Mehr als Sport – die Ukraine bei der Fußball-Europameisterschaft
Trotz der hohen Niederlage gegen England hat die ukrainische Mannschaft gezeigt, dass Ukrainer auch im Sport leidenschaftlich für ihr Land kämpfen. Besonders stolz können sie auch auf ihre Fairness sein. Von Christoph Brumme
Für Ukrainer sind Erfolge bei großen Fußballturnieren eine ziemlich seltene Erfahrung. Sie spielen leider nicht so effektiv wie die Deutschen, nicht wie eine Maschine. Die Deutschen haben meistens einen Plan, und es passieren ihnen nur wenige Fehler, fürchten Ukrainer.
„Der Einzelne kämpft bei ihnen für die Interessen aller. Er opfert sich und notfalls seine Gesundheit für die Mannschaft“, belehrt mich im Biergarten ein ukrainischer Fan. „Unsere Ukrainer spielen egoistischer und ängstlicher.“
Deutsches Uhrwerk mit fein aufeinander abgestimmten Aktionen. Idealisierte deutsche Ordnung, ein Mythos. Gefühllos, aber effektiv. Eiskalt, mit Nerven aus Stahl, so das Klischee. Dabei ist der prozentuale Anteil der angekommenen Pässe oft gar nicht höher als jener der Ukrainer. Doch Klischees helfen bei der Orientierung.
Die Faktoren Glück und Zufall können die Deutschen allerdings auch nicht ausschalten, manchmal fehlen halt ein paar Zentimeter zum Sieg. Während Millionen Experten die Ursachen für das Ausscheiden aus dem Turnier erörtern, wehte vielleicht nur der Wind einige Male zu stark.
Die Ukrainer dagegen brauchten unheimlich viel Glück, damit sie diesmal zum ersten Mal in der Geschichte die Gruppenphase einer Europameisterschaft überstehen konnten. Gegen Nord-Mazedonien (zwei Millionen Einwohner) hatte sie mit Ach und Krach mit einem Tor Unterschied gewonnen. Gegen Österreich hätte man glauben können, die ukrainischen Spieler seien im Durchschnitt zehn Jahre älter. Ideenlos, mutlos, verträumt.
Der größte internationale Erfolg war bisher das Erreichen des Viertelfinales bei der Weltmeisterschaft im Jahre 2006, nachdem man 1:0 gegen Tunesien und 4:0 gegen Saudi-Arabien gewonnen (und gegen Spanien 0:4 verloren) hatte.
Ehrlich gesagt, hier in der ukrainischen Provinz [Poltawa – Anm. d. Red.] hatten wir das Ausscheiden der Mannschaft schon nach der Niederlage gegen Österreich betrauert und begossen. Weil wir geglaubt hatten, nur der Gruppenerste und der Gruppenzweite würden weiterkommen. Aber nein, für Fußball braucht man auch Mathematik, auch die besten Drittplatzierten kamen weiter.
Fairste Mannschaft des Turniers ?
Somit hatte die Ukraine weiterhin die Chance, zwei Titel zu erobern. Wobei man auf den wichtigeren nicht ernsthaft hoffen konnte. Aber es gibt ja noch den Fair-play-Titel! In fünf Spielen haben die Ukrainer nur vier gelbe, keine rote Karte bekommen. Kein Team hat weniger Fouls begangen, 7,8 pro Spiel.‘
Vielleicht aber hätte man aggressiver spielen sollen?
Wir Laien vor dem Fernseher machten den Trainer dafür verantwortlich, dass die Mannschaft nicht leidenschaftlicher kämpfte? Die Fußball-Legende Andrij Schewschenko ist immerhin der letzte ukrainische Spieler, der auch westliches Publikum jahrelang zum Jubeln und Feiern animierte. Bei AC Mailand hat er etliche Tore geschossen, er galt auch mal als bester Stürmer der Welt.
Der Star der Ukrainer sei der Trainer, behaupten internationale Medien sogar, beispielsweise die deutsche „Sportschau“.
Im ukrainischen Biergarten urteilt man anfangs skeptischer über ihn. Man hört den Trainer in Interviews nur Englisch oder Russisch sprechen. Kein Ukrainisch. Liebt er die Ukraine mit heißem Herzen? Vielleicht ist er kein großer Motivator? Aber die Qualifikation hat die Mannschaft doch ungeschlagen gewonnen hat, immerhin auch gegen Gegner wie Portugal?
Nach dem Sieg gegen Schweden ruft Andrij Schewschenko den Namen seines Landes mit solcher Leidenschaft und Lautstärke zusammen mit den Fans im Stadion, dass eigentlich niemand mehr an seiner Heimatliebe zweifeln kann.
Auch Artjom Dovbyk, der Schütze des Siegtreffers gegen Schweden, sprach kurz nach dem Spiel Russisch. Doch sein Vater lässt dementieren, dass der Sohn in die russische Meisterschaft wechseln wird. „Er spricht zu Hause Ukrainisch“, berichtet sein Vater. Artjom wiederum erklärt zusammen mit seiner Frau, er werde glücklich sein, wenn die Ukrainer anfangen, ihre Söhne zu seinen Ehren nach ihm zu benennen.
Fußball für die Einheit des Landes und für die ganze Welt
Wie wenig man den Ukrainern international zutraut, zeigt ihr geringer „Kaderwert “ an den Wettbörsen vor dem Spiel gegen England. Knapp zweihundert Millionen Euro. Das englische Team dagegen wird auf 1,27 Milliarde Euro geschätzt. Im FIFA-Rating nimmt die Ukraine den 24. Platz ein.
Die Hälfte der ukrainischen Spieler kommen aus den beiden stärksten Club-Mannschaften Dynamo Kyjiw und Schachtjor Donezk. Letzterer Club spielt bekanntlich lieber in der freien Ukraine als in seiner besetzten Heimatstadt.
Siege der ukrainischen Fußballnationalmannschaft vereinen das Land, erklärt bei einer Sitzung des Kabinetts der Premierminister Schmyhal. „Solche Dinge motivieren.“ Das Ministerkabinett versammelte sich bei diesem Treffen in den „skandalösen“ T‑Shirts der Nationalmannschaft. Auf diesen ist die ganze Ukraine abgebildet, auch die Krim. Eine friedliche Demonstration vor der Kulisse Europas. Natürlich hatten russische Offizielle dagegen protestiert, wie auch gegen die aufgenähten Slogans „Ruhm der Ukraine – Ruhm den Helden“. Diese seien ja politische Botschaften, insbesondere der Ausruf „Ruhm den Helden“, das widerspreche den Statuen. Tatsächlich durfte jener dann auch nicht gezeigt werden. Aber ansonsten wurden die Trikots genehmigt, und die Ukraine konnte bei diesem Turnier ihre international anerkannten Grenzen zeigen und zumindest symbolisch ungeteilt bleiben. Eine tiefe Genugtuung.
Von der UEFA hieß es dazu: „In Anbetracht der Tatsache, dass die Resolution 68/262 der Generalversammlung der Vereinten Nationen, die von den Mitgliedsstaaten weitgehend angenommen wurde, die territorialen Grenzen als grob durch das Design dargestellt anerkennt, verlangt die UEFA keine Änderungen dieses Designelements.“
Die lauteste Genugtuung wird mit einem Lied zum Ausdruck gebracht. Mit dem Welt-Hit „Pu-huilo“.
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Aus dem jahrhundertealten Genre der Spottgesänge. Man versteht seinen Text auch ohne Übersetzung wohl in allen Sprachen. Kein Lied singen ukrainische Fans lieber. Ein besonderer Genuss ist das für sie, wenn dieses Spiel auch live im Fernsehen in Russland gesendet wird. Dann können die Menschen in Russland mal hören, wie man in der Ukraine in Wirklichkeit über den Mann im Kreml denkt. Dessen Berater hatten ja erst vor wenigen Wochen behauptet, die Ukraine existiert nicht wirklich oder es drohe ihr baldiger „Anfang vom Ende“. Und nun ist sie immer noch da, fröhlich und siegreich. Während Russland nur peinliche Ergebnisse ablieferte und Gruppenletzter wurde und die Hüte voll bekam, dass es nur so krachte. Vom kleinen Dänemark wurde man mit Vier zu Eins nach Hause geschickt. Nur ein Tor haben sie in drei Spielen geschafft. Fußball zum Einschlafen wurde gezeigt, ohne Strahlkraft und Spielfreude.
Und es gibt sie doch
Eine Achterbahnfahrt der Gefühle legten stattdessen die Ukrainer hin. Dass man gegen England chancenlos war und 0:4 verlor ist zwar traurig. Aber wahrscheinlich hätte man gegen niemand lieber verloren. Denn kürzlich erst haben die Briten die Ukrainer in einer großartigen Weise unterstützt. Mit ihrem Schiff „Defender“ haben sie gezeigt, dass die Krim nach wie vor und für alle Zeiten zur Ukraine gehört. Das Schiff fuhr vor der Krim durch von Russland beanspruchte Seegebiete fuhr, welche aber nach internationalem Recht der Ukraine gehören.
Außerdem hat selbst die große Fußball-Nation England seit 55 Jahren keinen großen Titel gewinnen können. Und bei dieser EM blieb die englische Mannschaft auch im fünften Spiel ohne Gegentor. Die Ukrainer haben also gegen einen würdigen Gegner verloren.
Mit ihrer Fairness und ihren skandalfreien Auftritten hat die ukrainische Fußballnationalmannschaft jedenfalls viel für das Image der Ukraine getan. Das Land konnte vor weltweitem Publikum seine Identität behaupten und festigen. Dies ist insbesondere in einer Zeit, in der Putin-Russland die Existenz der Ukraine in Abrede stellt, wohltuend und wichtig.
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