Demokratie ist keine Hexerei
In Zeiten des Krieges freie Wahlen abzuhalten und leidenschaftliche Debatten über die besten Entwicklungsmöglichkeiten zu führen, das sind eindrucksvolle Beweise für Souveränität und Gelassenheit. Christoph Brumme kommentiert den Wahlkampf in der Ukraine
Vor einiger Zeit besuchte ich eine Wahrsagerin, eine sogenannte weiße Hexe. Meine Frau hatte einige Male mit ihr gesprochen und mich neugierig gemacht. Ein reicher Politiker hatte diese Margarita besucht und ihr gebeichtet, dass er nicht mehr schlafen könne. Sollte Wolodymyr Selenskyj Präsident werden, so fürchte er bestraft zu werden. Nur Selenskyj traue er von den favorisierten Präsidentschaftskandidaten zu, seine Versprechen wahr zu machen und korrupte Beamte anklagen zu lassen. Die gute Hexe Margarita empfahl ihm, von seinen acht geklauten Häusern vier an die früheren Besitzer zurückzugeben, dann bekäme er auch ein ruhiges Gewissen und könne wieder schlafen.
Eine Hexe als Robin Hood, wie interessant! Ich wollte die Frau interviewen und war bereit, mir dafür ein bisschen Hokuspokus gefallen lassen. Sie behauptete während unserer Sitzung, einer meiner besten Freunde benutze mich nur als „Milchkuh“, die man melken könne. Aber in Wirklichkeit lache er hinter meinem Rücken über mich. Tatsächlich hatte dieser Freund einige Tage zuvor in der Banja über mich gespottet, als er mich außer Hörweite glaubte. Wer Selenskyj wähle oder ernst nehme, der sei ein Idiot, so meinte er unter anderem.
In Deutschland haben Wahlprogramme der Parteien oft einen Umfang von 100 oder gar 200 Seiten, wie beispielsweise jetzt das der Grünen Partei zur Europawahl. Selenskyjs Programm ist fünf Seiten lang, aber niemand seiner Kritiker, mit denen ich sprach, hatte es gelesen. Immer wieder wurde mir erklärt, dass man solche Programme nicht ernst nehmen könne. Alle Politiker würden sowieso betrügen. Der Freund aus der Sauna meinte, für eine Art Schweizer Demokratie, wie sie Selenskyj wolle, seien die Ukrainer zu dumm und viele von ihnen zu leicht käuflich.
Ein anderer Freund forderte auf Facebook dazu auf, Selenskyj einen Gewehrlauf in den Hintern zu schieben. Bei manchen Menschen ist der Hass auf den Komiker offenbar so stark, dass sie ihre gute Stube vergessen. Zwei Bekannte vom Militär erzählten mir getrennt voneinander, die Armee stehe geschlossen hinter Poroschenko und würde einen Wahlsieg Selenskyjs nicht akzeptieren. Nun zeigt das Wahlergebnis, dass beide Kandidaten etwa gleich viele Stimmen von Armeeangehörigen bekommen haben. Was tun? Aufeinander einprügeln, sich hassen?
Eine Demokratie funktioniert nur mit Kompromissen. Sie ist, wie Winston Churchill sagte, die schlechteste aller Regierungsformen, abgesehen von allen anderen. So kann man nur hoffen, dass auch die Selenskyj-Kritiker im Falle seiner Wahl zum Präsidenten das Ergebnis akzeptieren werden. Wenn man das Niveau der Kritik an Selenskyj und den Stil der Argumente betrachtet, muss man allerdings befürchten, dass die ukrainische Gesellschaft den Beginn einer Tragödie erlebt. Selenskyj wird zwar in fast allen Gebieten von jedem dritten Ukrainer und in der zweiten Runde voraussichtlich von fast jedem zweiten Ukrainer unterstützt. Aber seine Kritiker und Gegner malen hysterisch und verzweifelt den Untergang oder das Ende der Ukraine an die Wand. Er werde einen Kompromissfrieden mit Russland schließen, das ist die größte Furcht. Dabei hat Selenskyj schon erklärt, dass er Wladimir Putin erst nach Rückgabe der okkupierten Gebiete und der Krim treffen werde, also nie. Und man sollte bedenken, dass Wolodymyr Selenskyj sein Lebenswerk verraten würde, würde er seine Versprechen und sein Programm nicht umsetzen. So etwas macht ein ernstzunehmender Künstler eigentlich nur unter der Folter.
In der Geschichte ist es nicht das erste Mal, dass eine unerfahrene, aber integre Persönlichkeit an die Spitze des Staates oder Gemeinschaft gewählt wird. Václav Havel etwa war Heizer und Schriftsteller, bevor er zum Staatspräsidenten der Tschechoslowakei und später der Tschechischen Republik gewählt wurde. Und er soll seine Sache nicht schlecht gemacht haben.
Unsere Wahrsagerin hat prophezeit, dass Selenskyj nur ein halbes Jahr regieren werde. Dann wird man ihm Böses antun. Aber bis dahin wird er etliche korrupte Typen bestraft haben. Denn dass etliche Reiche jetzt fürchten, von den goldenen Fleischtöpfen vertrieben zu werden und auf Rache sinnen, kann sich Klein Fritzchen an fünf Fingern abzählen. Dass die Intellektuellen sich klüger dünken als das angeblich ach so dumme Volk, ist auch nichts Neues. Doch sie sollten nicht vergessen, dass der Feind nicht schläft. Nur wenn der demokratische Kompromiss akzeptiert wird, kann die ukrainische Gesellschaft sich weiterhin friedlich entwickeln. In Zeiten des Krieges freie Wahlen abzuhalten und leidenschaftliche Debatten über die besten Entwicklungsmöglichkeiten zu führen, das sind beeindruckende Beweise für Souveränität und Gelassenheit. Diesen Luxus sollten sich die Ukrainer weiterhin gönnen.
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