Diplo­ma­ti­scher Kon­flikt und active mea­su­res. Putins Geschichts­po­li­tik am 75. Jah­res­tag des Sieges über Nazi-Deutschland

© Alexey von Bock /​/​ Shut­ter­stock

Die Radi­ka­li­sie­rung und Re-Sowje­ti­sie­rung rus­si­scher Geschichts­po­li­tik geht einher mit ihrer ver­stärk­ten Ein­bin­dung in die aggres­sive Außen­po­li­tik des Kremls. Das ist nicht nur für die Ukraine ein immenses Problem. Von Jan Claas Behrends

Das Selbst­ver­ständ­nis des rus­si­schen Staates nach zwei Jahr­zehn­ten Wla­di­mir Putin mani­fes­tiert sich in einem großen Beton­bau am Rande Moskaus. Hier errich­tet das Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­rium eine der größten ortho­do­xen Kirchen der Welt. Diese neue Gar­ni­son­kir­che soll am 9. Mai zum Jah­res­tag des Sieges über Hitler-Deutsch­land eröff­net werden. In der Größe steht sie einer ame­ri­ka­ni­schen Mega-Church nicht nach. Geschichts­po­li­tisch inter­es­sant sind jedoch nicht nur die Größe und damit die immensen Res­sour­cen, die der Neubau ver­schlang, sondern auch ihre innere Aus­ge­stal­tung. Neben der Tri­ni­tät, den Apos­teln und Hei­li­gen, die in einem solchen Bau zu erwar­ten sind, bilden die Mosai­ken in ihrem Inneren auch Joseph Stalin ab, den Sieger des „Großen Vater­län­di­schen Krieges“. Unklar­heit besteht noch darüber, ob auch Putin in diesem patrio­ti­schen Kitsch geehrt werden wird. Doch allein die Dimen­sio­nen des Baus zeigen: Die Kathe­drale ist ein spek­ta­ku­lä­res Projekt rus­si­scher Geschichts­po­li­tik der Ära Putin.

Die neue Gar­ni­son­kir­che illus­triert die Stützen der auto­ri­tä­ren Iden­ti­tät: Das Ver­lan­gen nach his­to­ri­scher Größe, die Indienst­nahme der Reli­gion, die sakrale Natur poli­ti­scher Führer, die Glo­ri­fi­zie­rung des Krieges, die Ver­men­gung von His­to­rie und Gegen­wart sowie die Sinn­stif­tung durch erfun­dene Geschichte. Dabei ist eine Radi­ka­li­sie­rung rus­si­scher Geschichts­po­li­tik zu beob­ach­ten. Noch vor wenigen Jahren war bei­spiels­weise Stalin noch aus dem öffent­li­chen Raum getilgt; die dam­na­tio memo­riae, die Ver­damm­nis der Erin­ne­rung unter den Par­tei­chefs Chruscht­schow und Gor­bat­schow ließ ihn ver­schwin­den. Eine Rück­kehr Stalins in das Pan­theon rus­si­scher Helden stieß lange auf Wider­spruch, die ersten Denk­mä­ler für ihn erschie­nen nach 2014 und wurden eher ver­schämt auf­ge­stellt. Dass dem Dik­ta­tor (sowie Mörder Tau­sen­der Geist­li­cher und Zer­stö­rer rus­si­scher Kirchen) nun aus­ge­rech­net in einer Kirche gehul­digt wird, zeigt, wie ernst­haft der Kreml seine Reha­bi­li­tie­rung betreibt. In Putins Russ­land wird nicht nur der „Sieg über den Faschis­mus“ am 9. Mai gefei­ert, sondern auch der Sieger Stalin. Längst avan­cierte der Tyrann zu einer der Säulen des Kultes des „Großen Vater­län­di­schen Krieges“. In Russ­land ist Kriegs­ge­den­ken wieder an die Ver­eh­rung Stalins gekoppelt.

Geschichte als Waffe einer radi­ka­li­sier­ten Außenpolitik

Diese Radi­ka­li­sie­rung und Re-Sowje­ti­sie­rung rus­si­scher Geschichts­po­li­tik geht einher mit ihrer ver­stärk­ten Ein­bin­dung in die aggres­sive Außen­po­li­tik des Kremls. Das Geden­ken ist Chef­sa­che, Putin selbst ist der oberste His­to­ri­ker seines Landes und bestimmt die Grund­li­nien. Es geht ihm nicht mehr nur um eine Legi­ti­ma­tion im Inneren, sondern auch um rus­si­sche Macht­pro­jek­tio­nen in ganz Europa. Dabei bedient sich die Diplo­ma­tie des Kremls ver­schie­de­ner Kanäle. Das all­jähr­li­che Auf­tre­ten loyaler Motor­rad­gangs („Nacht­wölfe“) auf ihrer Tour durch euro­päi­sche Länder ist nur ein beson­ders aus­ge­fal­le­ner Bestand­teil der Rituale, die den 9. Mai kenn­zeich­nen. Wie in sowje­ti­schen Tagen beginnt in den Staats­me­dien der Count­down auf den hohen Fei­er­tag bereits in den Wochen zuvor. Das Außen­mi­nis­te­rium ent­fal­tet im Konzert mit seinen Bot­schaf­ten umfang­rei­che Akti­vi­tä­ten in den sozia­len Medien. Twitter wird offen­siv genutzt, um das eigene Geschichts­bild dar­zu­stel­len. Durch diese Praxis sind die Grenzen zwi­schen Diplo­ma­tie und Geschichts­po­li­tik ein­ge­ris­sen wurden. In Putins Russ­land, so lässt sich kon­sta­tie­ren, ist Geschichts­po­li­tik Teil des diplo­ma­ti­schen Arse­nals. Gerade in Ost­eu­ropa ver­tei­digt der Kreml eine Erzäh­lung der „Befrei­ung vom Faschis­mus“, in der über die Kosten der anschlie­ßen­den Sowje­ti­sie­rung geschwie­gen wird. Dass Polen oder die bal­ti­schen Staaten oder große Teile der heu­ti­gen Ukraine sich in diesem rus­si­schen Nar­ra­tiv nicht wie­der­fin­den, ist wenig ver­wun­der­lich. Eine Kon­tro­verse wird jedoch nicht gedul­det: Wer dem Kreml wider­spricht wird schnell als „Faschist“ gebrand­markt. Moskau sucht mit seiner Geschichts­po­li­tik gezielt den diplo­ma­ti­schen Kon­flikt; die Erin­ne­rung an den Krieg und die Gewalt­herr­schaft dient zur Eska­la­tion poli­ti­scher Kon­flikte der Gegenwart.

Diplo­ma­ten und Geheim­dienst­ler im Dienste des rus­si­schen Narrativ

Dieses Jahr gibt es Anzei­chen dafür, dass die Ver­tei­di­gung des eigenen Geschichts­bil­des nicht nur von den Mas­sen­me­dien und den Diplo­ma­ten, sondern auch von den gefürch­te­ten silo­viki besorgt wird. Die Ereig­nisse in Prag sollten für Europa eine Warnung sein: In der tsche­chi­schen Metro­pole hatte sich die Stadt­re­gie­rung ent­schie­den, ein Denkmal des sowje­ti­schen Mar­schalls Konjew von seinem Platz zu ent­fer­nen und ins Museum zu über­füh­ren. Dies führte zu den übli­chen außen­po­li­ti­schen Ver­stim­mun­gen und Pro­tes­ten von rus­si­scher Seite. Doch ähnlich wie in Estland im April 2007, blieb es nicht bei einem diplo­ma­ti­schen Schlag­ab­tausch. Damals reagierte Moskau auf die Ent­fer­nung einer sowje­ti­schen Gedenk­stätte in Tallinn mit einem Cyber­an­griff auf die est­ni­sche Infra­struk­tur, der das bal­ti­sche Land lahm­legte. Im Prager Fall sind die Dinge noch nicht end­gül­tig geklärt. Tsche­chi­sche Medien berich­ten jedoch, dass rus­si­sche Agenten gestoppt wurden, bei denen Gift gefun­den wurde und deren Ziel der Prager Bür­ger­meis­ter gewesen sei. Auch wenn die Affäre noch nicht abschlie­ßend geklärt ist, erscheint ein solches Vor­ge­hen vor dem Hin­ter­grund des rus­si­schen Auf­tre­tens in Groß­bri­tan­nien durch­aus plau­si­bel. In jedem Fall zeigt es, wie ernst Moskau die Geschichte des Zweiten Welt­kriegs ist.

Der impe­ria­len Meis­ter­er­zäh­lung Russ­land ent­schei­dend entgegnen

Die Ukraine befin­det sich in diesem Kon­flikt an der Seite Ost­mit­tel­eu­ro­pas. Letzt­lich geht es darum, ob ein Land, das früher zum sowje­ti­schen Macht­be­reich gehörte, nicht nur außen­po­li­tisch, sondern auch in der Geschichts­po­li­tik sou­ve­rän ist. Moskau behält sich vor, der gesam­ten Region seine Erzäh­lung von der „Befrei­ung“ durch die Rote Armee zu oktroy­ie­ren. Lange Zeit blieb die Ukraine im Umgang mit der sowje­ti­schen Geschichte gespal­ten und diese Dif­fe­ren­zen zwi­schen Gene­ra­tio­nen, Regio­nen und Erfah­run­gen werden auch bleiben. Sie sind Teil der Plu­ra­li­tät, die das Land aus­zeich­net. Dennoch dürfte die aggres­si­ven Inter­ven­tio­nen des Kremls, der seit sechs Jahren gegen die Ukraine Krieg führt, nur bei einer Min­der­heit ver­fan­gen. Wichtig bleibt es, dass in die Ukraine und Ost­mit­tel­eu­ropa die rus­si­schen Nar­ra­tive nicht nur atta­ckiert, sondern gerade in der Plu­ra­li­tät der eigenen Erfah­run­gen ihre Kraft sieht. Impe­riale Meis­ter­er­zäh­lun­gen sollte nicht durch natio­nale ersetzt werden; der geschichts­po­li­ti­schen Aggres­sion sollte viel­mehr der fun­dierte Dialog über die gemein­same His­to­rie ent­ge­gen­ge­setzt werden. Dazu wäre es wün­schens­wert, wenn der Streit aus der Diplo­ma­tie in die Zivil­ge­sell­schaft und Wis­sen­schaft zurück­kehrt. Für die Politik gibt es die Mög­lich­keit, Begeg­nun­gen, Dialog, Publi­ka­tio­nen und gemein­same For­schung offen­si­ver als bisher zu fördern.

Geschichts­po­li­tik als Teil des klan­des­ti­nen Krieges Russ­lands gegen den Westen

Sowohl eine offen­sive Geschichts­po­li­tik als auch die geheim­dienst­li­che Ein­fluss­nahme in anderen Staaten (active mea­su­res) sind sowje­ti­sche Tra­di­tio­nen, die von Putins Russ­land auf­ge­nom­men und fort­ge­setzt werden. Dies zeigt sich seit 2014 im Krieg Russ­lands gegen die Ukraine. Doch eine Ver­bin­dung dieser beiden Tak­ti­ken gegen ein NATO-Land wie Tsche­chien bedeu­tete eine weitere Eska­la­tion des Mos­kauer Vor­ge­hens. Es rückt die Geschichts­po­li­tik in den Dunst­kreis des klan­des­ti­nen Krieges gegen den Westen. Lange Zeit schien es ange­mes­sen, zu argu­men­tie­ren, dass die euro­päi­sche Diplo­ma­tie Russ­lands aggres­sive Geschichts­po­li­tik am besten igno­rie­ren sollte. Doch mitt­ler­weile stellt sich für die Staaten der Euro­päi­schen Union und die Ukraine die Frage, wie man kon­zer­tiert und stra­te­gisch auf die Mos­kauer Pro­vo­ka­tio­nen reagiert. Dies wird auch in Zukunft an den großen Jah­res­ta­gen euro­päi­scher Geschichte von Bedeu­tung bleiben.

In diesen Tagen zeigt sich jedoch auch, dass die geschichts­po­li­ti­schen Offen­si­ven des Kremls an Grenzen stoßen. Wegen der Corona-Pan­de­mie musste die Mili­tär­pa­rade zum „Tag des Sieges“ auf dem Roten Platz abge­sagt werden. COVID-19 macht auch vor den Sol­da­ten der rus­si­schen Streit­kräfte nicht halt. Es wird sich zeigen, inwie­weit die Pan­de­mie mit­tel­fris­tig auch die Politik des Kremls beein­flusst. Diese Atem­pause sollte die Euro­päi­sche Union nutzen, um sich auf ihre eigenen Werte zu besin­nen: den fak­ten­ba­sier­ten Dialog, die freie Wis­sen­schaft und For­schung, aber auch die klare Zurück­wei­sung von Mani­pu­la­tio­nen und fake history.

Brüssel und Berlin dürfen das his­to­ri­sche Geden­ken nicht den spin doctors des Kremls über­las­sen. Mehr denn je brau­chen Europa und Deutsch­land ihre eigenen Symbole, Rituale und Nar­ra­tive; die Legi­ti­ma­tion durch Geden­ken dürfen wir nicht auto­ri­tä­ren Staaten über­las­sen. Gleich­zei­tig handelt es sich um ein schwie­ri­ges Unter­fan­gen, denn Plu­ra­li­tät und Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät sind unsere Stärken, während Moskau auf seine ein­fa­chen und ein­sei­ti­gen Nar­ra­tive setzt.

Textende

Portrait von Jan Claas Behrends

Jan Claas Beh­rends ist Pro­fes­sor an der Europa-Uni­ver­si­tät Via­drina und His­to­ri­ker am Zentrum für Zeit­his­to­ri­sche For­schung in Potsdam.

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