Crimea lost? Vier Bücher gegen das Vergessen
Geschichten aus dem Alltag, ein längst vergessener Krieg, die Heimkehr der Krimtataren und ein historisches Standardwerk – Simone Brunner hat für „Ukraine verstehen“ vier Bücher über die Halbinsel Krim rezensiert.
Heute ist sie aus den Schlagzeilen verschwunden. Doch es war die Krim, mit der 2014 der Konflikt mit Russland begann: In den Wirren nach der Maidan-Revolution rissen sich russische Soldaten ohne Hoheitsabzeichen („grüne Männchen“) die ukrainische Halbinsel unter den Nagel, am 18. März 2014 wurde der russische Völkerrechtsbruch vollzogen, als die Krim in die Russländische Föderation aufgenommen wurde. Ein Anspruch, den Putin historisch legitimierte, der die Krim als Wiege des slawisch-orthodoxen Christentums sogar mit dem Tempelberg in Jerusalem verglich, als besonderer religiöser Erinnerungsraum der Russen. In Moskau ließ sich Putin als „Sammler russischer Erde“ feiern, während in der Ostukraine schon der Krieg herandräute.
Doch war die Krim „schon immer russisch“, wie die Krim-Annexion danach, auch in deutschen Talkshows, immer wieder gerechtfertig wurde? Wohl kaum, wie die Historikerin Kerstin Jobst in ihrer „Geschichte der Krim“ schreibt. Von der antiken Geschichte „Tauriens“ über den vergessenen, wie verlustreichen Krimkrieg bis hin zum Rückkehrroman der Krimtataren: Vier Buchtipps über die ukrainische Halbinsel, die mit beliebten Mythen aufräumen.
Kerstin Jobst: „Geschichte der Krim: Iphigenie und Putin auf Tauris“
Ein historisches Standardwerk über die Krim und ihre (russische) Kolonialgeschichte
Als ein Ort in „Randlage“, bei dem es nie so sehr um die Fakten, als vielmehr um die Phantasie ging, beschreibt die deutsche Historikerin Kerstin Jobst die Krim: vom hellenistische Taurien, wohin Agamemnons Tochter Iphigenie entführt worden war, um sie vor der Opferung durch ihren Vater zu retten, über die unheilvolle „Gotenland“-Phantasie Adolf Hitlers bis zum „Allunions-Sanatorium“, als das Lenin die Halbinsel bezeichnet haben soll. Eine Schnittstelle zwischen Imperien und Nomaden, zwischen Christentum und Islam.
Doch wie „russisch“ ist die Krim? Die Liste der Ethnien, die hier, abgesehen von den Slawen lebten, ist lang. Skythen, Römer, Griechen, Goten, Genueser, Juden, Armenier, Mongolen und Tataren. „Ethnische, kulturelle und religiöse Vielgestaltigkeit muss über Zeitläufe als ein konstituierendes Kennzeichen des Schwarzmeerraumes und damit auch der Krim gelten“, schreibt Jobst. Erst durch Stalins Deportationen der Krimtataren im Zweiten Weltkrieg und die gezielte Ansiedelung russischer und ukrainischer Siedler wurde die Halbinsel ethnisch homogenisiert.
Jobsts Buch ist ein historisches Standardwerk über die Krim. Ein Werk, nahe an Originaldokumenten, Reiseberichten, Tagebüchern, die den Kapiteln immer wieder vorangestellt werden. Das macht die Lektüre etwas sperrig, zeigt aber auch präzise und anschaulich, wie die Krim von Zeitgenossen gesehen wurde. Man verrät nicht zu viel, wenn man hier den denkwürdigen letzten Satz zitiert, der wiederum ein Zitat ihres Kollegen Uwe Halbach ist: „In Wirklichkeit gehört diese Region so selbstverständlich zu Russland wie Algerien zu Frankreich gehört – nämlich kolonialgeschichtlich.“
Erschienen 2020 bei De Gruyter Oldenbourg für 39,95 Euro.
Lily Hyde: „Dream Land. One girl’s struggle to find her true home“
Auf der Suche nach der alten Heimat. Der Rückkehrroman der Krimtataren
Na, wie schmeckt die Luft des Heimatlandes? wird Safi von einem Freund der Familie gefragt. „Heimatland“, ein eigenartiges Wort, findet Safi nur. Sie ist zwölf Jahre alt, Krimtatarin und gerade mit ihrer Familie aus dem usbekischen Samarkand auf die Halbinsel Krim gezogen. Es ist 1992, die Sowjetunion ist zerfallen, und einige krimtatarische Familien, die 1944 unter Stalin nach Zentralasien deportiert wurden, wagen den Schritt zurück in die alte Heimat, die inzwischen in der unabhängigen Ukraine liegt.
Es ist eine alte Heimat, die Safi vor allem aus den schillernden Erzählungen ihres Großvaters, dem „Khartbaba“, kennt. Doch schnell stellt sich heraus, wie sehr sich die Krim seither verändert hat. Die alten tatarischen Dörfer sind nur noch Ruinen, die krimtatarische Sprache ist auf den Straßen, wo man nur noch Russisch spricht, längst verstummt. Safi und ihre Familie werden nicht mit offenen Armen empfangen, sondern in eine Zeltstadt gesteckt. Ein besonders schlechtes Omen: Aus der alten Koranschule in der alten Tataren-Hauptstadt Bachtschyssaraj ist eine psychiatrische Anstalt geworden. „Nichts auf der Krim war so, wie Großvater es gesagt hatte“, sagt Safi bitter. Als hätte der Großvater diesen Ort nur geträumt. Die Krim – ein Traumland?
Die britische Schriftstellerin Lily Hyde beschreibt die Rückkehr der Krimtataren, die sich in der Fremde wieder ein neues Leben aufbauen müssen – gegen alle Widrigkeiten, wie Rassismus, Bürokratie und selbst das Wetter. Das Buch wurde 2011 auf Englisch veröffentlicht, noch Jahre, bevor die russische Krim-Annexion wieder viele Krimtataren in die innere oder äußere Emigration drängen sollte.
Erschienen 2013 bei Walker Books, ab 6,50 Euro.
Oleg Senzow: „Leben. Geschichten“
Acht Geschichten aus der Kindheit: Der talentierte Herr Senzow
Was ist eine glückliche Kindheit? Hell muss sie sein, schreibt Oleg Senzow. „Davon ging dieses Licht aus, das für immer aus dir leuchten wird, egal, was später kommt. Danach. Nach der Kindheit.“ Die Weltöffentlichkeit lernte diesen Senzow nach der Krim-Annexion als einen bullig untersetzten und ruhigen Mann kennern, der hinter Gitterstäben eines russischen Gerichts sitzt und wegen „Terrorismus“ zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde. 2014 war er in Simferopol verhaftet worden. Fünf Jahre verbrachte er in russischen Gefängnissen, 2019 kam er frei.
Senzow ist nicht nur Filmregisseur, sondern auch Schriftsteller. Im Vorjahr, als Senzow noch hinter Gittern war, sind acht seiner autobiografische Geschichten auf Deutsch erschienen. Alltagsgeschichten über das Leben, Verlust, Freundschaften, Phantasie und Erwachsenwerden, von der kleinen Schummelei in der Schule über seinen Schäferhund bis zur Mandeloperation, in denen aber der spätere Künstler, Maidan-Aktivist und politische Gefangene schon immer mehr an Konturen gewinnt. Es erzählt über eine Kindheit auf der Krim, über das Dorfleben, den Zerfall eines Imperiums. Ein Buch voller Herz, brutaler Ehrlichkeit und existenzieller Traurigkeit.
Was er in der Schule gelernt habe? „Nicht aufgeben und sich treu bleiben. Nicht aufgeben. Sich stets treu bleiben“, schreibt Senzow. „Furchtlos zu sein ist eine seltene Gabe“, schreibt der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow im Vorwort zum Buch. „Darin beschrieben ist seine Persönlichkeitswerdung – also wie er zu dem furchtlosen Menschen wurde, der er heute ist.“
Erschienen 2019 bei Voland & Quist für 16 Euro.
Orlando Figes: „Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug“
Ein opulentes Werk über den tragischen Vorläufer der Weltkriege, der in Vergessenheit geraten ist
Er gilt als der Vorbote der beiden großen Weltkriege: der Krimkrieg, von 1853 bis 1856. Ein Krieg, der auch das alte Gleichgewicht auf dem Kontinent durcheinanderwarf. Der britische Historiker Orlando Figes hat sich seiner angenommen. Ein Buch, das mitten hineinführt in europäische Großmachtpolitik des 19. Jahrhunderts.
Es war ein damals beispiellos brutaler Krieg: Eine Million Soldaten starben in diesem Gemetzel, es war der erste mit industrieller Technik ausgefochtene moderne Krieg. „Die Belagerung von Sewastopol nahm den industrialisierten Schützengrabenkrieg vorweg“, schreibt Figes. Und – wie Figes nicht müde wird, zu betonen – „der letzte Kreuzzug“, der seinen Ausgang in Jerusalem fand, wo sowohl muslimische, katholische und orthodoxe Gläubige um ihre Privilegien rangen. Und die Krim? „An einer tiefen historischen Bruchlinie gelegen, welche die Christenheit von der muslimischen Welt der Osmanen und der turksprachigen Stämme trennte, war die Krim unablässig umkämpft und Schauplatz zahlreicher Kriege“, schreibt er.
Figes’ Stil besticht, wie schon in seinen Vorgängerbüchern („Die Tragödie eines Volkes“ zur Russischen Revolution) dadurch, historische Analyse mit anschaulichem Storytelling zu einem breiten, historischen Kaleidoskop zu verbinden, in denen so schillernde Figuren wie die britische Krankenschwester Florence Nightingale oder der russische Schriftsteller Lew Tolstoj auftreten, der an der Belagerung von Sewastopol teilnahm.
Ein opulentes Werk über einen grausamen, tragischen und verlustreichen Krieg, der völlig aus dem Bewusstsein verschwunden ist, weil alles, was danach kam, nur noch grausamer, noch verlustreicher und tragischer sein sollte.
Erschienen 2011 bei Piper für 14,99 Euro.
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