Diplomatischer Konflikt und active measures. Putins Geschichtspolitik am 75. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland
Die Radikalisierung und Re-Sowjetisierung russischer Geschichtspolitik geht einher mit ihrer verstärkten Einbindung in die aggressive Außenpolitik des Kremls. Das ist nicht nur für die Ukraine ein immenses Problem. Von Jan Claas Behrends
Das Selbstverständnis des russischen Staates nach zwei Jahrzehnten Wladimir Putin manifestiert sich in einem großen Betonbau am Rande Moskaus. Hier errichtet das Verteidigungsministerium eine der größten orthodoxen Kirchen der Welt. Diese neue Garnisonkirche soll am 9. Mai zum Jahrestag des Sieges über Hitler-Deutschland eröffnet werden. In der Größe steht sie einer amerikanischen Mega-Church nicht nach. Geschichtspolitisch interessant sind jedoch nicht nur die Größe und damit die immensen Ressourcen, die der Neubau verschlang, sondern auch ihre innere Ausgestaltung. Neben der Trinität, den Aposteln und Heiligen, die in einem solchen Bau zu erwarten sind, bilden die Mosaiken in ihrem Inneren auch Joseph Stalin ab, den Sieger des „Großen Vaterländischen Krieges“. Unklarheit besteht noch darüber, ob auch Putin in diesem patriotischen Kitsch geehrt werden wird. Doch allein die Dimensionen des Baus zeigen: Die Kathedrale ist ein spektakuläres Projekt russischer Geschichtspolitik der Ära Putin.
Die neue Garnisonkirche illustriert die Stützen der autoritären Identität: Das Verlangen nach historischer Größe, die Indienstnahme der Religion, die sakrale Natur politischer Führer, die Glorifizierung des Krieges, die Vermengung von Historie und Gegenwart sowie die Sinnstiftung durch erfundene Geschichte. Dabei ist eine Radikalisierung russischer Geschichtspolitik zu beobachten. Noch vor wenigen Jahren war beispielsweise Stalin noch aus dem öffentlichen Raum getilgt; die damnatio memoriae, die Verdammnis der Erinnerung unter den Parteichefs Chruschtschow und Gorbatschow ließ ihn verschwinden. Eine Rückkehr Stalins in das Pantheon russischer Helden stieß lange auf Widerspruch, die ersten Denkmäler für ihn erschienen nach 2014 und wurden eher verschämt aufgestellt. Dass dem Diktator (sowie Mörder Tausender Geistlicher und Zerstörer russischer Kirchen) nun ausgerechnet in einer Kirche gehuldigt wird, zeigt, wie ernsthaft der Kreml seine Rehabilitierung betreibt. In Putins Russland wird nicht nur der „Sieg über den Faschismus“ am 9. Mai gefeiert, sondern auch der Sieger Stalin. Längst avancierte der Tyrann zu einer der Säulen des Kultes des „Großen Vaterländischen Krieges“. In Russland ist Kriegsgedenken wieder an die Verehrung Stalins gekoppelt.
Geschichte als Waffe einer radikalisierten Außenpolitik
Diese Radikalisierung und Re-Sowjetisierung russischer Geschichtspolitik geht einher mit ihrer verstärkten Einbindung in die aggressive Außenpolitik des Kremls. Das Gedenken ist Chefsache, Putin selbst ist der oberste Historiker seines Landes und bestimmt die Grundlinien. Es geht ihm nicht mehr nur um eine Legitimation im Inneren, sondern auch um russische Machtprojektionen in ganz Europa. Dabei bedient sich die Diplomatie des Kremls verschiedener Kanäle. Das alljährliche Auftreten loyaler Motorradgangs („Nachtwölfe“) auf ihrer Tour durch europäische Länder ist nur ein besonders ausgefallener Bestandteil der Rituale, die den 9. Mai kennzeichnen. Wie in sowjetischen Tagen beginnt in den Staatsmedien der Countdown auf den hohen Feiertag bereits in den Wochen zuvor. Das Außenministerium entfaltet im Konzert mit seinen Botschaften umfangreiche Aktivitäten in den sozialen Medien. Twitter wird offensiv genutzt, um das eigene Geschichtsbild darzustellen. Durch diese Praxis sind die Grenzen zwischen Diplomatie und Geschichtspolitik eingerissen wurden. In Putins Russland, so lässt sich konstatieren, ist Geschichtspolitik Teil des diplomatischen Arsenals. Gerade in Osteuropa verteidigt der Kreml eine Erzählung der „Befreiung vom Faschismus“, in der über die Kosten der anschließenden Sowjetisierung geschwiegen wird. Dass Polen oder die baltischen Staaten oder große Teile der heutigen Ukraine sich in diesem russischen Narrativ nicht wiederfinden, ist wenig verwunderlich. Eine Kontroverse wird jedoch nicht geduldet: Wer dem Kreml widerspricht wird schnell als „Faschist“ gebrandmarkt. Moskau sucht mit seiner Geschichtspolitik gezielt den diplomatischen Konflikt; die Erinnerung an den Krieg und die Gewaltherrschaft dient zur Eskalation politischer Konflikte der Gegenwart.
Diplomaten und Geheimdienstler im Dienste des russischen Narrativ
Dieses Jahr gibt es Anzeichen dafür, dass die Verteidigung des eigenen Geschichtsbildes nicht nur von den Massenmedien und den Diplomaten, sondern auch von den gefürchteten siloviki besorgt wird. Die Ereignisse in Prag sollten für Europa eine Warnung sein: In der tschechischen Metropole hatte sich die Stadtregierung entschieden, ein Denkmal des sowjetischen Marschalls Konjew von seinem Platz zu entfernen und ins Museum zu überführen. Dies führte zu den üblichen außenpolitischen Verstimmungen und Protesten von russischer Seite. Doch ähnlich wie in Estland im April 2007, blieb es nicht bei einem diplomatischen Schlagabtausch. Damals reagierte Moskau auf die Entfernung einer sowjetischen Gedenkstätte in Tallinn mit einem Cyberangriff auf die estnische Infrastruktur, der das baltische Land lahmlegte. Im Prager Fall sind die Dinge noch nicht endgültig geklärt. Tschechische Medien berichten jedoch, dass russische Agenten gestoppt wurden, bei denen Gift gefunden wurde und deren Ziel der Prager Bürgermeister gewesen sei. Auch wenn die Affäre noch nicht abschließend geklärt ist, erscheint ein solches Vorgehen vor dem Hintergrund des russischen Auftretens in Großbritannien durchaus plausibel. In jedem Fall zeigt es, wie ernst Moskau die Geschichte des Zweiten Weltkriegs ist.
Der imperialen Meistererzählung Russland entscheidend entgegnen
Die Ukraine befindet sich in diesem Konflikt an der Seite Ostmitteleuropas. Letztlich geht es darum, ob ein Land, das früher zum sowjetischen Machtbereich gehörte, nicht nur außenpolitisch, sondern auch in der Geschichtspolitik souverän ist. Moskau behält sich vor, der gesamten Region seine Erzählung von der „Befreiung“ durch die Rote Armee zu oktroyieren. Lange Zeit blieb die Ukraine im Umgang mit der sowjetischen Geschichte gespalten und diese Differenzen zwischen Generationen, Regionen und Erfahrungen werden auch bleiben. Sie sind Teil der Pluralität, die das Land auszeichnet. Dennoch dürfte die aggressiven Interventionen des Kremls, der seit sechs Jahren gegen die Ukraine Krieg führt, nur bei einer Minderheit verfangen. Wichtig bleibt es, dass in die Ukraine und Ostmitteleuropa die russischen Narrative nicht nur attackiert, sondern gerade in der Pluralität der eigenen Erfahrungen ihre Kraft sieht. Imperiale Meistererzählungen sollte nicht durch nationale ersetzt werden; der geschichtspolitischen Aggression sollte vielmehr der fundierte Dialog über die gemeinsame Historie entgegengesetzt werden. Dazu wäre es wünschenswert, wenn der Streit aus der Diplomatie in die Zivilgesellschaft und Wissenschaft zurückkehrt. Für die Politik gibt es die Möglichkeit, Begegnungen, Dialog, Publikationen und gemeinsame Forschung offensiver als bisher zu fördern.
Geschichtspolitik als Teil des klandestinen Krieges Russlands gegen den Westen
Sowohl eine offensive Geschichtspolitik als auch die geheimdienstliche Einflussnahme in anderen Staaten (active measures) sind sowjetische Traditionen, die von Putins Russland aufgenommen und fortgesetzt werden. Dies zeigt sich seit 2014 im Krieg Russlands gegen die Ukraine. Doch eine Verbindung dieser beiden Taktiken gegen ein NATO-Land wie Tschechien bedeutete eine weitere Eskalation des Moskauer Vorgehens. Es rückt die Geschichtspolitik in den Dunstkreis des klandestinen Krieges gegen den Westen. Lange Zeit schien es angemessen, zu argumentieren, dass die europäische Diplomatie Russlands aggressive Geschichtspolitik am besten ignorieren sollte. Doch mittlerweile stellt sich für die Staaten der Europäischen Union und die Ukraine die Frage, wie man konzertiert und strategisch auf die Moskauer Provokationen reagiert. Dies wird auch in Zukunft an den großen Jahrestagen europäischer Geschichte von Bedeutung bleiben.
In diesen Tagen zeigt sich jedoch auch, dass die geschichtspolitischen Offensiven des Kremls an Grenzen stoßen. Wegen der Corona-Pandemie musste die Militärparade zum „Tag des Sieges“ auf dem Roten Platz abgesagt werden. COVID-19 macht auch vor den Soldaten der russischen Streitkräfte nicht halt. Es wird sich zeigen, inwieweit die Pandemie mittelfristig auch die Politik des Kremls beeinflusst. Diese Atempause sollte die Europäische Union nutzen, um sich auf ihre eigenen Werte zu besinnen: den faktenbasierten Dialog, die freie Wissenschaft und Forschung, aber auch die klare Zurückweisung von Manipulationen und fake history.
Brüssel und Berlin dürfen das historische Gedenken nicht den spin doctors des Kremls überlassen. Mehr denn je brauchen Europa und Deutschland ihre eigenen Symbole, Rituale und Narrative; die Legitimation durch Gedenken dürfen wir nicht autoritären Staaten überlassen. Gleichzeitig handelt es sich um ein schwieriges Unterfangen, denn Pluralität und Multiperspektivität sind unsere Stärken, während Moskau auf seine einfachen und einseitigen Narrative setzt.
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