Demo­kra­tie ist keine Hexerei

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In Zeiten des Krieges freie Wahlen abzu­hal­ten und lei­den­schaft­li­che Debat­ten über die besten Ent­wick­lungs­mög­lich­kei­ten zu führen, das sind ein­drucks­volle Beweise für Sou­ve­rä­ni­tät und Gelas­sen­heit. Chris­toph Brumme kom­men­tiert den Wahl­kampf in der Ukraine

Vor einiger Zeit besuchte ich eine Wahr­sa­ge­rin, eine soge­nannte weiße Hexe. Meine Frau hatte einige Male mit ihr gespro­chen und mich neu­gie­rig gemacht. Ein reicher Poli­ti­ker hatte diese Mar­ga­rita besucht und ihr gebeich­tet, dass er nicht mehr schla­fen könne. Sollte Wolo­dymyr Selen­skyj Prä­si­dent werden, so fürchte er bestraft zu werden. Nur Selen­skyj traue er von den favo­ri­sier­ten Prä­si­dent­schafts­kan­di­da­ten zu, seine Ver­spre­chen wahr zu machen und kor­rupte Beamte ankla­gen zu lassen. Die gute Hexe Mar­ga­rita empfahl ihm, von seinen acht geklau­ten Häusern vier an die frü­he­ren Besit­zer zurück­zu­ge­ben, dann bekäme er auch ein ruhiges Gewis­sen und könne wieder schlafen.

Portrait von Christoph Brumme

Chris­toph Brumme ver­fasst Romane und Repor­ta­gen. Seit dem Früh­jahr 2016 lebt er in der ost­ukrai­ni­schen Stadt Poltawa.

Eine Hexe als Robin Hood, wie inter­es­sant! Ich wollte die Frau inter­viewen und war bereit, mir dafür ein biss­chen Hokus­po­kus gefal­len lassen. Sie behaup­tete während unserer Sitzung, einer meiner besten Freunde benutze mich nur als „Milch­kuh“, die man melken könne. Aber in Wirk­lich­keit lache er hinter meinem Rücken über mich. Tat­säch­lich hatte dieser Freund einige Tage zuvor in der Banja über mich gespot­tet, als er mich außer Hör­weite glaubte. Wer Selen­skyj wähle oder ernst nehme, der sei ein Idiot, so meinte er unter anderem.

In Deutsch­land haben Wahl­pro­gramme der Par­teien oft einen Umfang von 100 oder gar 200 Seiten, wie bei­spiels­weise jetzt das der Grünen Partei zur Euro­pa­wahl. Selen­skyjs Pro­gramm ist fünf Seiten lang, aber niemand seiner Kri­ti­ker, mit denen ich sprach, hatte es gelesen. Immer wieder wurde mir erklärt, dass man solche Pro­gramme nicht ernst nehmen könne. Alle Poli­ti­ker würden sowieso betrü­gen. Der Freund aus der Sauna meinte, für eine Art Schwei­zer Demo­kra­tie, wie sie Selen­skyj wolle, seien die Ukrai­ner zu dumm und viele von ihnen zu leicht käuflich.

Ein anderer Freund for­derte auf Face­book dazu auf, Selen­skyj einen Gewehr­lauf in den Hintern zu schie­ben. Bei manchen Men­schen ist der Hass auf den Komiker offen­bar so stark, dass sie ihre gute Stube ver­ges­sen. Zwei Bekannte vom Militär erzähl­ten mir getrennt von­ein­an­der, die Armee stehe geschlos­sen hinter Poro­schenko und würde einen Wahl­sieg Selen­skyjs nicht akzep­tie­ren. Nun zeigt das Wahl­er­geb­nis, dass beide Kan­di­da­ten etwa gleich viele Stimmen von Armee­an­ge­hö­ri­gen bekom­men haben. Was tun? Auf­ein­an­der ein­prü­geln, sich hassen?

Eine Demo­kra­tie funk­tio­niert nur mit Kom­pro­mis­sen. Sie ist, wie Winston Chur­chill sagte, die schlech­teste aller Regie­rungs­for­men, abge­se­hen von allen anderen. So kann man nur hoffen, dass auch die Selen­skyj-Kri­ti­ker im Falle seiner Wahl zum Prä­si­den­ten das Ergeb­nis akzep­tie­ren werden. Wenn man das Niveau der Kritik an Selen­skyj und den Stil der Argu­mente betrach­tet, muss man aller­dings befürch­ten, dass die ukrai­ni­sche Gesell­schaft den Beginn einer Tra­gö­die erlebt. Selen­skyj wird zwar in fast allen Gebie­ten von jedem dritten Ukrai­ner und in der zweiten Runde vor­aus­sicht­lich von fast jedem zweiten Ukrai­ner unter­stützt. Aber seine Kri­ti­ker und Gegner malen hys­te­risch und ver­zwei­felt den Unter­gang oder das Ende der Ukraine an die Wand. Er werde einen Kom­pro­miss­frie­den mit Russ­land schlie­ßen, das ist die größte Furcht. Dabei hat Selen­skyj schon erklärt, dass er Wla­di­mir Putin erst nach Rück­gabe der okku­pier­ten Gebiete und der Krim treffen werde, also nie. Und man sollte beden­ken, dass Wolo­dymyr Selen­skyj sein Lebens­werk ver­ra­ten würde, würde er seine Ver­spre­chen und sein Pro­gramm  nicht umset­zen. So etwas macht ein ernst­zu­neh­men­der Künst­ler eigent­lich nur unter der Folter.

In der Geschichte ist es nicht das erste Mal, dass eine uner­fah­rene, aber integre Per­sön­lich­keit an die Spitze des Staates oder Gemein­schaft gewählt wird. Václav Havel etwa war Heizer und Schrift­stel­ler, bevor er zum Staats­prä­si­den­ten der Tsche­cho­slo­wa­kei und später der Tsche­chi­schen Repu­blik gewählt wurde. Und er soll seine Sache nicht schlecht gemacht haben.

Unsere Wahr­sa­ge­rin hat pro­phe­zeit, dass Selen­skyj nur ein halbes Jahr regie­ren werde. Dann wird man ihm Böses antun. Aber bis dahin wird er etliche kor­rupte Typen bestraft haben. Denn dass etliche Reiche jetzt fürch­ten, von den gol­de­nen Fleisch­töp­fen ver­trie­ben zu werden und auf Rache sinnen, kann sich Klein Fritz­chen an fünf Fingern abzäh­len. Dass die Intel­lek­tu­el­len sich klüger dünken als das angeb­lich ach so dumme Volk, ist auch nichts Neues. Doch sie sollten nicht ver­ges­sen, dass der Feind nicht schläft. Nur wenn der demo­kra­ti­sche Kom­pro­miss akzep­tiert wird, kann die ukrai­ni­sche Gesell­schaft sich wei­ter­hin fried­lich ent­wi­ckeln. In Zeiten des Krieges freie Wahlen abzu­hal­ten und lei­den­schaft­li­che Debat­ten über die besten Ent­wick­lungs­mög­lich­kei­ten zu führen, das sind beein­dru­ckende Beweise für Sou­ve­rä­ni­tät und Gelas­sen­heit. Diesen Luxus sollten sich die Ukrai­ner wei­ter­hin gönnen.

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