Die andere Seite des Krieges
Seit Jahren leidet die Ukraine unter der Geißel des Krieges. Doch das aggressive Verhalten des Kremls führt auch zu positiven Effekten. Putin hat nicht mit dem Freiheitswillen der Ukrainer gerechnet.
Die Meldungen und Berichte der internationalen Presse über die Ukraine handeln meistens von etwas Negativem, Destruktivem und Gefährlichem. „Das Leid der Menschen ist unsäglich“, „Krieg in Europa“, „Tote Soldaten im Kampf mit Separatisten“, „Vergessener Krieg im Osten“, so lauten oft die Schlagzeilen.
Tatsächlich hat der seit mehr als sieben Jahren andauernde Krieg das Leben vieler gewöhnlicher Ukrainer ein für alle Mal verändert. Junge Soldaten wurden getötet und verwundet, Familien geteilt, etwa 1,5 Millionen Binnenvertriebene mussten ihre Heimatregionen verlassen. Von den kaum kalkulierbaren wirtschaftlichen Verlusten für das Land ganz zu schweigen. Man schätzt die Kosten des Krieges zwischen zehn Prozent des BIP bis eventuell sogar auf 15 Prozent des BIP in den Jahren 2013–2017. Zwar kann man der Berichterstattung über die Fakten und über die Auswirkungen des Krieges nicht widersprechen, aber dennoch gibt es eine andere Seite des Krieges, die die Medien meistens übersehen. Überraschenderweise ist es eine positive.
Der Krieg als Katalysator
„Obwohl der russische Präsident versucht hat, die Ukraine zu zerstören, hat Putin paradoxerweise dazu beigetragen, sie neu zu erfinden.“ Mit dieser Erklärung artikuliert der britische Wissenschaftler Andrew Wilson eine vollkommen andere Interpretation des Krieges.
Seit der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 war die ukrainische Identität nicht eindeutig definiert und ihre geopolitischen Interessen unbestimmt. Obwohl es in der Ukraine keine „Restalinisierung“ wie in Russland gab, vollzog sich der Prozess der Dekommunisierung sehr langsam. Dies änderte sich erst mit dem Ausbruch des Krieges im Jahr 2014. Ironischerweise betrachtet Wilson Putin zu Recht als unbeabsichtigten „Nationen-Erbauer“ und Schöpfer der modernen ukrainischen Geschichte.
Eine der wichtigsten Entwicklungen in der Zeit der Unabhängigkeit war ein gemeinsames Verständnis des „Holodomor“, der „Tötung durch Hunger“, die unter Stalin den Ukrainern zugefügt wurde. Sie wurde von den meisten Ukrainern als Völkermord angesehen, unabhängig von der Region, in der sie lebten. Doch die Regionen wurden auch immer wieder künstlich in West, Süd und Ost unterteilt. Diese Spaltungen wurden von ukrainischen, mit Russland verbündeten Politikern genutzt und verschärft. Zu diesen auferlegten Unterschieden kamen die weiterhin zweideutigen geopolitischen Interessen des Staates hinzu, die größtenteils vom „östlichen Nachbarn“ diktiert wurden.
Vor 2013 versuchten ukrainische Präsidenten, ein geopolitisches Gleichgewicht zu erreichen, indem sie den Staat zwischen Russland und dem Westen hin und her bewegten. Obwohl brutal und verheerend, besteht nun aber die wahre Ironie des Krieges darin, dass er unbeabsichtigt positive Konsequenzen für die kulturelle und politische Identität der Ukraine sowie für die geopolitischen Entwicklungen des Staates mit sich brachte.
Die Ukrainer mussten sich entscheiden
Millionen Ukrainer waren gezwungen, ihre politischen Einstellungen zu überdenken. Nie zuvor in der ukrainischen Geschichte gab es eine so überwältigende Mehrheit von Bürgern, die die Mitgliedschaft des Staates sowohl in der NATO als auch in der EU unterstützen würden. Darüber hinaus hatte das ukrainische Parlament seit 2014 die größte pro-westliche Koalition, die es in der Geschichte jemals gegeben hat. Pro-russische Abgeordnete waren und sind eine Minderheit und die „Partei der Regionen“ sowie die „Kommunistische Partei“ sind von der politischen Bühne verschwunden.
Die andere positive Entwicklung infolge des Konflikts mit Russland ist im ukrainischen Sicherheitssektor zu finden. Die aggressiven Aktionen des russischen Präsidenten haben die ukrainische Regierungen veranlasst, ihre Investitionen in die nationalen Streitkräfte zu überdenken. Heute ist die ukrainische Armee nach der russischen und französischen Armee die drittgrößte in Europa. Jährlich werden sechs Prozent des BIP in das Militär investiert.
Abgesehen von den geopolitischen Entwicklungen waren die wichtigsten Veränderungen diejenigen, die in den Köpfen der Menschen stattfanden. Der Plan eines „Novorossiya“ war Putins größte geopolitische Fehleinschätzung. Er war fest davon überzeugt, dass die meisten russischsprachigen Ukrainer Russland unterstützen würden, was sich jedoch nicht als richtig herausstellte.
Im Gegenteil, Millionen russischsprachiger Ukrainer unterstützten die territoriale Integrität des Landes.
Darüber hinaus kam eine große Anzahl von Soldaten, die die Ukraine im Osten schützten, aus den russischsprachigen Regionen und Städten wie beispielsweise Dnipro. Man konnte früher niemals so viele ukrainische Flaggen auf den Straßen oder auf den Häusern sehen wie heute, egal, welche Region man bereist. Weiterhin gewann die ukrainisch-orthodoxe Kirche ihre Eigenständigkeit, sie erhielt 2018 eine Autozephalie, die sie vom Moskauer Patriarchat trennte.
Der Krieg vereinte die Ukrainer
Der Krieg trug dazu bei, Ukrainer aus dem ganzen Land zu vereinen, was das Gegenteil von dem war, was Putin in der Ukraine erreichen wollte. Ohne die massive Selbstorganisation der Ukrainer, einschließlich der Diaspora, wäre dieser Krieg höchstwahrscheinlich verloren gegangen.
Der amerikanische Politikwissenschaftler Timothy Snyder argumentierte, dass „die Nation nicht aufgrund der Geschichte aufgebaut wird, sondern aufgrund der gemeinsamen Handlungen und Erfahrungen“.
Man kann deutlich sehen, dass sich die politische Atmosphäre in der Ukraine in den letzten Jahren verändert hat. Wichtig ist, dass der Krieg wesentlich zur Frage der Selbstidentifikation von Millionen Ukrainern beigetragen hat.
90 Prozent der Menschen betrachten sich jetzt als Ukrainer.
Die überwiegende Mehrheit der Parteien unterstützt die Integration des Landes in die NATO und in die EU, wobei beide Ziele in der ukrainischen Verfassung verankert sind. Paradoxerweise wäre dies ohne den Krieg wahrscheinlich nicht geschehen.
Auch Selenskyj ist kein Anti-Ukrainer
Obwohl viele Menschen in der Ukraine sehr skeptisch gegenüber dem politischen Neuling Wolodymyr Selenskyj waren, zeigen die neuesten Entwicklungen, dass sich mit ihm der Trend der Orientierung nach Westen fortsetzen und möglicherweise sogar beschleunigen wird. Zu Beginn seiner Präsidentschaft bezeichneten einige Kritiker Selenskyj als pro-russischen, anti-ukrainischen Politiker, der schlechte Kompromisse mit Russland suchen werde. Kurz nachdem er Präsident geworden war, förderte er diese Zweifel, indem er etwas unentschlossen wirkte und offenbar glaubte, im Donbas sehr schnell eine friedliche Lösung erreichen zu können.
Aber nach fast zwei Jahren seiner Präsidentschaft scheint er endlich seine Zähne zu zeigen und die Irreversibilität der pro-westlichen Flugbahn des Landes zu erkennen, keine Kompromisse mit Russland in irgendeiner politischen Angelegenheit einzugehen und vor allem ein echter Führer zu werden, der keine Angst hat, die höchste politische Verantwortung zu übernehmen, auf die viele Ukrainer gewartet haben. Nur wenige hatten damit gerechnet, dass der Präsident eine Reihe von pro-russischen Politikern mit ihrem Führer Medwedtschuk sanktionieren werde. Dieser hatte seine Medien seit vielen Jahren genutzt, um die ukrainische Gesellschaft zu polarisieren und zu vergiften, indem er Mythen über ukrainische Nationalisten und russische Erzählungen über den sogenannten Bürgerkrieg verbreiten ließ.
Die Entwicklung eines nationalen Bewusstseins und der Nationenbildung ist ein langfristiger Prozess. Für die Ukraine mit ihren 40 Millionen Einwohnern ist es heute jedoch offensichtlich, dass das Land endlich den richtigen Weg eingeschlagen hat, der seine Eigenständigkeit und Unabhängigkeit auch in den kommenden Jahrzehnten für künftige Generationen von Ukrainern sichert. Dank Russlands aggressivem Verhalten, der Annexion der Krim und des Krieges im Donbass mit seinen Opfern und Verlusten war die ukrainische Nation noch nie so vereint wie heute.
Das Essay erschien in einer englischen Fassung bei Lossi36.
Gefördert durch:
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.