Krieg wahr­schein­lich nicht geschehen.

Auch Selen­skyj ist kein Anti-Ukrainer

Obwohl viele Men­schen in der Ukraine sehr skep­tisch gegen­über dem poli­ti­schen Neuling Wolo­dymyr Selen­skyj waren, zeigen die neu­es­ten Ent­wick­lun­gen, dass sich mit ihm der Trend der Ori­en­tie­rung nach Westen fort­set­zen und mög­li­cher­weise sogar beschleu­ni­gen wird. Zu Beginn seiner Prä­si­dent­schaft bezeich­ne­ten einige Kri­ti­ker Selen­skyj als pro-rus­si­schen, anti-ukrai­ni­schen Poli­ti­ker, der schlechte Kom­pro­misse mit Russ­land suchen werde. Kurz nachdem er Prä­si­dent gewor­den war, för­derte er diese Zweifel, indem er etwas unent­schlos­sen wirkte und offen­bar glaubte, im Donbas sehr schnell eine fried­li­che Lösung errei­chen zu können.

Aber nach fast zwei Jahren seiner Prä­si­dent­schaft scheint er endlich seine Zähne zu zeigen und die Irrever­si­bi­li­tät der pro-west­li­chen Flug­bahn des Landes zu erken­nen, keine Kom­pro­misse mit Russ­land in irgend­ei­ner poli­ti­schen Ange­le­gen­heit ein­zu­ge­hen und vor allem ein echter Führer zu werden, der keine Angst hat, die höchste poli­ti­sche Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men, auf die viele Ukrai­ner gewar­tet haben. Nur wenige hatten damit gerech­net, dass der Prä­si­dent eine Reihe von pro-rus­si­schen Poli­ti­kern mit ihrem Führer Med­wedt­schuk sank­tio­nie­ren werde. Dieser hatte seine Medien seit vielen Jahren genutzt, um die ukrai­ni­sche Gesell­schaft zu pola­ri­sie­ren und zu ver­gif­ten, indem er Mythen über ukrai­ni­sche Natio­na­lis­ten und rus­si­sche Erzäh­lun­gen über den soge­nann­ten Bür­ger­krieg ver­brei­ten ließ.

Die Ent­wick­lung eines natio­na­len Bewusst­seins und der Natio­nen­bil­dung ist ein lang­fris­ti­ger Prozess. Für die Ukraine mit ihren 40 Mil­lio­nen Ein­woh­nern ist es heute jedoch offen­sicht­lich, dass das Land endlich den rich­ti­gen Weg ein­ge­schla­gen hat, der seine Eigen­stän­dig­keit und Unab­hän­gig­keit auch in den kom­men­den Jahr­zehn­ten für künf­tige Gene­ra­tio­nen von Ukrai­nern sichert. Dank Russ­lands aggres­si­vem Ver­hal­ten, der Anne­xion der Krim und des Krieges im Donbass mit seinen Opfern und Ver­lus­ten war die ukrai­ni­sche Nation noch nie so vereint wie heute.

Das Essay erschien in einer eng­li­schen Fassung bei Lossi36. 

Textende

Portrait von Cherchatyi

Pavlo Cher­cha­tyi ist Poli­tik­wis­sen­schaft­ler aus Poltawa.

 

 

 

 

 

 

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