Wagnergate – eine unglaubliche Geschichte
Am 17. November veröffentlichte das internationale Rechercheprojekt Bellingcat gemeinsam mit dem russischen Portal The Insider eine in der Ukraine langersehnte Untersuchung, die Licht in die sogenannte Wagner-Affäre bringt. Von Daniela Prugger
Der Zugriff erfolgte noch vor Sonnenaufgang: Am 28. Juli 2020, um 4:30 Uhr, stürmten belarusische Sicherheitsbeamte ein Hotel in der Nähe von Minsk, feuerte Blendgranaten und verhaftete 33 russische Staatsbürger. Die Ermittler erhoben schwere Vorwürfe gegen die Gruppe: Söldnertum und Spionage. Vor allem aber befürchtete Machthaber Aljaksandr Lukaschenka kurz vor der Präsidentschaftswahl, dass die Männer nach Belarus gekommen waren, um die Lage dort zu destabilisieren.
Wie sich später herausstellte, hatte das Auftauchen der Gruppe entgegen Lukaschenkas Paranoia nichts mit den Wahlen oder einer etwaigen russischen Einmischung zu tun, sondern mit einer gescheiterten ukrainischen Operation. Viele der Söldner hatten Jahre zuvor für das berüchtigte russische private Militärunternehmen „Wagner“ im Donbas gekämpft. Die auch „Putins Schattenarmee“ genannte Truppe kämpft in Kriegen auf der ganzen Welt – in Mali, Syrien oder eben in der Ukraine. Bereits seit 2014 sammelt der ukrainische Geheimdienst Informationen über jene Männer, die im Donbas kämpften und wusste, wen er festnehmen wollte. Die Frage war nur wie.
Eine gefälschte Rekrutierungskampagne…
Während der Vorfall in der Ukraine schnell als „Wagnergate“ bekannt wurde, blieben viele Details zunächst unklar. Erst die Recherchen von Bellingcat rekonstruieren, wie genau versucht wurde, die Söldner anzulocken und der Plan am Schluss nicht aufging. Die Recherchen, die in englischer und russischer Sprache erschienen sind, jedoch nicht auf Ukrainisch, was von vielen in sozialen Medien kritisiert wurde, legen offen, dass der ukrainische Militärgeheimdienst „GUR“ mit Unterstützung der Spionageabwehrabteilung des Inlandsgeheimdienstes „SBU“ eine aufwändige Aktion unter dem Namen „Project Avenue“ geplant hatte.
Demnach erstellte GUR im Internet eine gefälschte Rekrutierungskampagne und gab sich als ein nicht mehr existierendes privates Militärunternehmen in Russland aus und suchte anschließend nach Mitarbeitern. Mehr als 200 russische Kämpfer schickten Lebensläufe samt Fotos und Videos, die von ihrer Kampferfahrung zeugten: darunter auch Material, das von der Teilnahme an Kämpfen im Donbas-Krieg und Verstrickungen mit dem Absturz des Malaysia-Airlines-Flugs MH17 zeugt. Im Rahmen der Recherche wurden auch einige der Rekrutierungsgespräche veröffentlicht.
Im Juni 2020 beschloss das Team, das an „Project Avenue“ arbeitete, eine verdeckte Operation durchzuführen, um die wertvollsten Zielpersonen zu verhaften und musste sich dafür ein glaubwürdiges Ziel für die Rekrutierungskampagne ausdenken: Der russische Ölkonzern „Rosneft“ bräuchte erfahrene Kämpfer in Venezuela, um seine Einrichtungen in dem südamerikanischen Land vor Banditen zu schützen, hieß es in einer Ausschreibung.
…und eine geplante Flugzeugentführung
Die Umsetzung der Operation fiel in die erste Jahreshälfte 2020, als wegen Corona weltweit Reisemöglichkeiten stark eingeschränkt waren. Schnell wurde klar, dass der Gruppe nur eine Option für die vermeintliche Reise nach Venezuela blieb: Per Auto oder Bus nach Minsk und von dort nach Istanbul zu fliegen.
Der Plan der ukrainischen Behörden war demnach, eine Bombendrohung vorzutäuschen, sobald der Flug von Minsk nach Istanbul im ukrainischen Luftraum war, um das Flugzeug zur Landung in Kyjiw zu zwingen, wo die Söldner verhaftet und vor Gericht gestellt werden sollten. Hier tun sich gefährliche Parallelen zum Fall des belarusischen Bloggers und Oppositionsaktivisten Roman Protasewitsch auf, der festgenommen wurde, nachdem sein Ryanair-Flug auf dem Weg von Athen nach Vilnius zur Landung in Minsk gezwungen wurde. Im Falle der Wagner-Söldner sollte es anders kommen. Ende Juli 2020 funkte der belarusische KGB den ukrainischen Behörden dazwischen: Er nahm die Männer fest und schickte sie trotz mehrfacher Auslieferungsbemühungen seitens der Ukraine zurück nach Russland.
Kyjiw dementierte zu diesem Zeitpunkt die Berichte einiger Journalisten und Politiker, wonach die Söldner im Rahmen einer ukrainischen Operation nach Belarus gelockt wurden. Der Zeitpunkt der Operation war heikel: zwei Wochen vor den belarusischen Präsidentschaftswahlen waren die Ukraine und Russland im Begriff, ein Waffenstillstandsabkommen für den Donbas zu schließen. Erst in einem Interview im Juni 2021 räumte Präsident Wolodymyr Selenskyj selbst die Existenz der Operation ein, bestritt aber, dass sie von der Ukraine geleitet wurde.
Das unerwartete Ende und seine Folgen
Die politischen Folgen der gescheiterten Operation sind ein Jahr später noch immer spürbar und bringen Präsident Selenskyj sowie einen Teil seiner Sicherheitsdienste in Erklärungsnot. Am umstrittensten ist jedoch nicht die Tatsache, dass die Ukraine die Operation inszeniert hat, sondern vielmehr die Gründe für ihr Scheitern. Dass die Operation nicht umgesetzt werden konnte, wird auf eine Verzögerung zurückgeführt, die vor allem Selenskyjs Stabschef Andriy Jermak angelastet wird. Laut von Bellingcat befragten hochrangigen Geheimdienstmitarbeitern soll er grünes Licht für eine Verschiebung gegeben haben.
Eine im Oktober veröffentlichte Umfrage des Razumkov-Zentrums besagt, dass zum damaligen Zeitpunkt nur die Hälfte der befragten Ukrainer von der Unterbrechung der Operation wussten. Es ist davon auszugehen, dass die Veröffentlichung der Bellingcat-Recherche Ende November die Lage geändert hat: Am ukrainischen Freiheitstag, dem 21. November, protestierten mehrere hundert Menschen vor Selenskyjs Amtssitz und forderten Jermaks Entlassung bis zum 1. Dezember. Andernfalls, so die Demonstranten, würden sie einen unbefristeten Protest starten und die Amtsenthebung des Präsidenten fordern.
Die Nationale Ermittlungsbehörde NBR hat mittlerweile Untersuchungen gegen den umstrittenen Stabschef angekündigt. Außerdem wurden die Reisepässe fünf ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter eingezogen, die an der Operation beteiligt waren – unter ihnen ist auch der frühere Chef der Geheimdienstabteilung Vasyl Burba.
Selenskyj selbst trifft der Unmut über den Ablauf der Operation zu einem denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Momentan trägt er einen offenen Konflikt mit dem einflussreichen Oligarchen und reichsten Mann des Landes, Rinat Achmetow, aus. Am Freitag beschuldigte der Präsident gar Achmetow, einen von Russland gesponsorten Putsch gegen ihn zu planen. Außerdem haben in den vergangenen Wochen Berichte über Truppenkonzentrationen im Süden und Westen Russlands Sorgen über eine mögliche neuerliche Invasion der Ukraine beflügelt.
Angesichts dieser politischen Großwetterlage ist unklar, welche Rolle Wagnergate in der volatilen ukrainischen Innenpolitik spielen wird. Möglicherweise wird der Konflikt zwischen Selenskyj und dem Oligarchen Achmetow die Affäre überschatten.
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